Montag, 26. Oktober 2009

Sonntag, 25. Oktober 2009

Gegenreformation\Die Jesuiten zerstörten Zentral-Europa

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von Axel Nitzschke


Die folgenden Zitate und Kommentare sind als Ergänzungen meiner Beiträge zur Geschichte gedacht und dienen dazu, die kühnen Hypothesen mit Material zu belegen, wobei zu beachten ist, dass die Quellen und ihre Auslegung nicht selten gefälscht oder verzerrt worden sind, um die Ideologie eines angeblichen Fortschritts der Menschheit zu stützen, der in Wahrheit nur auf der technisch-industriellen Ebene stattfand, nicht aber auf der der „Conditio humana“. Als Motto könnte die Aussage der Apoka-lypsis von der Verführung des ganzen Erdkreises und der Täuschung aller Nationen und Rassen durch eine „Satan“ genannte Wesenheit stehen.
Wenn der vorliegende Text auch für sich allein lesbar ist, so empfiehlt sich es sich doch, zuerst den Band 26 meiner gesammelten Werke zu lesen (in der Schriftgröße 18 ab Seite 163), denn dort ist so etwas wie ein Roter Faden gegeben; aber auf jeden Fall ist es ratsam, ein Kompendium der Geschichte zur Hand zu haben, z.B. das „dtv-Lexikon zur Weltgeschichte“, und lange Spaziergänge zwischen dem Lesen zu machen. Weitere Gedanken zur Historie finden sich verstreut in meinen Werken, besonders konzentriert in den Bänden 22 und 23.
Die in Klammern gesetzten Anmerkungen innerhalb der Zitate stammen durchwegs von mir, und wenn der zitierte Autor etwas in Klammern gesetzt haben sollte, habe ich dies in den Satz eingefügt; zur besseren Lesbarkeit habe ich mir auch erlaubt, Nebensätze, die nichts zum Hauptgedanken beitragen und oftmals nur die Gelehrsamkeit der Autoren herauskehren sollen, ohne die üblichen Punkte (…) wegzulassen. Alle Zitate stehen in Anführungsstrichen („…“), und wenn innerhalb eines Zitates zitiert wird und der Autor die doppelten Anführungszeichen verwendet, setze ich an diesen Stellen die einfachen ein (‚…’). Sämtliche zitierten Bücher entstammen öffentlichen Leihbibliotheken.
In seinem Buch „Der Judenstaat“ hat sich Theodor Herzl 1896 der osmanischen Regierung mit den folgenden Worten empfohlen: „Palästina ist unsere unvergessliche historische Heimat. Dieser Name allein wäre ein ergreifender Sammelruf für unser Volk. Wenn seine Majestät, der Sultan, uns Palästina gäbe, könnten wir uns dafür anheischig machen, die Finanzen der Türkei gänzlich zu regeln; für Europa würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen. Wir würden als neutraler Staat im Zusammenhange bleiben mit ganz Europa, das unsere Existenz garantieren müsste. Für die heiligen Stätten der Christenheit ließe sich eine völkerrechtliche Form der Exterritorialiserung finden. Wir würden die Ehrenwache um die heiligen Stätten bilden und mit unserer Existenz für die Erfüllung dieser Pflicht haften. Diese Ehrenwacht wäre das große Symbol für die Lösung der Judenfrage nach achtzehn für uns qualvollen Jahrhunderten.“ Und weiter sagt er noch: „Wir wollen drüben jeden nach seiner Fasson selig werden lassen. Auch und vor allem unsere teuren Freidenker, unser unsterbliches Heer, das für die Menschheit immer neue Gebiete erobert.“
Das sind merkwürdige Sätze, und sie offenbaren einen imperialistischen Geist, der sich selbst zum Repräsentanten der „Menschheit“ erklärt, womit alle diejenigen, die sich der Eroberung durch das „unsterbliche Heer der Freidenker“ widersetzen zu Feinden der Menschheit, wenn nicht zu Unmenschen deklariert werden. Und wer sollen „die asiatischen Barbaren“ denn sein – etwa die Araber, die Perser, die Inder oder gar die Chinesen, allesamt Kulturvölker, die viel älter sind als die Europäer.

Aus dem „Alexandria-Protokoll“ vom Oktober 1944, unterzeichnet von den versammelten arabischen Staatsoberhäuptern: „Die Kommission erklärt zugleich, dass sie niemandem im Bedauern über die Leiden nachsteht, die den Juden Europas durch europäische Diktaturen zugefügt wurden. Aber die Angelegenheit dieser Juden sollte nicht mit dem Zionismus verwechselt werden, denn es kann kein größeres Unrecht und keine größere Aggression geben, als wenn das Problem der Juden Europas durch ein anderes Unrecht gelöst wird, indem den Arabern Palästinas unterschiedlicher Religion und Konfession Unrecht getan wird.“
Damit wird der so genannte „Holocaust“ nicht geleugnet, sondern nur dagegen Stellung bezogen, seine Folgen auf ein Volk abzuwälzen, das mit seiner Durchführung nichts zu tun hatte.

Die Zittate stammen aus dem Buch „Geschichte Palästinas, von der osmanischen Eroberung bis zum ersten israelisch-arabischen Krieg“ von Gudrun Krämer, München 2002. Dort ist auch zu lesen, dass die Zahl der jüdischen Einwanderer in das britische Mandatsgebiet Palästina während der Jahre 1926 bis 31 deutlich kleiner war als die Anzahl der Juden, die dieses Land wieder verließen, sodass es zu einem Rückgang der jüdischen Bevölkerung kam, 1926 und 27 haben sogar unglaubliche 74 Prozent der bereits ansässigen Juden jenes Land wieder verlassen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt muss den teuflischen Planern klar geworden sein, dass der bisher eingeschlagene Weg zur „Lösung der jüdischen Frage“ durch die Gründung eines Staats Israel als Pfahl im arabischen Fleisch zu nichts führte – und so wurde beschlossen, den Völkermord an den europäischen Juden geschehen zu lassen, um ihn als „Holocaust“ zum Gründungsmythos des neuen Staates zu machen. Und mit der inszenierten „Weltwirtschaftskrise“ von 1929 kamen die Nationalsozialisten, die schon dabei waren, in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden, wieder hoch.

Als ein Beispiel für das brutale Vorgehen der Zionisten ist das Massaker von Da´ir Jasin vom neunten April 1948 anzusehen, wo alle Bewohner dieses arabischen Dorfes, 250 Männer, Frauen und Kinder, niedergemetzelt und die verstümmelten Leichen in die Brunnen geworfen wurden, um Schrecken zu verbreiten und den Massenexodus der einheimischen Bevölkerung auszulösen; dem gleichen Zweck hatte schon die am fünften Februar desselben Jahres durchgeführte und zuvor systematisch geplante Zerstörung von Caesarea gedient, und die paramilitärischen zionistischen Gruppen „Lehi und Irgun“ verübten jenes ganze Jahr hindurch Bombenanschläge „auf arabische Märkte, stark frequentierte öffentliche Plätze, Cafes, Restaurants und Schulen“, welche Tätigkeit sie bereits an der Seite von Großbritannien im Zweiten Weltkrieg ausgeübt hatten. Etliche Regierungschefs des 1948 proklamierten israelischen Staates sind Terroristen gewesen.

Im Ersten Weltkrieg sind die Araber von den Briten aufs schmählichste betrogen worden, indem sie an deren Seite gegen die wie sie selbst muslimischen Türken gekämpft hatten, die versprochene Freiheit jedoch nicht bekamen. Und darum waren sie jetzt in den Augen der Siegesmächte zu unzuverlässigen Kunden und Rebellen geworden, die zu schwächen oder zu vernichten jedes Mittel recht war.
Feisal, die entscheidende Kraft hinter dem Aufstand der Araber gegen die Osmanen und der erste König des neu geschaffenen Staates Irak, ein Sohn von Hussein, dem Scharif von Mekka, hat auf der „Friedenskonferenz“ 1919 in Paris ein Memorandum vorgelegt, aus dem das folgende Zitat stammt (es ist den Memoiren des US-Delegierten Bonsal entnommen, wie es in dem Buch „Lawrence von Arabien“ von Jeremy Wilson, München 2001, wiedergegeben ist): „Sollte sich der dargestellte Standpunkt der radikalen Zionisten durchsetzen, werden ständig gärende Unruhen und früher oder später ein Bürgerkrieg in Palästina die Folge sein. Man darf mich nicht missverstehen: Ich behaupte, dass wir Araber gegenüber den Juden keine der rassischen oder religiösen Vorurteile haben, wie sie leider in anderen Regionen der Welt vorherrschen. Ich behaupte, dass wir mit den Juden, die seit mehreren Generationen in Palästina sesshaft sind, ein ausgezeichnetes Verhältnis haben. Aber die Neuankömmlinge legen eine ganz andere Einstellung an den Tag als jene ‚alten Siedler’, wie wir sie nennen, mit denen wir auf freundschaftlichem Fuß zu leben und auch zusammenzuarbeiten vermochten. Die neuen Kolonisten sind fast ausnahmslos in einer – mangels eines besseren Ausdrucks muss ich sagen – imperialistischen Geisteshaltung gekommen. Sie sagen, wir hätten schon viel zu lange die Herrschaft über ihr Heimatland innegehabt, das ihnen in schlimmen Zeiten mit roher Gewalt entrissen worden sei, das wir aber nun, unter der neuen Weltordnung, räumen müssten; und wenn wir klug seien, würden wir es friedlich räumen, ohne uns dem zu widersetzen, was die zivilisierte Welt verfügt habe.“
Die „alten Siedler“ waren übrigens bereit, wie aus dem selben Buch hervorgeht, mit den Arabern gegen die Zionisten zu kämpfen, weshalb sie bei diesen den Anspruch auf Gnade verwirkten.

In der Idee, einen „Neuen Menschen“ zu kreieren, sind sich die äusserlich unterscheidbaren Ideologien Faschismus, Bolschewismus und Zionismus vollkommen einig, und ihre gleiche Handschrift in diesem Punkt erklärt sich aus der ihnen gemeinsamen Quelle, der hinter den Kulissen agierenden „Freimaurerei“ und ihren zahlreichen Logen mit derselben Grundüberzeugung. Bei den Zionisten war es der zu übermenschlichen Leistungen fähige und mit Spaten und Gewehr gekonnt umgehende „Pionier“, der neue Jude im Gegensatz zu dem als „Luftjude“ verschrieenen andächtigen alten. Und dieser Pioniertypus war keineswegs originell, andere hatten ihn auch in Verwendung.
In einem Artikel mit der Überschrift „Wettlauf um Menschenmaterial“ aus der Süddeutsche Zeitung vom 8. 12. 2006 aus Anlass der Ärzteprozesse vor 60 Jahren heisst es unter anderem: „Nur im Lager Dachau wurden für die Kriegsforschung verwertbare Daten gewonnen, 1942 benutzten Luftwaffenärzte Häftlinge zu Höhenversuchen. Die Gefangenen wurden in einer Unterdruckkammer Verhältnissen wie in Höhen von bis zu 21 Kilometern auzsgesetzt, wo man sie in simulierten Versuchen abstürzen ließ. Die Folgen: Krämpfe, Lähmungen, Blindheit, Wahnsinn, Tod. In einer zweiten Versuchsreihe (‚Abkühlversuche am Menschen’) wollten Luftwaffenärzte die Todesursache abgestürzter und im Meer treibender Piloten herausfinden. Die Versuchsobjekte wurden in Bottiche mit eiskaltem Wasser gezwungen, ihre Körpertemperaturen mit Thermosonden im Magen oder im Mastdarm gemessen. Ein Schlauchstethoskop über der Herzspitze maß die Herzfrequenz. Sank die Körpertemperatur um ein Grad, wurde jeweils Blut und mittels eines Katheters Urin abgenommen, zudem punktierte man Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit am Kopf und am Rückgrat. Die Häftlinge starben nach sechs bis acht Stunden, wenn ihre Temperatur auf 28 bis 25 Grad gefallen war.“
„Das Nürnberger Militärgericht fällte acht Todesurteile, die auch vollstreckt wurden“ – aber „Freisprüche gab es für die an den Dachauer Versuchen beteiligten Luftwaffenmediziner“, so für Georg August Weltz, der 1952 Professor für Röntgenfysiologie in München wurde, für Hans Wolfgang Romberg, der eine Arztpraxis in Düsseldorf führte, für Konrad Schäfer, der in den Dienst der US-Luftwaffe eintrat, und für Siegfried Ruff, der zum Leiter des „Instituts für Flugmedizin der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt in Bad Godesberg“ aufstieg und zum „Berater beim Aufbau der Luftwaffe“ wurde. „Der oberste Luftwaffenmediziner, Professor Hubertus Strughold, war in Nürnberg gar nicht erst angeklagt, sondern samt Untersuchungsergebnissen in die USA ausgeflogen worden.“
„Oskar Schröder, Inspekteur des Luftwaffensanitätswesens, zu lebenslanger Haft verurteilt, wurde 1954 entlassen und bei der US-Air-Force eingestellt. Der Luftwaffenmediziner Hermann Becker-Freyseng, zu 20 Jahren Haft verurteilt, kam bereits 1952 in Freiheit und wurde ebenfalls in die USA gebracht.“
Die „Janitscharen“, die Elitetruppe des osmanischen Reiches, rekrutierte sich aus geraubten und entwurzelten Knaben aus Christenfamilien, denen man schon als Kinder das Töten beigebracht hatte und die allein den Sultan als ihren Vater verehrten. „Wer kam auf diese teuflisch geniale Idee?“ – so fragen Ferenc Majoros und Bernd Rill, die Autoren des Buches „Das Osmanische Reich, 1300 bis 1922 -- Die Geschichte einer Großmacht“, Regensburg 1994; und sie machen den „Derwisch Hadschi Begtasch“ aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts dafür verantwortlich. Aber die Einführung einer solchen Institution wie der „Knabenlese“ (auch als „Knabenzins“ bezeichnet) setzt eine Reihe von Menschenversuchen voraus, die in Verbindung mit solchen aus dem Jahrhundert davor im süditalienischen Reich von Friedrich II. gestanden sein müssen. Die richtige Dosierung der zum Einsatz gebrachten Gehirnwäsche, um jene fanatisierten Kämpfer hervorzubringen, bedurfte einer sehr genauen Erfahrung.
Um den Hintergrund anschaulich zu machen, zitiere ich Gerhard Schweizer aus seinem Buch „Die Janitscharen“, Salzburg 1979: „Eine der Predigten des Erzbischofs Isidoros von Saloniki ist auf Pergament festgehalten und unzerstört für die heutige Zeit erhalten geblieben. Dieser Klage des Isidoros aus dem Jahr 1395 verdanken wir die erste unmittelbare Quelle über den Knabenzins. Es heisst in der Predigt: ‚Was könnte ich sagen oder denken oder mit welchen Augen das große Unglück betrachten? Verlegenheit hat mich von allen Seiten ergriffen, und ich schaudere, dieses Edikt gegen die Teuersten zu hören. -- Welche Leiden hätte ein Mensch nicht durchkostet, der den Knaben, den er geboren und für den er immer das höchste Glück gewünscht hat, plötzlich gewaltsam von fremden Händen weggerafft und in fremde Sitten gezwängt sieht? Wen könnte der Vater mehr bejammern, sich selbst oder den Knaben? Sich selbst, weil er der Stütze des Alters beraubt wurde, und jenen, weil ein Freier zum Knecht und ein Edler zu barbarischen Sitten gezwungen wird; er, der von mütterlichen und väterlichen Händen zärtlich umschmeichelt wurde, soll mit barbarischer Grausamkeit erfüllt werden; er, der in der Kirche die Frühmette besucht und bei weisen Lehrern gelernt hat, wird – oh weh! – zur Tötung seiner Landsleute im Dunkel erzogen’.“
„Fünf Jahrzehnte später schickten Griechen einen Hilferuf an den Großmeister des Johanniterordens von Rhodos. Auch dieser Brief ist erhalten geblieben, in dem es unter anderem heisst: ‚Wir echt christliches Volk, die wir in der Türkei leben, groß und klein, Männer und Frauen, geben Deiner Hoheit kund, dass wir durch die Türken schwer bedrückt werden und dass sie uns unsere armen Kinder entreissen, um aus ihnen Mohammedaner zu machen. Daher flehen wir Deine Hoheit und den allerheiligsten Papst an, dass jeder von Euch mit Schiffen komme, um den Christen zu helfen. -- Hilf uns, sonst verlieren wir unsere Kinder! Lass uns unter Deine Herrschaft kommen, wo wir als Deine Untertanen leben und sterben wollen! Wenn Du uns aber hier lässt, dann werden wir unsere Kinder verlieren, und Du wirst Gott deswegen Antwort geben müssen, und unsere Sünden werden über Dich kommen’.“ Dieser verzweifelte Hilferuf wurde keiner Antwort gewürdigt.
„Es ist noch ein weiteres erschütterndes Dokument überliefert. Wiederum vier Jahrzehnte später schickten Griechen an die Archonten einer venezianischen Stadt eine Bittschrift, die in den Worten gipfelt: ‚Versteht doch, Archonten, was für Trauer die Griechen tragen, die Väter und die Mütter, die von ihren Kindern mitten im Leben getrennt werden. Das Herz habt im Sinn, ihr Archonten. Wie viele Mütter zerfleischen sich die Wangen, wie viele Väter schlagen sich mit Steinen an die Brust, und welche Trauer müssen diese Christen um ihre Kinder tragen, dass sie zu Lebzeiten voneinander getrennt werden. Und wie viele Mütter sagen: Besser sie wären gestorben und wir hätten sie in unserer Kirche begraben, als dass wir sie so weit groß gezogen haben, und jetzt trennen sie uns im Leben und bringen euch fort, um Türken aus euch zu machen, dass ihr von unserem christlichen Glauben abfallt. Es wäre besser, ihr wäret gestorben’.“
Der Aufschrei verhallte ungehört, und der Aufbau einer Flotte für den osmanischen Staat sowie der des Finanzwesens mit „christlicher Hilfe“ zeigen die Prioritäten des Westens. Die militärischen Siege durch die immer gleiche Taktik der Osmanen, die längst hätte durchschaut werden müssen, die nicht genutzte Chance nach der Zerschlagung des osmanischen Heeres duch den Sieg von Timur Lenk über Bajasid und dessen Gefangennahme im Jahr 1402, und die eklatanten militärischen Fehler der Abendländer in den Schlachten von Nikopolis 1396, Warna 1444 und Mohadsch 1526 sprechen eine gemeinsame Sprache. Meine Hypothese vom Interesse des Westens an der anfänglichen Erstarkung des osmanischen Reiches wird bestätigt durch den Verlauf der Geschichte: in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, als sich die gewollte und nur mit der „türkischen Gefahr“ erreichte Kirchenspaltung nicht mehr rückgangig machen ließ, kam die Expansion des osmanischen Reiches zu Land und zur See zum Erliegen.

Der „Kislar Aga“, auf deutsch der „Herr der Mädchen“, war „ein Eunuch schwarzer Hautfarbe“, der die „Truppe der schwarzen Eunuchen befehligte“ und über den Harem des Sultans herrschte. Dieser Umstand beweist, dass nicht nur die europäischen Männer und ihre Nachfahren in Übersee einen „Negerkomplex“ hatten, denn es lässt sich kaum etwas Entwürdigerendes denken, als die Konkurrenz des wegen seiner natürlichen Schönheit und seiner Potenz gefürchteten „Schwarzen Mannes“ derart auszuschalten wie es die Osmanen in ihren Harems praktizierten, voran der Sultan in dem seinen, der der größte von allen war. Aber zusammen mit dem „Serail“, in welchem die weissen Eunuchen regierten und auf das ich noch zurückkommen werde, wurde der Harem des Sultans zu einer immer sprudelnderen Quelle von Palastintrigen, in denen die kastrierten Männer tüchtig mitmischten und die den osmanischen Staat von innen zersetzten.

Die erste „Knabenlese“ hat nach Schweizer im Seldschuken-Sultanat von Konya stattgefunden, dem die ersten Osmanen noch lehens- und tributpflichtig waren, und von dort haben diese das Prinzip übernommen. Schweizer schreibt, dass die Seldschuken es den Persern abgeschaut hätten, aber dies hat er nicht belegt. Und der entscheidende Unterschied zu den schon länger bekannten Sklavenkriegern oder Mamlucken besteht im Alter der Auserwählten. Kriegersklaven waren Entwurzelte, die keine Familie und keine Sippschaft mehr hatten und sich daher keine Hausmacht aufbauen konnten, weshalb sich schon der Kalif von Bagdad ihrer bediente. Aber der Raub von männlichen Kindern im Knabenalter scheint noch effektiver gewesen zu sein, weil die Charaktere noch leichter geformt werden konnten, in Kasernierung und gnadenloser Abtrennung von allen Banden zur Herkunftsfamilie und einem eigenen Leben.
Als ich zum ersten Mal von den Assassinen hörte (ich weiss nicht mehr, in welchem Buch), da hieß es von ihnen, man habe ihnen Haschisch zu essen gegeben, um sie für den Kampf aufzuputschen, aber das konnte ich schon damals nicht glauben, denn der Konsum von Cannabis indica macht nicht aggressiv, im Gegenteil. Später las ich dann, dass diese Leute unter der Wirkung von Haschisch in einen zauberhaft angelegten Garten geführt worden seien, um sich dort von Huris (das sind die Paradieses-Jungfrau-en, von denen der Koran spricht) bedienen zu lassen in jeder nur denkbaren Hinsicht -- und dass man ihnen dann gesagt hätte, sie seien im Paradies gewesen und könnten dieses unvergessliche Erlebnis erneuern, wenn sie bereit seien zu morden und dabei selber zu sterben. Tatsächlich berichten die Quellen, dass ein Assassine bei seinem Meuchelmord nie zu entkommen versuchte und sich lieber hinrichten ließ.
In dem Buch von Bernard Lewis „Die Assassinen“, Frankfurt 1989, finden sich einige interessante Stellen, die meinem schon länger gehegten Verdacht Nahrung geben, dass die Freimaurer über die Templer ihr Organisationsprinzip von den Assassinen bezogen. „Der Form nach waren die Ismaeliten (deren bewaffneter Arm die Assassinen oder Haschischim waren) eine Geheimgesellschaft mit einem System von Eiden und Initiationen sowie einer nach Rang und Wissen abgestuften Hierarchie. Die Geheimnisse wurden gut gehütet, so dass nur fragmentarische und ungenaue Informationen darüber vorliegen.“
Lewis zitiert aus dem Buch „Die Geschichte der Assassinen aus morgendländischen Quellen“ von Joseph von Hammer, Stuttgart und Tübingen 1818: „Die Assassinen sind ein Verein von Betrügern und Betrogenen, der unter dem Scheine strengerer Sitten- und Glaubenslehre alle Moral und Religion untergrub, ein Orden von Meuchelmördern, unter deren Dolchen die Häupter der Völker fielen. Allmächtig, weil allgefürchtet durch zwei Jahrhunderte lang, bis die Mördergrube zugleich mit dem Sturze des Chalifats, dem sie als dem Mittelpunkt aller geistlichen und weltlichen Macht zuvörderst den Untergang geschworen, einsank und durch dessen Trümmer verschüttet wurde.“
Dazu schreibt Lewis: „Damit keinem seiner Leser der wesentliche Punkt seiner Kritik entgehe, vergleicht Hammer die Assassinen mit den Templern, den Jesuiten, den Illuminaten, den Freimaurern und den Königsmördern im französischen Nationalkonvent.“ Man könnte dieser Liste noch die späteren Abkömmlinge desselben Prinzips hinzufügen, als da wären die Carbonari und die Mafiosi, die Ultraliberalen, die Jungtürken, die Zionisten, die Bolschewisten und die Faschisten, die Ba´ath-Partei sowie der Skull-and-Bones-Club.
Danach folgt ein weiteres Zitat von Hammer: „Wie sich im Westen aus dem Schooße der Freimaurer revolutionäre Gesellschaften erhoben, so im Osten aus dem Schooße der Ismailiten die Assassinen. -- Der politische Wahnsinn der Aufklärer, welche die Völker mündig, dem Schirmbunde der Fürsten und dem Gängelbande postiver Religion entwachsen glaubten, hat sich wie unter der Regierung des Großmeisters Hassan II. in Asien so in Europa durch die Wirkungen der französischen Revolution auf das Verderblichste kund gegeben.“ Und später zitiert Lewis ihn noch einmal: „Es ist also mehr als wahrscheinlich, dass Dschelaleddins mit so vielem Geräusche verkündigte Bekehrung der Ismailiten zum Islam und öffentliche Abschwörung von der Ruchlosigkeit nichts als Heuchelei und wohlberechnete Politik gewesen sey, um den Orden, welchen unbesonnene Aufklärungssucht dem Bannfluch der Priester und der Achtserklärung der Fürsten preisgegeben hatte, wieder in unverdächtigen Credit zu bringen und statt der Großmeisterwürde den Fürstentitel auf sein Haupt zu bringen. So läugneten die Jesuiten, als ihnen die Verweisungsbefehle des Parlaments und die Auflösungsbulle des Vatikan drohten, als sich von allen Seiten die Stimmen der Kabinette und der Konsistorien wider die Grundsätze ihrer Moral und Politik erhoben, die Lehre des gesetzmäßigen Aufruhrs und des Königsmordes, die in einigen ihrer Casuisten unvorsichtig verlautet hatte, und sie verdammten öffentlich die Maximen, welche sie dennoch als die wahren Ordensregeln insgeheim beobachteten.“

Die Jesuiten waren die Speerspitze der Gegenreformation und ohne ihre systematische Arbeit wäre der 30-jährige Krieg nicht möglich gewesen, die planmäßige Verwüstung von Zentraleuropa, in der sich Vertreter aller Nationen aus dem Umkreis an den Exzessen beteiligten und ergötzten. Und spätestens damals war es vollständig gelungen, die Frage nach dem Zins auszublenden, die man im Zeitalter der Religionskriege und der Hexenverfolgung unter der Hand gelöst hatte.

Die Ismailiten, die ihren Namen von einem gewissen Ismael haben, einem enterbten Bruder aus der Nachkommenschaft des Profeten Muchamäd, der von den übrigen Schi´iten nicht anerkannt wurde, hatten in ihrem Lehrgebäude einen Begriff namens „Takija“, das ist „das Geheimhalten der wahren Absichten im Angesicht der Gefahr“. Und die Bekehrung des Dschelaleddin zur Observanz des sunnitischen Ritus war eine drastische Kehrtwendung vom Kurs seines Großvaters Hassan, der seine Anhänger von der Last des Gesetzes befreit und den Beginn der Auferstehung schon zu Lebzeiten versprochen hatte.

In dem „Dossier“ genannten Anhang zu dem Text von Lewis hat der deutsche Übersetzer Kurt Jürgen Huch dankenswerterweise noch einige Dokumente zur Kenntnis gebracht, von denen ich die folgende Ballade aus der „Weltchronik“ von Jans Enikel, entstanden in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, am interessantesten finde. Huch merkt an, dass die Chronik nicht von den Assassinen berichtet, sondern von Kaiser Friedrich II., dem Hohenstaufer, der durch seine Menschenversuche berühmt wurde – „er habe zweijährige Kinder in unterirdische Räume sperren, von jedem Licht des Tages ferhalten und zu ‚Stechern’ ausbilden lassen, die bereit waren, jeden Fürsten zu erdolchen, an dem der Kaiser sich rächen wollte. Wie Leopold Hellmuth in seiner vorzüglichen Untersuchung ‚Die Assassinenlegende in der österreichischen Geschichtsdichtung des Mittelalters’, Wien 1988, zeigt, wird der Kaiser hier mit den damals im Abendland kolportierten Zügen des ‚Alten vom Berge’ ausgestattet und zugleich apotheosiert.“
Die Ballade ist in Mittelhochdeutsch verfasst und auch abgedruckt, und ich will hier versuchen, sie in einer uns verständlichen Sprache wiederzugeben: „Nun merket! Kaiser Friederich hieß Stecher ziehen, an wem er sich wollt rächen, den hieß er wahrlich stechen. Der ein Fürst war genannt, dem hieß er tun den Tod bekannt, die Arm’ hieß er mit Nöten wahrlich alle töten. Wer den Tod hat verschuld, dafür nahm er dein Guld. Ein jegliches Kind war zwei Jahre alt, die hieß er unter die Erde lassen, er lässt sie nicht zu den Straßen, er verbot, dass man dein Licht ihnen nimmer nicht gäbe, um den Tag anzuschauen. Und wer mit ihnen umgehen sollte, dem gebot er mit vollem Bewusstsein, dass er den Kindern nichts anderes sagen sollte, als dass er Gott wäre. Da sie erhörten diese Märe, da wähnten sie, dem wäre so, und er sei Gott im Himmel do, wenn er die Boten zu ihnen sandt’, die Wahrheit war ihnen unbekannt. Und als die Kinder wurden alt, so sagte man viel Mannigfalt der Wunder, die da draussen geschahen – Oh weh! wie gern ich das seh, sprach jegliches Kindelein, Ich muss hier innen verschlossen sein.“
Huch schiebt an dieser Stelle einen Kommentar ein: „Auch wie der Kaiser Jans Enikel zufolge die Abrichtung der Kinder zu ‚Stechern’ betreibt, orientiert sich weitgehend an den dem ‚Alten vom Berge’ nachgesagten Methoden: Wolle er einen Fürsten ermorden lassen, so lasse er zwei der Eingesperrten kommen, führe sie in einen wunderschönen, im Lichte der Sonne strahlenden Garten, wo prächtig gekleidete Jungfrauen sängen und spielten, setze ihnen köstliche Speisen und Getränke vor und eröffne ihnen sodann die Aussicht, dieses ‚Himmelreich’ und seine ‚göttliche Gegenwart’ weiterhin zu genießen – unter der einen Bedingung: dass sie seinen Befehlen jederzeit nachkamen und jeden Fürsten, den er ihnen bezeichne, töteten.“
Dann fährt die Ballade fort mit den Worten: „So dann der Kaiser Friederich wollt stechen einen Fürsten reich, so hieß er zwei Kinder zur Hand ledig lassen aus dem Band. Man führte sie in einen Garten, wo man Freude mocht erwarten, da waren zarte Jungfrauen drinnen, die mancherlei Sachen beginnen, das eine Teil tut singen, das andere Teil tut springen, und die da dort werfen den Ball, sie haben Freude überall. Die Jungfrauen waren wohl getan, sie hatten reiche Kleider an, aus Seide und aus Baldachin, sie mussten auch gut bespanget sein, da waren auch schöner Frauen genug, reiche Kost trug man auf, sodass die Kinder auch aßen in schönen goldenen Gefäßen. Sie hatten vorher nichts anderes gegessen als Wasser und Brot in all ihren Jahren, wo sie in diesem Düsteren waren. Man schenkte ihnen dort auch ein, beide Met und Wein, auf dass sie die Getränke schmecken, ließ man sie ein wenig davon schlecken. Kaiser Friederich kam dann gegangen, der hatte schöne Kleider an, und alle, die da mit ihm gingen, die hörte man von ferne klingen, als wäre es aus Holde von Silber und von Golde. So sie dann die Wonne sahen, dass die lautere Sonne also lichtgewahr scheint und sie der Weide Name war und der Blumen und des grünen Grases und des Bornes, der in dem Garten war, der Bäume und der Früchte und der schönen Jungfrauen Züchte und der Vöglein Gesang, die Weile deuchte sie nicht lang, und sie hörten die Musik erklingen und die Leute in Freuden springen, da sprachen sie: ‚Herr Gott! wir bitten euch, dass ihr so wohl tut und lasst uns hier verweilen, mit euch die Zeit zu vertreiben, wir haben so Schönes noch niemals gesehen, des müssten wir wahrlich vergehen, wenn euch ist nicht desgleichen in euren Himmelreichen’. Da sprach der Kaiser zur Hand: ‚Gebt mir eure Treu zum Pfand, dass ihr tut was ich will, so will ich euch der Freuden viel wahrhaftig von mir spenden’. So dann erhörten die Stecher die Märe und sprachen: ‚Lieber Herr Gott! wir bitten euch, dass ihr so wohl tut, dass ihr uns lasst vor euch gehen. Alles das, was jemand versprechen kann, damit will ich euch dienen, das versäume ich keinen Tag’. Und eher deiner das erließ, wen der Kaiser stechen hieß, den stech der Stecher an der Statt, wenn ihn der Kaiser stechen bat.“
Wer sich also weigert, den Befehl des Großmeisters ohne zu zögern auszuführen, der wird sofort selber erstochen. Die Verknüpfung beziehungsweise Identifizierung von Friedrich II. und dem Alten vom Berg mag historisch unkorrekt sein, im Wesen trifft sie aber den Kern dieser Sache, und die Grundfrage ist immer dieselbe: Wie bekomme ich einen anderen Menschen so in die Hand, dass er effektiv meinen Willen ausführt? Zur Geheimhaltung der wirklichen Zwecke gehört auch die Erlaubnis zur Täuschung des zum Feinde Erklärten mit allen nur denkbaren Mitteln. Eine Geschichte, die „Kamal al-Din in seiner Historiografie über Aleppo aufschrieb“, wird von Lewis zitiert: „Mein Bruder – Gott sei ihm gnädig! – berichtete mir, dass Sinan (das ist der Alte vom Berge) einen Boten aussandte zu Saladin – Gott sei ihm gnädig! -- jener hatte den Auftrag, seine Botschaft nur unter vier Augen zu überbringen. Saladin ließ ihn durchsuchen und entließ, als man nichts Gefährliches bei ihm fand, sein Gefolge bis auf wenige Männer. Dann bat er ihn, seine Botschaft zu übergeben. Aber der Bote sagte: ‚Mein Meister befahl mir, die Botschaft nur unter vier Augen zu überbringen.’ Darauf schickte der Sultan alle Zurückgebliebenen bis auf zwei Mamelucken hinaus und forderte: ‚Gib mir deine Botschaft’. Er aber antwortete: ‚Ich habe Auftrag, sie nur unter vier Augen zu übergeben.’ Daraufhin Saladin: ‚Diese beiden verlassen mich nicht: Wenn du willst, gib mir die Botschaft, wenn nicht, kehre zurück’. Der Bote antwortete: ‚Warum schickst du diese beiden nicht auch hinaus, wie du die anderen hinausgeschickt hast?’ ‚Ich betrachte’, gab der Sultan zurück, ‚diese als meine Söhne, sie und ich sind eins.’ Da wandte sich der Bote an die Mamelucken und fragte: ‚Wenn ich euch im Namen meines Meisters befehlen würde, diesen Sultan zu töten – würdet ihr es tun?’ Die beiden antworteten mit ‚Ja’, zogen ihre Schwerter und sagten: ‚Befiehl uns, was du willst.’ Sultan Saladin – Gott sei ihm gnädig! – war wie vom Donner gerührt, der Bote aber verließ ihn und nahm die Mamelucken mit. Von nun an suchte Saladin – Gott sei ihm gnädig! – Frieden mit Sinan zu machen und in freundschaftliche Beziehungen mit ihm zu treten. Gott weiss, was am besten ist.“
Wenn diese Geschichte auch legendär ist, so kennt die Überlieferung dennoch zahlreiche Beispiele dafür, wie sich die künftigen Mörder das Vertrauen ihrer Opfer erschlichen, als Pferdeknecht, Derwisch oder in sonst irgend einer Verkleidung.
Aus dem schon erwähnten Buch „Die Janitscharen“ von Gerhard Schweizer geht eindeutig hervor, dass die Überlegenheit der osmanischen Armee in ihrer Anfangs- und Expansionszeit westlichen Militärexperten zu verdanken war, die in erster Linie über Venedig in das osmanische Reich eingeschleust und vom Sultan bestens bezahlt worden sind. „Eine kleine Gruppe von Männern hatte den Ausschlag gegeben, Waffenkonstrukteure und Geschützgießer, Italiener, Ungarn und Deutsche“. – „Innerhalb von zwei Jahren hatten die Männer Kanonen entwickelt, die besser als alle bisher bekannten Exemplare schossen.“ Das bezieht sich auf das Jahr 1452, aber schon seit der Gründung des Reiches befanden sich „christliche“ Spezialisten im Verwaltungs- und Militärwesen in leitender Stellung, und ohne sie hätten die Türken, ein Reitervolk aus der zentralasiatischen Steppe, ihr Reich nie so schnell und effektiv aufbauen können. Und noch für das Jahr 1524 gilt die Beschreibung von Schweizer, die er für den Aufbruch des osmanischen Heeres in den Kriegszug nach Westen gibt: „Noch immer waren die Konstrukteure dieser Feuerwaffen Deutsche, Italiener und Ungarn. Diese Spezialisten erfanden dank der astronomisch hohen Bezahlung der Türken bessere Waffen als zur selben Zeit ihre Kollegen in Europa.“
Im Jahr 1774 hatte sich diese Situation gründlich geändert, und nach einer Niederlage gegen die Russen „holte der Sultan europäische Berater und Techniker ins Land. Es waren nicht viele, auch waren es nicht unbedingt große Könner auf ihrem Gebiet, eher Abenteurer, die auf billige Weise zu Geld kommen wollten.“ Warum aber nun die Bezahlung nicht mehr dasselbe bewirkte wie früher, fragt sich der Autor des Buches nicht, und meine Antwort lautet: das osmanische Reich hatte den Zweck, zu dessen Erfüllung es aufgebaut worden war, und zwar immer in engster Tuchfühlung mit den europäischen Mächten, erfüllt und durfte nun seinem Untergang in einem neu gemischten Kräftespiel entgegensehen. Mehr noch als den fanatisch kämpfenden Janitscharen, der Elitetruppe aus gehirngewaschenen Menschen, waren die türkischen Siege der überlegenen Technik auf dem Gebiet der Feuerwaffen zu danken, und hinter dem Rücken der osmanischen Herrscher war dieser Vorsprung später entfallen.

Mechmed II., der Eroberer von Konstaninopel, errichtete die so genannte „Strenge Schule“ mit dem Ziel: „In Zukunft sollte es unmöglich sein, dass seine Wesire und Mininster aus einflussreichen türkischen Familien kamen.“ Er dehnte die Knabenlese auf das Verwaltungsgebiet aus und brachte hierfür „Christenknaben im Alter von zwölf bis vierzehn Jahren aus griechischen, bulgarischen, serbischen, albanischen und anatolischen Dörfern“ in die neue Hauptstadt, wo sie in der „Strengen Schule“ kaserniert und gedrillt wurden, um sie auf ihren Einsatz in der Verwaltung des Staates vorzubereiten, wo sie je nach ihrer Examensnote untere oder obere Stellen bekamen. Sie unterstanden den weissen Eunuchen des Regierungspalastes (des so genannten Serail), die alle weiss sein mussten so wie die Eunuchen des Harems schwarz zu sein hatten, und aus beiden abgesonderten und in sich geschlossenen Bereichen kamen Intrigen; und dazu gesellten sich noch die Aufstände der fett gewordenen Janitscharen, die den Sultan zu ihrem Spielball gemacht hatten, bis er sich mit einer neu aufgebauten Leibwache und Spezialtruppe gegen sie durchsetzen und sie ausschalten konnte. Das war im Jahr 1826, und mit der Auflösung der Janitscharen-Korps ließ der Sultan den sie betreuenden Derwisch-Orden, die Bektaschi, gleichfalls auflösen, die auch für die geistliche Führung der Strengen Schule verantwortlich waren. Und am Ende desselben Jahrhunderts war das osmanische Reich tief verschuldet und wirtschaftlich total von den Europäern abhängig.

Noch ein Wort zu Bajasid und Dschem, den Söhnen von Mechmed II. Von seinem Bruder geschlagen hatte sich Dschem an die Ägypter gewandt und wurde vom Sultan der Mamelucken in Kairo unterstützt, erlitt aber eine zweite Niederlage gegen Bajasid. Danach wandte er sich mit der Bitte um Hilfe an den Westen, zuerst an die Johanniter, die ihn als Gefangenen weiterreichten an italienische und französische Fürsten. Als er sich an den Papst von Rom wandte, wurde er dorthin geliefert, aber unterwegs umgebracht, von wem wurde nie aufgedeckt. Wie anders war das noch zu Zeiten des vierten Kreuzzuges gewesen, der zur Vernichtung des christlichen byzantinischen Reiches und seiner Hauptstadt Konstaninopel geführt hat, denn da hatten die venezianischen Herren und Finaziers der Kreuzritter einen Gegenkandidaten des byzantinischen Kaisers im Tross und spielten diesen Trumpf skrupellos aus. Den Trumpf, den Dschem hätte bedeuten können, hat keiner der westlichen Herren je ausgespielt -- und warum nicht? Es war die Zeit des Aufbaus des Gebildes „Osmanisches Reich“, das von seinem Anfang bis zu seinem Ende ein kalkuliertes Objekt im „Spiel der Mächte“ gewesen ist.
Die Militärgeschichte kann eine Schlacht nicht richtig beschreiben, wenn eine der kämpfenden Parteien den Willen hat, sich besiegen zu lassen. Das klingt paradox und ist es auch so lange gewesen, bis politische und so weit wie möglich geheim gehaltene Zwecke ein solches Vorgehen erforderlich machten. Die erste mir bekannte Schlacht in diesem Sinne ist die von Kunersdorf, die 1759 geschlagen wurde und bei der die Russen die Preussen besiegten, ihren Sieg aber nicht bis zur Aufreibung des Feindes ausnutzten, sondern den preussischen König Friedrich mit 3000 Mann entkommen ließen. Und von den Schlachten des „US-Amerkanischen Unabhängigkeitskrieges“ gegen die Briten habe ich schon gezeigt, dass sie vor allem in der zweiten Etappe der Kämpfe nicht zu verstehen sind ohne die Annahme, dass die maßgeblichen Briten einverstandnen waren mit der Gründung der USA. Die „Blitzssiege“ der Hitlerarmee zu Beginn des Zweiten Weltkriegs sind ein weiteres Besipiel dafür, und sie dienten dazu, die Kampfmoral der Deutschen, die anfangs gleich Null war, zu stärken – deshalb die völlig unmotivierten Marokkaner, Algerier und Senegalesen in der französischen Armee mit den veralteten Waffen.
Wofgang Gust weist in seinem Buch „Der Völkermord an den Armeniern“, München und Wien 1993, auf ein weiteres Exempel für diese zuvor völlig unbekannte Gattung der Kriegsführung hin, nämlich auf die Niederlage der türkischen Armee gegen die Russen im Dezember 1914 bei Sarikamis. Der Kriegsminister und „Jungtürke“ Enver hatte das Kommando über das Ostheer übernommen, und eine seiner „Tagesbefehle“ lautete folgendermaßen: „Soldaten, ich habe euch alle besucht, ich habe gesehen, dass ihr barfuß und ohne Mäntel seid. Bald werdet ihr in den Kaukasus einfallen, wo allerlei Verpflegung und Reichtum auf euch wartet.“ Nach diesem Zitat schreibt Gus: „Doch nicht Reichtum wartete auf die Türken, sondern der Tod. Denn bei 20 bis 25 Grad unter Null und fast einem Meter Schnee erlitten Enver und seine Barfußsoldaten eine verheerende Niederlage. Von seinen gut 100 000 Soldaten verlor der türkische Heerführer in einem nur zwei Wochen langen Feldzug 80 000 Mann, von denen um die 12 000 in russische Gefangenschaft fielen und damit überlebten.“
„Für die Türken war die Niederlage von Sarimkamis ein harter Schlag, für die Deutschen ein Anlass des Haders besonders zwischen Envers deutschem Generalstabschef und engem Vertrauten Bronsart von Schellendorf und dem deutschen Kommandeur der im Westen stationierten ersten Armee, Liman von Sanders.“ – „Vielleicht hatten die beiden Komplizen Enver und Bronsart auch etwas ganz anderes im Sinn: Die Armenier, koste es auch das Leben einer ganzen Armee anatolischer Soldaten, für die Niederlage in Sarikamis verantwortlich zu machen und ihre Vertreibung einzuleiten.“
Werner Freiherr von Wangenheim, der deutsche Botschafter in Konstaninopel, schrieb am 18. Juli 1914 an seine Berliner Vorgesetzten: „Die Türkei ist heute noch zweifellos völlig bündnisunfähig. Sie würde ihren Verbündeten nur Lasten auferlegen, ohne ihnen die geringsten Vorteile zu bieten.“ Wie der Verlauf des Krieges gezeigt hat, stellte Wangenheim die richtige Diagnose, und die Frage ist, warum das deutsche Kaiserreich unter Wilhelm II. dieses Bündnis trotzdem einging. Hinzu kommt eine weitere auf den ersten Blick unbeantwortbare Frage: wie konnte sich das osmanische Reich mit Österreich-Ungarn verbünden, dem Jahrhunderte langen Hauptfeind? Die sorgfältigen Recherchen von Gust geben die Antwort: die „Jungtürken“, die seit 1908 die Macht im osmanischen Reich übernommen hatten, ließen sich kaufen: „Zwei Millionen in bar oder Barren’, hatte der deutsche Botschafter Wangenheim am 11. Oktober 1914 für seine türkischen Freunde gefordert, ‚größte Eile’ sei geboten, und dringend nötig ‚sei Geld, viel Geld’. Schließlich einigten sich Deutsche und Jungtürken auf den Einstiegspreis des Osmanischen Reiches in den Ersten Weltkrieg: 900 000 Sovereigns -- im Wert von 18,9 Millionen Mark -- und 20 Millionen in Mark. Besonders auf Zahlungen in Gold waren die osmanischen Führer erpicht, die sofort nach Vertragsabschluss nachkarrten. ‚Türken rechnen auf zwei Millionen Gold’ funkte Wangenheim am 14. Oktober 1914, und: „Türken werden nicht losschlagen, ehe sich zwei Millionen türkische Pfund -- entsprechend fast 40 Millionen Mark -- bar hier befinden.’ Schließlich waren es genau 56 255 800 Mark (fast ausschließlich in Gold), die die Deutschen für den Partner am Bosporus berappen mussten, wie das Berliner Reichsschatzamt im Dezember 1914 errechnete. Auf heutige Verhältnisse wären es mehrstellige Milliardenbeträge.“
Wer war nun diese „Jungtürken“ genannte Gruppierung? Bei Gust lesen wir: „Zum 100. Jahrestag der Französischen Revolution hatten 1889 vier Studenten der Konstantinopler Militärhochschule für Medizin eine revolutionär-patriotische Gruppe gegründet … sie nannten sich ‚Ittahid-i Osmani’ (Osmanische Einheit), und als Organisationsmuster dienten ihnen die italienischen Geheimbünde der Karbonari oder die russische Narodnaja Wolja. Ihren Zellen gaben sie nur Nummern, keine Namen.“ Es war also ein Geheimbund nach dem in aller Welt seinerzeit schon bestens bewährten Muster, und die maßgebenden Männer haben den Völkermord an den Armeniern skrupellos geplant, sorgfältig vorbereitet und abscheulich brutal durchgeführt bzw. durchführen lassen. Die offiziellen Deutschen standen auf ihrer Seite, Enver selbst war „ein Schüler des Freiherrn von Goltz, der in der Türkei stets Goltz-Pascha genannt worden ist“ und 1880 als Militärausbilder ins Land gekommen war. „Von den Deutschen hatten die Armenier ohnehin nicht viel zu erwarten. In einem Expose schrieb der in der politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes für orientalische Angelegenheiten zuständige Vortragende Rat, Alfons Freiherr Mumm von Schwarzenstein, man dürfe ‚gerechterweise nicht vergessen, dass die Charaktereigenschaften dieser Rasse, ihre Verschlagenheit und ihre aufrüherischen Umtriebe die Wut der Türken herausfordern mussten, und dasss manches vorgefallen ist, was die Türken zu der Annahme berechtigen konnte, dass sie sich in Notwehr befanden.“ Das war 1896, ein Jahr nach den ersten groß angelegten Massakern an den Armeniern. Und Mumm fährt fort: „Deutschland dürfe ‚keinen Kreuzzug gegen den Halbmond ins Leben rufen, um einem Volksstamm, der gar kein Interess für uns hat, eine Hilfe mit zweifelhaftem Erfolge zu bringen und die Rettung einer Rasse zu unternehmen, die sich in offener Auflehnung gegen ihre Herrscher befindet. Das Blutvergießen der Armiener erscheint immerhin noch als das geringere Übel.“
Was wäre denn das schlimmere Übel gewesen? Die armenische Unabhängigkeit, ein armenischer Staat? Tatsächlich hätte dieser große Teile der Türlei abgetrennt, ganz Ost- und Mittelanatolien bis hin nach Kilikien an der Mittelmeerküste, wo der armenische Bevölkerungsanteil überwog. Und dieses Motiv spielte wohl mit, die wütende Soldateska zu ihren unvorstellbaren Greueltaten anzutreiben, sie konnten sich so von der Demütigung durch den Verlust von Serbien, Bulgarien und Griechenland rächen, aber das reichte nicht aus, weshalb die Jungtürken so genannte „Spezialverbände“ aufstellen mussten, unter denen sich auch Abteilungen freigelassener Mörder und kurdischer Banditen befand. Aber diejenigen, derer sich die Planer und Macher bedienten, konnten nicht ahnen, wozu sie gebraucht worden sind, ebenso wenig wie die aufgehetzten türkischen Massen, die am Vermögen und den schönen Frauen der Armenier Gefallen fanden. Die „Armenien-Frage“ wäre bei ein bisschen gutem Willen auch anders als durch einen Genozid zu lösen gewesen, es war aber dieser die Absicht, und ihn zu planen und konsequent zu organisieren war der Zweck der Veranstaltung, eines Massenmenschen-Versuches, dessen Auswertung für spätere Anwendungen nützlich sein konnte. Tatsächlich hat Hitler sich die Lösung der Armenier-Frage zum Vorbild zur Lösung der Juden-Frage genommen, und deutsche Offiziere, die in der osmanischen Armee gedient hatten und bei den Massakern logistische Unterstützung gewährten, bilden für ihn die Brücke. Und die Verbindng von Armeniern und Juden hat der schon zitierte Bronsart von Schellendorf hergestellt, indem er schrieb: „Der Armenier ist, wie der Jude, ausserhalb seiner Heimat ein Parasit, der die Gesundheit eines anderen Landes, indem er sich niedergelassen hat, aufsaugt. Dieses Volk ist neunmal schlimmer im Wucher als die Juden.“ Blutsauger und Schmarotzer am Volksköper sind auszurotten, und jede Regung von menschlichem Mitleid mit den geschundenen Opfern ist ein Zeichen von vernunftloser Schwäche. Entsprechend verhielt man sich auch.
Dass der Massenmenschenversuch von höherer Stelle geplant war, geht auch daraus hervor, was Gust von den Logen unter den Armeniern schreibt: „Die Zeituner (das Z ist ein stimmhaftes S) Rebellion hatte große Bedeutung für junge Armenier, die mit revolutionären Ideen aus Europa zurückgekehrt waren und selbst vor Aufständen nicht mehr zurückschreckten. Koordiniert, so scheint es, wurden die Aktivitäten der entstehenden armenischen Opposition anfangs von der mit Genehmigung der osmanischen Regierung eingerichteten Konstaninopler Loge ‚Haik’, einem Zweig der englischen ‚Odd Fellows’ Loge von Manchester, deren Korrespondenz wegen der britischen Schirmherrschaft frei im Land zirkulieren durfte. Wie überhaupt die Logen für die Oppositon, auch die osmanische eine entscheidende Rolle spielen sollten.“ Die Rolle der armenischen Logenmitglieder war die der „Agents provocateurs“, die den Türken durch sinnlose Anschläge und Aufstände die Rechtfertigung und den Antrieb für ihre bis dahin so noch nie da gewesene Metzelei gaben.
Ausser den offiziellen westlichen Leuten im osmanischen Reich, die ihre Augen verschlossen oder eingeweiht waren, gab es noch andere, die nicht im Sold ihrer Regierungen standen, Deutsche und US-Amerikaner im Missionsdienst ihrer Kirchengemeinden, die Schulen und Krankenhäuser in Armenien bauten, in der Hoffnung, sie könnten die Landesbewohner durch ihr gutes Beispiel bekehren. Und diese haben die Greuel unmittelbar miterlebt und auch öffentliches Zeugnis davon abgelegt. Aber sie drangen nicht durch, und als alles vorbei war, leisteten die Deutschen Fluchthilfe für die obersten Schlächter; unter dem Druck der Engländer fanden einige Prozesse gegen die Kriegsverbrecher und Menschenmetzler statt, die meisten kamen jedoch frei oder wurden „strafversetzt“ und damit in Wahrheit befördert, nur ein paar wenige Köpfe aus den unteren Chargen mussten rollen, um die westlichen Regierungen und vor allem deren Öffentlichkeit zu beruhigen. Diese wenigen Opfer wurden schon kurz nach ihrer Hinrichtung als „Märtyrer des türkischen Vokes“ gefeiert, und die höherkarätigen Männer, die von den Engländern nach Malta verfrachtet worden waren, weil sie aus den türkischen Gefängnissen zu leicht ausbrechen konnten, wurden an den neuen türkischen Staat ausgeliefert, wo sie die glänzendsten Karrieren machten. Denn der neue mächtige Mann Mustafa Kemal, der sich Ata-Türk nennen ließ (das heisst „Vater der Türken“) hatte die alte Garde übernommen und nur nach aussen hin, um die westliche Öffentlichkeit zu täuschen, so getan als wenn er gegen die Jungtürken eingestellt wäre. Als Beweis für das Gegenteil kann eine seiner ersten Handlungen gelten, nämlich die Einstellung aller Prozesse gegen die Schlächter und die Organisatoren des Völkermordes, allen voran die Jungtürken, auf deren Mitarbeit er zurückgriff.

Die Jungtürken agierten genauso wie die armenischen Geheimbünde zuerst aus dem Ausland, wo sich ihre Kerne gebildet hatten, aber „auch im Osmanischen Reich selbst bildeten sich Jungtürkengruppen, deren wichtigste die Sektion Saloniki werden sollte. Sie formierte sich im September 1906. In ihr saßen neben sieben Militärs zwar nur drei Zivilisten, die aber gaben den Ton an. Einer war der Postbeamte Mechmed Tala´at, der spätere Innenminister und Großwesir. Die Salonikigruppe expandierte in zwei Jahren zu einer großen Organisation mit 15 000 Sympathisanten. Zu ihr stieß auch die vom damaligen Generalstabsoffizier Mustafa Kemal (dem späteren Staatsgründer Atatürk) in Damaskus gegründete Geheimgesellschaft ‚Vatan’ (Vaterland).“ Von der Identität dieser Untergruppierung mit den Jungtürken zeugt allein schon ihr Name, denn wir hören von Gust: „Ein Begriff, mit dem die Alttürken nicht das geringste anfangen konnten, trat für die Jungtürken an die Stelle der obersten Autorität: ‚Vatan’, das Vaterland. Dieses Vaterland schloss in den Augen der Jungtürken die Minderheiten aus, die ihre eigenen nationalistischen Vorstellungen entwickelten.“
Um den Völkermord an den Armeniern aus dem Bewusstsein der Menschheit zu löschen, ließ sich Atatürk so manches einfallen: „Tatsächlich hat die Regierung unter Atatürk, dem Gründer der modernen Türkei, 1928 die arabischen Schriftzeichen durch das lateinische Alfabet ersetzt. Nun müsste das noch kein Hindernis sein (die Akten der Nachkriegsprozesse zu lesen), denn die Schrift des Profeten erlernt sich relativ leicht. Gleichzeitig aber hat die Regierung in den Folgejahren die Sprache von allen arabischen und persischen Wörtern gereinigt, und die herrschten in der Osmanli genannten Sprache des Osmanischen Reiches vor. Selbst türkische Intellektuelle sind heute nicht in der Lage, ohne gründliche linguistische Ausbildung die Texte ihrer eigenen osmanischen Geschichte zu lesen.“

Die Jungtürken schonten auch ihre eigenen Landsleute nicht und wurden damit zum Vorbild für die „Roten Garden“ in China, die „Roten Khmer“ in Kambodscha und andere derartige Gruppen. Die Zugehörigkeit zu einer Loge ist stets international, auch wenn der Nationalismus als Instrument noch eine Weile eingesetzt wird, und daher gehört die Misshandlung des eigenen Volkes zum unvermeidlichen Vollzug der Aufgabe, nämlich es reif zu machen durch Massenterror für die Zugehörigkeit zur „zivilisierten Staatengemeinschaft der Welt“. Im Fall der Jungtürken sah die Sache so aus: „Das Eintrittsgeld in den Weltkrieg war nur ein Anfang der jungtürkischen Geldmanipulationen. Am 16. August 1916 meldeten die Deutschen aus Konstantinopel: ‚Einige Mitglieder des Komitees sollen sich durch Verkauf der für die Truppen bestimmten Vorräte an die Zivilbevölkerung zu exorbitanten Preisen in unerhörter Weise bereichert haben.’ ‚Die Vorgänge sind derart skandalös’, so ein internes Schreiben im Berliner Aussenamt, dass der deutsche Botschafter bereits zweimal mit seiner Abreise gedroht hat.“ – „Besonders das Kriegsministerium lenkte die reichlich fließenden deutschen Gelder in die Taschen seiner Mitarbeiter und der Offiziere. Der Generalintendant des osmanischen Heeres, Ismail Hakki Pascha etwa, ergab ein deutscher Bericht aus Konstantinopel, lenkte die für den Kauf von Flugzeugen bereitgestellte Summe in die Taschen der herrschenden Klasse, und auch die unteren Chargen in den türkischen Kommandostellen versilberten die für die hungernde Truppe vorgesehenen Lebensmittelrationen. Hunderttausende Türken mussten schmachten, weil die Jungtürken hauptsächlich mit Lebensmittelspekulationen zu Reichtum kommen wollten.“
Auch dies war ein zynisch eingeplanter Baustein in das Gesamtvorhaben, denn die Herren wussten, dass das osmanische Reich dem Untergang geweiht war und sicherten sich ihr Startkapital für die Zeit danach, sollten die zukurz gekommenen Rekruten sich doch an den verhungerten und zerstückelten Leichen der Armenier satt fressen.
Der „Groß-Ajatollah“ Khomeini rief im Juni 1963 zu einem Volksaufstand gegen den Schah auf und wurde von diesem verhaftet, zehn Monate verbrachte er im Gefängnis, dann wurde er nach Ghom abgeschoben, und weil er sich nicht an das ihm auferlegte Redeverbot hielt, im November 1964 in das türkische Bursa; ein halbes Jahr später finden wir ihn in Nedschef, der heiligen Stadt der Schi´iten im Irak, wo sich im Jahr 1963 die Ba´ath-Partei an die Macht geputscht hatte; diese Partei war nach dem Vorbild der Bolschewisten organisiert, und in einzelnen Zellen, deren Mitglieder sich gegenseitig nicht kannten, hatte sie zuvor schon sämtliche relevanten Bereiche und insbesondere die Armee infiltriert. Die Ba´ath-Partei, deren Name so viel wie „Wiedergeburt“ bedeutet, was sich auf den arabischen Nationalismus bezog und nicht auf den Islam, war „säkular“ ausgerichtet und erbaute einen weltlichen Staat nach dem Vorbild von Atatürk – welches Interesse hatte sie also, einen religiösen Fanatilker vom Schlag eines Khomeini so lange in ihren Grenzen zu dulden? Erst 1979 musste dieser das Land verlassen, und weil ihn angeblich kein einziges moslemisches Land mehr aufnehmen wollte, ging er nach Frankreich, wo er in der Nähe von Paris seinen Propagandakrieg fortsetzen konnte, um im Jahr darauf die Macht im Iran zu ergreifen. (Quelle: „Iran -- Drehscheibe zwischen Ost und West“ von Gerhard Schweitzer, Stuttgart 1991)

Von dem 1973 zum Generalsekretär der „Demokratrischen Partei Kurdistans“ gewählten Ghassemlou gibt es folgendes Statement: „In der heutigen Situation unseres Volkes, dem man als letztem großen Kulturvolk dieser Erde immer noch den eigenen Staat verweigert, können wir in der Annahme von Hilfe nicht wählerisch sein. Barsani hat zuerst die Hilfe Stalins angenommen und dann die Unterstützung des US-Präsidenten Nixon und seines Aussenministers Kissinger. Mao-Tse-Tung hätte ohne die Hilfe der USA wohl kaum den Bürgerkrieg gegen Dschiang-Kai-Schek für sich entschieden, der Kommunist Tito wäre ohne die Hilfe des kapitalistischen Großbritannien nicht unter die Sieger des Zweiten Weltkriegs geraten. Und selbst Lenin hat die Unterstützung des wilheminischen deutschen Kaiserreichs nicht verschmäht. Andererseits kennen wir aber auch das europäische Sprichwort, dass derjenige, der mit dem Teufel aus dem gleichen Topf essen will, einen langen Löffel braucht. Barsani beispielsweise hat der Hilfe der USA blind vertraut, und daran ist 1975 seine Revolution ja auch gescheitert. Aber lassen Sie mich wiederholen: Wir haben eine Verantwortung für das kurdische Volk, und wir wollen nichts weniger als Selbstbestimmung für 15 Millionen Menschen im Nahen Osten. Und für dieses Ziel ist uns jede Unterstützung und jedes erfolgversprechende Mittel recht.“
Dieses Zitat habe ich einem Buch von Günter Deschner entnommen mit dem Titel „Saladins Söhne – Die Kurden, das betrogene Volk“, München 1983. Ghassemlou hat in Prag Volkswirtschaft studiert, Ende der fünfziger Jahre kehrte er in seine Heimat zurück und verbrachte zwei Jahre in einem Gefängnis des Schah von Iran, danach ging er wieder nach Prag, wo er promovierte und Dozent für Volkswirtschaft wurde. 1969 begab er sich in den Irak, wo er Beamter im Planungsministerium der Ba´ath-Regierung wurde, und 1976 ging er erneut ins europäische Exil, jetzt nach Paris, wo er an der Sorbonne eine Dozentur für kurdische Sprache und Literatur bekam. Kurz vor dem Ausbruch der Islamischen Revolution im Iran war er in den Reihen der Aufständischen zu finden, und Deschner schreibt von ihm: „Ghassemlou ist aufgrund seiner umfassenden Bildung -- er spricht sieben Sprachen fließend -- geradezu prädestiniert, die kurdischen Anliegen gegenüber ausländischen Diplomaten und Journalisten zu vertreten.“
Die „Revolution von Barsani“, von der er in dem Interview spicht, hatte 1975 die Vernichtung der kurdischen Partisanen-Armee unter der Führung von Barsani gezeitigt, und von den Soldaten der Regierung in Bagdad wurden die grausamsten Massaker auch an der Zivilbevölkerung ausgeübt. Kissinger hatte die Hilfe der USA versprochen, die über deren Verbündeten Iran nach Kurdistan gebracht werden sollte, aber nur in den spärlichsten Rinnsalen eintraf. Die USA hatten dieses doppelte Spiel mit einer bestimmten Absicht gespielt, und ihr Ziel war die Stärkung des Ba´ath-Regimes, das seit 1979 unter der Diktatur ihres besonderen Zöglings Saddam Hussein zu dem zehn Jahre dauernden Schlachten zwischen Irak und dem Iran unter Khomeini geführt hat.
Die Kurden haben des öfteren als Bauernopfer im Schachspiel der Mächtigen herhalten müssen, und auch Ghassemlou hat dabei seine Rolle gespielt, jedenfalls war er bestens informiert, besser als die Weltöffentlichkeit (die von dem 1975 durchgeführten Völkermord an den Kurden keine Notiz nahm), was sich in seiner Bemerkung bezüglich Tito und Mao-Dse-Dong zeigt. Und der Verdacht, dass Barsani selbst ein Agent der USA gewesen sein könnte, ergibt sich aus seinem Verhalten im Angesicht seines Todes: als die Zeit seines Sterbens herankam, begab er sich zur Behandlung in eine Spezialklinik der USA, die ihm und seinem Volk in den Rücken gefallen war, aber das nützte ihm nichts, denn ihm war nicht mehr zu helfen. Genausowenig muslimisch, was ja die Ergebung in den Willen Gottes bedeutet, verhielt sich Arafat, der Führer der Palästinenser, er ließ sich in ein Militärhospital nach Frankreich ausfliegen, in der vergeblichen Hoffnung, die westlichen Ärzte könnten sein Leben verlängern.

In dem Buch „Napoleon oder der Mythos des Retters“ von Jean Tulard, deutsche Erstausgabe Tübingen 1977, findet sich eine Fülle von Material und Details, wovon ich hier nur folgendes mitteilen will: Am 17. Januar 1800 hat der Diktator Napoleon, der sich im Vorjahr an die Macht geputscht hatte, die rigorose Zensur der Presse eingeführt, und am 24. Dezember desselbigen Jahres sollte in dem Moment, wo Napoleon vorfuhr, um sich in der Oper „Die Schöpfung“ von Josef Haydn anzuhören, eine „Höllenmaschine“ explodieren -- das Attentat misslang, und als Täter wurden die „Jakobiner“ verdächtigt, das waren die „Linken“, die sich mit dem Sieg der Bourgeoisie und des Kapitalismus nicht abfinden wollten, und an ihren Führern wurde die Todesstrafe vollzogen. Nachdem die Linke unschädlich gemacht worden war, sei der Polizeichef Fouché dann auf die wirklichen Täter gekommen, es seien Leute aus den Reihen der „Chouans“, also Royalisten gewesen, die eine konstitutionelle Monarchie unter den entmachteten Bourbonen anstrebten, und auch die Rechten wurden vernichtet, weshalb ich das Attentat für eine von Napoleon selbst inszenierte Aktion halten muss.
Eine Einzelheit ist dabei noch wichtig, und sie ist der berühmten Stecknadel im Heuhaufen vergleichbar: vor ihrer Hinrichtung wurden die Führer der Royalisten gefoltert, und dabei wurde die Verbindung zu den Leuten um den Grafen Artois aufgedeckt, die sich bis dahin sogar noch in Paris halten konnten, ausserdem zu einer Gruppe von Exilanten, die von Augsburg aus bis in den Süden Frankreichs in ihrem Sinn agitierten. Nach der Enttarnung dieser Leute, wurden ihnen die Zuschüsse aus England gestrichen, und sie mussten von Augsburg nach Bayreuth umsiedeln, wo sie von der preussischen Polizei auf Bitten der französischen Regierung verhaftet wurden. Der angebliche Erzfeind Napoleons, das Inselreich Albion, lässt dessen Feinde fallen und übergibt sie dem anderen Erzfeind Napoleons, an Preussen, das mit England verbündet war im Krieg gegen das revolutionäre vornapoleonische Frankreich, und im Krieg gegen Napoleon sind diese beiden dann wieder verbündet, also scheint ihre gemeinsame Aktion gegen die Exil-Royalisten aus Frankreich keinerlei Sinn zu machen.
Doch nur auf den ersten Blick hin, denn ein tieferer zeigt das Szenarium hinter der Bühne, welche die Völker in die Irre zu führen bestimmt war. Genauso wie Adolf Hitler in seiner Aufbauzeit groß und stark gemacht wurde, war es auch bei Napoleon Bonaparte, denn einem jeweils ganz bestimmten Zweck hatten diese beiden zu dienen. Im Fall von Napoleon war es die Durchsetzung des „Code civil“ oder des „Bürgerlichen Gesetzbuches“ als Grundlage für die ungehemmte Freisetzung des kapitalistischen Fortschritts im ganzen Europa. Und von diesem Code civil hat Napoleon an seinen Bruder, den er zum König von Neapel gemacht hatte, geschrieben, dass er sich nicht mit den alten Institutionen zu befassen bräuchte, das einzige, was er zu tun hätte, sei, dieses Gesetzeswerk (mit der dahinter stehenden Justiz) einzuführen, dann würde sich alles andere von selbst erledigen. Es hat die Feldzüge des Großmeisters überlebt, die nur so lange Blitzsiege waren, wie der Wendepunkt noch nicht erreicht war. Und anders als der arme Tropf Hitler, der keine Ahnung davon hatte, von wem und wozu er benutzt worden ist, war Napoleon eingeweiht, was aus einem weiteren Detail seiner Biografie deutlich wird: nach seiner endgültigen Niederlage in Waterloo lieferte er sich selbst seinen Erzfeinden, den Engländern, aus und wurde von diesen sehr zuvorkommend behandelt. Am 3. Juli 1815 bekam er in Rochefort das zugesicherte freie Geleit, und nach der Überfahrt auf die britische Insel verbrachte er dort die Zeit bis zum 9. August, an welchem Tag er und seine Begleiter an Bord der „Northumberland“ gingen, die sie nach Sankt Helena brachte. Samuel Decimus, ein Matrose des Schiffes, erzählt: „Napoleon und sein Gefolge waren während der ganzen Überfahrt bester Laune“. Wie sollten sie das auch nicht sein, sie wussten ja, was sie erwartete, das Komplott war hinter den Kulissen schon längst abgesprochen. Napoleon bekam auf Sankt Helena eine Bibliothek mit 2000 Bänden zur Verfügung gestellt und konnte von dort aus seinen „Mythos“ vollenden, der mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat, ganz im Gegensatz zu den echten Mythen der Völker.
Das Kernstück des „zivilen Kotes“ ist die Heiligsprechung des Privateigentums, und zwar nicht nur an persönlichen Dingen, sondern auch an Ländereien, und was im Bewusstsein der Völker völlig verloren ging, das war der Untergang der so genannten „Allmende“, des gemeinsamen Bewirtschaftens der Acker- und Weideländer und Wälder, das seit uralten Zeiten in allen Dörfern Brauch war und dessen Auslöschung durch die europäische Kolonisation weltweit erfolgte.

In dem von einem Gelehrten-Konsortium geschriebenen Buch „Geschichte der arabischen Welt“, herausgegeben von Ulrich Haarmann, München 1987, findet sich ein Wust von Daten, ein ganz entscheidendes wurde jedoch unterschlagen, nämlich das der Entdeckung des Erdöls und seiner Ausbeutung. Ich entnehme diesem Werk hier nur einen einzigen Strang aus dem oft sehr komplizierten Gewirr, den Aufstieg der Wahabiten zu Königen von Saudi-Arabien. Muchamäd Ben Abd al-Wahab, der von 1703 bis 1792 gelebt hat, war der Gründer einer Bewegung, die nichts anderes anerkannte als den Koran und die auf den Profeten Muchamäd bezogenen Überlieferungen, und sowohl „die im osmanischen Reich herrschende sunnitische Orthodoxie hanafitischer Prägung als auch die Schia Persiens“ galten ihm als „verfälschte Lehren“. „Der Feldzug zur Vernichtung aller Muslime, die nicht bereit waren, sich diesem religiösen Gesetz zu beugen, brach um die Mitte des 18. Jahrhunderts los“. -- „Die neue Reformbewegung verbreitete sich nicht von selbst. In Muchamäd Ben Sa´du und dessen Sohn Abd al Aziz fand sie ihre Vorkämpfer. In einer militärischen Offensive, die jahrzehntelang in einer Verbindung von religiösem Eifer und Streben nach diesseitigem Gewinn ihren Impetus zu bewahren wusste, wurden die Stämme Arabiens der Familie Sa´ud untertan gemacht und damit einer Lebensweise nach den Vorstellungen Muchamäd Ben Abd al-Wahabs zugeführt“.
„1801 eroberten und zerstörten die wahabitischen Kämpfer die schi´itischen Pilgerorte Nadschaf und Kerbela und schlugen mehrere Angriffe des osmanischen Statthalters von Bagdad zurück, 1803 musste sich der Emir von Mekka ergeben und 1805 fiel Medina; erst den Strafexpeditionen des Muchamäd Ali aus Kairo, die von 1811 bis 1818 erfolgten, gelang es, die Wahabiten zu zügeln.“ Das 19. Jahrhundert sah ein Auf und Ab der „verschiedenen saudisch-wahabitischen Reichsbildungen“ – „im 20. Jahrhundert jedoch brachte die Dynastie mit Abd al-Aziz Ben Abd ar-Rachman al Faysal al Sa´ud den genialen Erneuerer eines Staatswesens von imperialen Ausmaßen und ungewöhnlicher Dauer hervor.“ Wie ist das zugegangen? Der erste Schritt war 1902 die Einnahme von Riad, die Abd al-Aziz „jedoch in den Augen der osmanischen Regierung zum Rebellen abgestempelt“ hat, und „in den Jahren 1904 und 1905 wurden zwei Expeditionen gegen ihn ausgesandt; bei der ersten konnte er einen militärischen Sieg verbuchen, der zweiten musste er sich unterwerfen“. Er wurde zum Vertreter des Statthalters von Basra ernannt, und 1912 eroberte er die ölreiche Provinz al-Chasa, womit er wieder gegen die Regierung von Istambul aufbegehrt hatte. Anstatt aber dafür bestraft zu werden, bekam er den Titel eines Wali (Statthalter) des Nadschd, das ist das zentrale Gebiet der arabischen Halbinsel, und es wurde ihm und seiner Familie sogar „als erbliche Pfründe überlassen“.
In Istambul waren seit 1908 die „Jungtürken“ an der Macht und hatten den Sultan zu einem Schattendasein verurteilt, und es stellt sich die Frage, wie diese westlich orientierten Vorläufer von Atatürk den Führer einer fundamentalistischen und „extrem puritanischen“ Richtung eine derartige Anerkennung gewähren konnten. Die Antwort ist in dessen Bekämpfung der Nomaden und Halbnomaden auf der arabischen Halbinsel zu suchen, die er gewaltsam in Siedlungen pferchte. „Die Aufforderungen zur Sesshaftwerdung ist von Anfang an mit Aufrufen zum Dschihad gegen Siedlungsunwillige verbunden gewesen“. – „Wer dieser Aufforderung nicht nachkam, galt als besonders verderblich und tötungswürdig. In der Tat wurden keine männlichen Gefangenen genommen.“
Mit der erfolgreichen Ausschaltung der Beduinen aus dem arabischen Leben reiht sich Abd al-Aziz in die Verfolger der Nichtsesshaften durch die Sesshaften ein, die weltweit siegreich waren und nach aussen hin so extrem verschiedene Ideologen vertraten wie der Protestantismus in Skandinavien mit seiner Unterdrückung der Samen (die verächtlich Lappen genannt worden sind), der Bolschewismus in Sibirien gegen die dortigen Stämme, sowie die Katholiken und Anglikaner gegen die Indios der „Neuen Welt“ – und nicht zu vergessen die Nationalsozialisten, die sich der „Zigeuner“ annahmen. Der Prototyp des Hasses, der den domestizierten Ackerbauer gegen den frei umherschweifenden Nomaden einnimmt, ist in der biblischen Gestalt von Kajn vorgezeichnet, der seinen Bruder Häwäl (Abel) ermordet und zum Stadtgründer wird; und dieser Hass gleicht der eines unterworfenen Haustiers auf seinen wild gebliebenen Verwandten.
(Zu diesem Thema schrieb ich vor Jahren in einem Brief: „Eine wiederholte Beobachtung an Hunden hat mich mehr vom Wesen und der Herkunft der Aggressionen gelehrt als die so genannte Wissenschaft mit ihren Verfahren. Es handelte sich um von Menschen an die Leine genommene Hunde, die mit ihren Besitzern in der Stadt herumspaziert sind. Wenn sie nun auf Artgenossen trafen, die sie gerne begrüßt und nach Hundeart beschnüffelt hätten, wie ihr lebhaftes Interesse bezeugte, davon aber dann abgehalten wurden durch einen straffen Zug an der Leine, sodass das Halsband ihnen die Gurgel abschnürte, kippte ihre Stimmung jäh um, und ein wütend keifendes Kläffen erscholl aus ihren schäumenden Mäulern gegen den ihnen unerreichbaren Nächsten. Und genauso stranguliert grollend kam die Antwort von diesem, aber nur wenn er angeleint war. Sie offenbarten die Reaktionen von Menschen, die einander begehren, aber von den unsichtbaren inneren Ketten einer rigiden Erziehung daran gehindert sind, sich auch nur zu berühren. Und dann und wann schwillt ihr Groll derart an, dass sie die Ketten zerreissen und aus lauter Angst vor der Zärtlichkeit sich lieber blutigen Wunden hingeben. Was aber geschieht, wenn die Hunde frei laufen dürfen, ist auch zu sehen manchmal: wenn sie sich riechen mögen, dann tollen sie je nach Alter miteinander herum, und wenn nicht lassen sie einander gehen. So einfach könnte es sein auch unter Menschen, wenn wir frei laufen würden und unsere ‚wilde Natur’ wieder entdeckten.“ Des weiteren heisst es dort: „Als ich den ersten Schluß aus meiner Hundebeobachtung zog, wagte ich die Behauptung, daß jeder Haß auf den Nächsten nur eine gebrochene und erwürgte Liebe zu ihm ist; nun muß ich jedoch konzedieren, daß die Wut auch schon auftritt, wenn zuviele Artgenossen auf zu engem Raum gepfercht werden. Das ist nicht nur bekannt von Tieren in der Gefangenschaft eines Zoos, das kann ein jeder bei sich selber in unseren Städten verspüren, deren Massen unser Fassungsvermögen weit überfordern. Nicht einmal anschauen können wir die ganzen Gesichter, geschweige denn merken. Es gibt also zwei Quellen von Haß auf den Nächsten, die unerfüllte Sehnsucht nach ihm und die abstumpfende Überreizung durch ihn, und beide haben sich in unserer Gesellschaft miteinander vermischt.)
Woher Abd al-Aziz die Mittel bezog, um seiner Zwangspolitik zum Erfolg zu verhelfen, bleibt für die Anfangszeit dunkel, aber für die nach dem Ersten Weltkrieg ist gesagt: „Abd al-Aziz erfreute sich auch besonderer finanzieller Unterstützung seitens der Briten. Diese hatten auf ihrer Nahostkonferenz in Kairo 1921 die Subsidienzahlungen von jährlich 60 000 auf 100 000 Pfund Sterling erhöht“ – woraus der Rückschluss zu ziehen ist, dass er auch vorher schon in ihrem Sold stand. Die ganze Dimension der Sache wird deutlich, wenn wir lesen: „Die Bindung an die britische imperiale Vormacht hatte sich Ende der zwanziger Jahre noch einmal auf dramatische Weise als hilfreich erwiesen. Zwischen einem größeren Teil der Ichwan (auf deutsch: „Bruderschaft“) und Abd al-Aziz war es zu einem Zerwürfnis über dessen Modernisierungspolitik gekommen, das schließlich zur Rebellion der von Ibn Bidschad, Fayschal al Dawisch und Dschidan Ben Chitlayn geführten Krieger der Ichwan führte“ – „Abd al-Aziz blieb in der Entscheidungsschlacht überlegen, verdankte seinen Sieg aber nicht zuletzt britischer logistischer Unterstützung und dem Einsatz der Royal Air Force.“
In diesem Zusammenhang sei an die flächendeckenden Bombardierungen der britischen Luftwaffe unter dem Kolonialminister Winston Churchill erinnert, die auf deren „Einflussgebiet“ im Irak niedergingen, um den Widerstand der Araber zu brechen, die sich um die Früchte ihres Kampfes gegen die Türken betrogen sahen, und auch an die Bomben der Franzosen in deren „Einflussgebiet“ auf die Araber in Syrien. Abd al-Aziz dagegen hatte sich als gehorsam Erfüllungsgehilfe erwiesen, und seine Belohnung bestand in der Krönung zum Herren von Saudi-Arabien im Jahr 1926. Seine religiöse „Bruderschaft“ war nur ein Vorwand, und nachdem er seine rebellischen Gefolgsleute mit Hilfe britischer Bomben unschädlich gemacht hatte, erreichte er die internationale Reputation; der erste Staat, der ihn anerkannte, war 1927 die Sowjetunion unter Stalin, der ihn als „antikolonialen Freiheitshelden“ hinstellte, eine vollkommen absurde Konstruktion, wenn wir sehen, wie er 1933 sein Land den US-amerikani-schen „Ölkonzessionären“ ausliefert. Nach der Eroberung des Hedscha (das ist das Gebiet an der östlichen Küste des Roten Meeres mit den dem Islam heiligen Städten Medina und Mekka) umfasste es fast die gesamte arabische Halbinsel. Den Hedscha hatte er aber mit Unterstützung der Briten den Haschemiten abgenommen, Nachfahren des Profeten Muchamäd, die seit urdenklichen Zeiten die Heiligen Stätten bewachten. Scherif Hussein musste abdanken, und seinem Sohn Feisal (der mit Lawrence von Arabien gegen die Osmanen gekämpft hatte) wurde der Königsthron von Syrien gegeben, von wo er aber vertrieben wurde, um dann zum König des Irak zu werden, ein Himmelfahrtskommando auch das (1958 wurde Feisal II. von einem Militärputsch entthront und ermordet).
Die von mir an anderer Stelle dargelegte Zusammenarbeit der USA und der Sowjetunion hinter den Kulissen wird auch an dieser Anerkennung von „Saudi-Arabien“ ersichtlich, jenem Land, das bis heute von den Wahabiten regiert wird und eines der engsten Bündnispartner der USA in der arabischen Welt ist. Und festzuhalten ist hier noch, dass die USA ihren Kriegsbeitritt 1917 auf der Seite der Alliierten „mit den Prinzipien einer neuen Weltordnung verbanden, die es in der Nachkriegszeit zu verwirklichen galt: dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und der liberalen Handelspolitik der offenen Tür“. Auf der Pariser „Friedenskonferenz“, die den Vertrag von Versailles hervorbrachte, erkannte der verlogene US-Präsident Wilson das direkte „Mandat“ der Briten über Ägypten an, weil es zur damaligen Zeit noch nicht gelungen war, dort eine Regierung von Kollaborateuren zu etablieren.

Ich füge noch ein Zitat aus dem von Haarmann herausgegebenen Buch an: „Die spezifische geistesgeschichtliche Komponente des britischen Interesses an Palästina war das chiliastische Konzept der ‚restoration of the Jews’. Die Erfüllung der Profezeiungen über die Endzeit war danach unauflöslich mit der Rückführung der Juden ins Land ihrer Väter verbunden, auf das sie ein unveräusserliches Recht hatten. Die fysische und religiöse ‚restoration’, d.h. die Beendigung der Zerstreuung, die Sammlung in Palästina und die Annahme der christlichen Botschaft, wurde als ein wesentlicher Bestandteil des göttlichen Heilsplans und als Voraussetzung für die Ankunft des Königreichs Christi verstanden.“ Die Ideologen schreckten also selbst vor den blödesten Mitteln nicht zurück, um ihr bigottes Publikum zu erreichen, aber dieses Kapitel würde ich nicht in die Geistesgeschichte einreihen, sondern in die Geschichte des Schwachsinns.

In der „Geschichte Portugals“ von Walter G. Armando, Stuttgart 1966, ist zu lesen: „Die Existenz eines unabhängigen, selbständigen Staates Portugal, der in seiner heutigen Form nur ein Fünftel des Flächenraums der iberischen Halbinsel einnnimmt, ist von spanischer Seite von jeher als überflüssig und als politisch und wirtschaftlich ungerechtfertigt betrachtet worden. Indessen ist der tatsächliche Unterschied zwischen Spanien und Portugal, was Land und Leute betrifft, für den unparteiischen Beobachter so offenkundig, dass kein Zwiefel an der Individualität Portugals und seinem Recht auf Selbständigkeit aufkommen kann.“ In Wirklichkeit widerspricht der Autor selbst dieser These, indem er auf die wiederholten Anstrengungen des Landes zur Eroberung von Galizien hinweist und ausserdem auf das Bestreben nach einer „Iberischen Union“, das nicht nur von Spanien sondern auch von Portugal ausging. Hören wir dazu unter anderem: „Schließlich kam es 1490 zu der glücklichen Lösung einer Heirat des portugiesischen Thron-folgers Alfons mit der spanischen Thronerbin, der Infantin Isabella. Johann (der II. von Portugal) sah darin vor allem die Vereinigung Spaniens und Portugals in einer Iberischen Union unter dem jungen Paar.“ Da Alfons ein Jahr nach seiner Hochzeit mit Isabella an einem Reitunfall starb, musste dieser Plan vorerst scheitern, doch schon bald wurde er wieder ins Auge gefasst, und abermals ging die Initiative vom König von Portugal aus: „Im Jahr 1497 heiratete Manuel (der I., der Nachfolger von Johann II.) die verwitwete Infantin Isabella. Bald darauf starb der spanische Thronfolger Don Juan, wodurch Isabella, jetzt Königin von Portugal, Erbin der spanischen Krone wurde. Nun sah Manuel schon beide Königreiche unter seiner Herrschaft vereint. Im Frühjahr 1498 ging das portugiesische Königspaar nach Toledo, wo Isabella als Erbin der Kronen von Kastilien, Leon und Aragon vereidigt wurde. Ein halbes Jahr später wurde ihnen in Saragossa ein Sohn geboren. Da aber bei dessen Geburt die Mutter starb, wurde das Kind sogleich als Erbe der Kronen seiner spanischen Großeltern anerkannt. Gegen Ende des Jahres berief Manuel die Cortes ein, um das Kind auch zum Thronfolger in Portugal proklamieren zu lassen. Jedoch bald nach der Eidesleistung der Cortes starb das Kind, und Manuel musste sein Projekt der Iberischen Union als gescheitert ansehen“.
Von 1581 bis 1640 wurde diese Union dann unter der Dominanz von Spanien verwirklicht, und die Frage ist, warum sie keinen Bestand haben konnte; die Antwort des „Historikers Alexandre Herculano“, die Armando zitiert und der er beipflichtet, genügt mir jedenfalls nicht: „Wir sind unabhängig, weil wir es sein wollen. Das ist die absolut richtige, unbestreitbare Erklärung für unsere nationale Individualität.“ Diese Aussage ist darum schwachsinnig, weil viele andere Nationen ebenfalls unabhängig sein wollten, es aber nicht wurden, und ich erinnere nur an die Okzitanier, Katalanen und Basken aus dem näheren Umkreis.Wir haben also nach anderen Gründen zu suchen.
Im Jahr 1120 ist der Ritterorden der Templer im „Heiligen Land“ gegründet worden, und schon acht Jahre darauf hatte er in Portugal die entscheidende Stellung in der so genannten Reconquista eingenommen; wiederholt wurde er mit reichlichen Schenkungen bedacht, und seine „Landwirtschaftsbetriebe“ werden von Armando mehrmals als „vorbildlich“ beschrieben; als der Orden im Jahr 1312 auf dem Konzil von Vienna von Papst Clemens V. aufgelöst wurde, blieb sein Besitz in Portugal unangetastet, was durch einen Trick möglich wurde – der portugiesische König hatte ihn umbenannt und als „Christus-Orden“ unter seine Fittiche genommen. Das Bündnis zwischen England und Portugal geht auf das Jahr 1308 zurück, wo diese beiden Länder einen Handels- und Freundschaftsvertrag miteinander abschlossen, der 1373 erneuert wurde; in jenem Jahr „unterzeichneten Fernando I. von Portugal und Eduard III. von England einen geheimen Offensiv- und Defensiv-Vertrag, die Basis zu dem historischen englisch-portugie-sischen Bündnis, das die Jahrhunderte bis heute überdauert hat.“ Die Basis ist bereits 1308 gelegt worden, und da die Partner das Vermächtnis der Templer antraten, wie ich an anderer Stelle aufzeigen konnte, lässt dieses Datum darauf schließen, dass sie in das Vorhaben des französischen Königs Filipp des Schönen gegen die Templer eingeweiht waren. Man hat einen Sündenbock für das Scheitern der Kreuzzüge gebraucht, und dazu wurden die Templer gemacht, die nachweislich mit den Assassinen kooperierten, deren Prinzip der Geheimhaltung der wahren Absichten nicht zu vergessen ist.
Dass Armando das Jahr 1373 als grundlegend für das Bündnis zwischen England und Portugal ansieht, kommt vielleicht daher, dass der Vertragspartner Fernando I. wegweisende Bestimmungen erließ, so lautet ein Paragraf seines Gesetzes von 1375: „Wer ohne Erlaubnis bettelt oder sich als Landstreicher herumtreibt oder gar sich fälschlich als Bettelmönch ausgibt, soll gezwungen werden, Landarbeit zu leisten, bei Strafe der Verbannung, denn der König will nicht, dass in seinem Land jemand müßig lebt.“ Armando schreibt hierzu: „Verwöhnt durch die Gutherzigkeit und Hilfsbereitschaft des einfachen Volkes in den schweren Zeiten der Epidemien hatte sich die Zahl der Arbeitsscheuen so vermehrt, dass die Bettelei zu einer unerträglichen Landplage geworden war. Das Gesetz bestimmte nun, dass nur Alte und Kranke, die arbeitsunfähig waren, betteln durften. Der Kampf gegen die Bettelei wurde mit größter Strenge geführt. Es bestand Arbeitszwang für alle Arbeitsfähigen. Gewohnheitsbettler und Tagediebe wurden mit einem glühenden Eisen an der Stirne gezeichnet. Wenn sie rückfällig wurden, schnitt man ihnen die Ohren ab, um sie kenntlich zu machen.“ Damit war Portugal zum „fortschrittlichsten“ Land in Europa geworden, und die Zwangsarbeit in den Gütern der Ritterorden erinnert fatal an die in den Arbeitslagern von England, in die nach dem Verbot der Bettelei das „arbeitsscheue Gesindel“ zur Umerziehung gesteckt worden ist, was aber erst mit der Industrialiserung gelang – und dass für die Unbelehrbaren, die nicht zur Fabrikarbeit zu verwenden waren, die psychiatrischen Anstalten erfunden wurden, sei hier nur am Rande vermerkt; und auch die „Konzentrationslager“ der Nationalsozialisten, in die unter anderen Leuten die so genannten „Asozialen“ zur Arbeit gezwungen wurden, können in Ferdinand ihren geistigen Begründer erblicken.
Während Großbritannien zur Weltmacht aufstieg, verkümmerte das mit ihm verbündete Portugal immer mehr und wurde im 19. und 20. Jahrhundert zum „Armenhaus“ von Europa, der Vorteil der Allianz war also einseitig; Portugal hatte die Rolle der Vorhut im heraufziehenden Kolonialismus gespielt, und der Pionier war Heinrich „der Seefahrer“ (1394 bis 1460), der Großmeister des Christus-Ordens; sein erklärtes Ziel war die Vollendung der Reconquista durch die Eroberung des „Heiligen Landes“; er gründete die erste Seefahrtsschule der Welt, und seine Schiffe erkundeten den Seeweg nach Indien um den riesigen Kontinent Afrika herum; 1487 gelang es Bartolomeo Diaz, das „Kap der Guten Hoffnung“ zu umsegeln, und Vasco da Gama erreichte elf Jahre später das sagenumwobene Indien. Aber die Früchte erntete England, das im Jahr 1600 die „Ostindische Handelsgesellschaft“ gründete und 1620 die Portugiesen aus dem persischen Ormuz vertrieb, „einem der wichtigsten Stützpunkte des zerbröckelnden (portugiesischen) Imperiums“, von wo der traditionelle Indienhandel der Araber zerstört worden war. „Etwa von diesem Zeitpunkt ab gab es kein portugiesisches Imperium mehr“, schreibt Armando und zitiert Oliveira Matins: „Es war im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts, als das portugisiesche Imperium zerfiel.“
Trotzdem wurde am 23. Juni 1661 ein neues Bündnis zwischen England und Portugal geschlossen, das „in ganz unerwarteter Weise“ unter der Regie des französischen „Sonnenkönigs“ Ludwig XIV. zustande kam. Der Vertrag enthielt „eine Klausel, in der die Heirat zwischen dem Stuart Charles II. von England mit der Infantin Katharina von Portugal, der Tochter Johanns IV., vereinbart wurde. Als Mitgift brachte sie zwei Millionen Cruzados, die Stadt Tanger sowie die Insel und den Hafen von Bombay in die Ehe. Das beweist, dass, „wenn auch der Ertrag aus dem asiatischen Besitz ausserordentlich zurückgegangen war, die Ausbeutung Brasiliens genug einbrachte, um nicht nur das portugiesische Volk während des langen Unabhängigkeitskrieges (mit Spanien) zu ernähren, den Krieg mit teuren ausländischen Söldnern zu führen und sich dann noch solche gewaltigen Extraausgaben wie diese Mitgift leisten zu können.“
Eine „Iberische Union“ unter der Führung von Spanien konnte England nicht dulden, und deswegen musste Portugal als Brückenkopf dienen, auch wenn es dabei verarmte. Der Ausverkauf dieses Landes durch seine eigenen Herrscher ist aber nicht etwa auf deren Dummheit zurückzuführen, sondern auf das „übernationale Interesse“ seiner maßgebenden Männer, die zu jener Zeit schon die Vorläufer der „Freimaurer“ waren, welche sich selbst als die Nachfolger der Templer begreifen. Das vorhin erwähnte Brasilien war übrigens der einzige Staat Lateinamerikas, der sich kampflos von seinem „Mutterland“ löste, und das kam so: während die Truppen des Kaisers Napoleon auf der iberischen Halbinsel wüteten, hatte sich das portugiesische Königshaus nach Brasilien geflüchtet; und „dort hatte Prinz Pedro (der Sohn und designierte Nachfolger des Königs von Portugal Ferdinand VI.) es verstanden, seine Stellung als Regent der Kolonie geschickt zu festigen, indem er das sich immer stärker regende Verlangen der Brasilianer nach Unabhängigkeit und Selbständigkeit unterstützte und anfeuerte. 1821 schrieb er an seinen Vater (der im selben Jahr nach Portugal zurückgekehrt war), es sei unmöglich, dass Brasilien, ein unabhängiger und reicher Staat ersten Ranges, von einem Staat vierten Ranges, wie dem hilfsbedürftigen und abhängigen Portugal, regiert werden könne.“ Am 12. Oktober 1822 ließ er sich zum Kaiser von Brasilien ausrufen, „und die Portugiesen mussten sich mit der Tatsache abfinden, ihre reichste Kolonie verloren zu haben. König Johann bestätigte das mit der offiziellen Anerkennung Brasiliens in seiner Kategorie als unabhängiges Kaiserreich, das nun von den Königreichen Portugal und der Algarves getrennt war.“
Unter der Überschrift „Das Ende des spanisch-portugiesi-schen Kolonialreiches“ heisst es im „dtv-Weltatlas zur Geschichte von Hermann Kinder und Werner Hilgemann, München 1966: „Geistige Mutter der Revolution ist die aufklärerische Freimaurerbewegung. Gegründet von dem Venezolaner Francisco de Miranda (1754-1816) verbreiten sich die Freimaurerlogen über den Kontinent.“ Von Napoleon geschwächt konnten sich die Spanier der Rebellion nicht erwehren, zumal sich der US-Präsident James Monroe in seiner 1821 verkündeten Doktrin gegen die Interventionsversuche der so genannten „Heiligen Allianz“ unter dem Motto „Amerika den Amerikanern“ verwahrte. Die genannte Allianz war nach dem Sturz Napoleons 1815 von Alexander I., dem Zar von Russland, gegründet worden, und sämtliche Monarchen Europas waren ihr beigetreten, auch der 1814 aus dem Exil in Verona nach Frankreich zurückgekehrte Bourbone, der als Ludwig der XVIII. König von Frankreich wurde.
Von Miguel, dem jüngeren Bruder des Pedro, welcher die Zeichen der Zeit erkannt und sich zum Kaiser des „unabhängigen“ Brasilien gemacht hatte, hören wir bei Armando: „Die Königin von Portugal, eine Schwester des Königs Ferdinand VII. von Spanien, hatte sich geweigert, auf die Verfassung von 1822 den Eid zu leisten. Sie hatte großen Einfluss auf ihren Sohn, den Infanten Miguel, und begeisterte ihn für die Aufrechterhaltung der traditionellen Ideen, die er verteidigen sollte. Umgeben von zuverlässigen Anhängern seiner Mutter erfuhr er, dass die gegenrevolutionäre Partei im Lande immer stärker wurde, denn in allen Klassen herrschte wachsende Unzufriedenheit, im angefeindeten Klerus, in dem geächteten und missachteten Adel, im Volk, das sich in seinen Erwartungen getäuscht fühlte, und im Heer, wo die Regierung ständig mit dem Sold im Rückstand war.“
Die Verfassung von 1822 „gestand dem König nur eine repräsentative Rolle zu“, und Johann VI., der Vater von Pedro und Miguel, hatte am 1. Oktober 1821 „mit dem größten Vergnügen und von ganzem Herzen“ den Eid auf sie geleistet, während „der Infant Miguel, der sich weigerte, den Eid auf diese Verfassung zu leisten, als Absolutist verdächtigt und auf ein Landgut bei Lissabon verbannt wurde.“ Nachdem „ein französisches Heer von 100 000 Mann unter dem Herzog von Angoulème in Durchführung der Dekrete der Heiligen Allianz in Spanien eingefallen war, die Regierung verjagt und König Ferdinand VII. in der gewünschten Form als absoluten Monarchen bestätigt hatte“, entfachten die Aufständischen in Portugal unter der Führung von Miguel den Kampf gegen die „liberale“ Regierung und waren zunächst erfolgreich. Nach Armando hatte Miguel seine „apostolische Gegenrevolution“ unter dem Motto der „Ausrottung der teuflischen Rasse der Freimaurer“ geführt, und das brachte ihn um den Sieg. Nach seiner ersten Niederlage gab er jedoch noch nicht auf, und erneuerte seinen Kampf im April 1824, „um, wie er sagte, die pestartige Bande der Freimaurer zu vernichten.“ Seinen schwankenden Vater hatte er mit dem Einverständnis seiner Mutter, der Königin „im Palast von Bemposta eingeschlossen, angeblich um ihn von dem Druck zu befreien, den die Liberalen auf ihn ausübten“, und dann kam es „zu dem einzig dastehenden Falles eines gewaltsamen Eingriffes der in Portugal akkreditierten ausländischen Diplomaten in die portugiesische Innenpolitik“, und Miguel musste sich ins Exil nach Wien, das zu dieser Zeit von Metternich beherrscht wurde, begeben.
Und nun kommt eine interessante Geschichte: nachdem König Johann im März 1826 gestorben war, blieb der portugiesische Thron unbesetzt, was Pedro, den Kaiser von Brasilien, dazu veranlasste, nach Portugal zurückzukehren, um den Verlauf der Dinge in seine Hände zu nehmen; er setzte eine etwas weniger radikale Verfassung in Kraft und „dankte als König von Portugal zugunsten seiner siebenjährigen Tochter Maria de Gloria ab, die ihren Onkel, den Infanten Miguel, heiraten sollte, sobald dieser den Eid auf die von Pedro erlassene Verfassungsurkunde geleistet hätte.“ Doch „am 26. Juli rief die Garnison von Braganza den (noch im Exil in Wien verweilenden) Infanten Miguel zum König aus“, und wenig später folgten diesem Beispiel zahlreiche andere Garnisonen. „Schon schien das Schicksal von Pedros Verfassungsurkunde besiegelt, da baten die Regentin von Lissabon, Isabella Maria, und Kaiser Pedro die englische Regierung um Hilfe. London schickte die Division von Clinton nach Portugal, und in kurzer Zeit waren die Absolutisten besiegt. Unterdessen beschwor Miguel in Wien auf Verlangen des Führers der Heiligen Allianz (gemeint ist Metternich) die Verfassungsurkunde Pedros, heiratete die siebenjährige Prinzessin Maria de Gloria, seine Nichte (in deren Abwesenheit), und nahm den Rang als Stellvertreter seines Bruders Pedro an. Auf Befehl Metternichs war der Infant in Wien wie ein Gefangener von allen Beziehungen zu Portugal und zu Portugiesen abgeschnitten gewesen, denn er sollte nichts anderes als ein gefügiges Werkzeug in der Hand des großen Drahtziehers der reaktikonären europäischen Politik sein.“
Wenn Metternich wirklich die „Restauration“ als Ziel gehabt hätte, wie es übereinstimmend in allen Geschichtsbüchern steht, dann hätte er Miguel, der in Portugal sehr beliebt war, nicht isolieren und einsperren müssen; aber dieser portugiesische Thronprätendent hatte einen entscheidenden Fehler, er wollte oder konnte nicht einsehen, dass es die Freimaurer sein sollten, denen er sich unterwerfen musste, um an die Regierung zu kommen. Die Regierung von London stand seinerzeit längst unter deren Kontrolle, sie hatten ihre Agenten in den verschiedenen Parteien, und auch international waren die führenden Posten von ihnen besetzt; Metternich und Pedro müssen ihnen angehört haben, was sich aus ihrem Verhalten ergibt, denn die Mitgliedschaft war und ist ja geheim, und wenn sie herauskommt, ist es entweder einer Panne in der Geheimhaltung zu danken oder Absicht, um sich mit einer berühmten Persönlichkeit schmücken zu können (wie in den Fällen von Göthe, Mozart und Hahnemann). Die „Restauration“ diente nicht wirklich der Wiederherstellung der früheren Verhältnisse, sie war als eine Atempause gedacht, um die gewaltigen Veränderungen, die in Europa durch die Französische Revolution und ihres „Bändigers“ Napoleon eingetreten waren, zu stabilisieren, der „Code civile“ ist ja die Grundlage sämtlicher Bürgerlichen Gesetzbücher geworden, und auf dieser Basis erwuchs der schrankenlose Kapitalismus mit der Industrialisierung in seinem Gefolge während der „Restauration“.
Miguel konnte 1828 aus der Gefangenschaft Metternichs entkommen und wurde bei seiner Ankunft in Lissabon begeistert empfangen. „Am ersten Tag schon hörte er, was man von ihm erwartete und verlangte: Befreiung von der Verfassungsurkunde, von der unerträglichen Vormundschaft der Engländer und von der ganzen liberalen Sippschaft.“ Am 3. Mai wurde er unter dem Namen Miguel I. von den Cortes zum König ausgerufen und „sein Eid auf seinen Bruder Pedro und die Verfassung für null und nichtig erklärt“ (dieser war ihm ja abgepresst worden), und auch die Heirat mit dessen Tochter, seiner Nichte, wies er zurück. Von dieser ist bei Armando zu hören: „Die Prinzessin Maria de Gloria war von ihrem Vater nach England geschickt worden, wo sie ihre Erziehung bis zur Aufnahme der Ehe mit ihrem Onkel Miguel vollenden sollte, der die ihr zustehenden Rechte als Herrscherin von Portugal an sich gerissen hatte.“ Pedro I. von Brasilien kehrte im April 1831 als Pedro IV. in seine alte Heimat zurück, nachdem er seinen Kaiserthron zugunsten seines fünfjährigen Sohnes Pedro II. von Brasilien abgegeben hatte, und mit reichlich Kriegsmaterial und Truppen versehen schlug er seinen Bruder vernichtend. „Alle, die für Miguel gekämpft hatten, verloren Besitz und Anstellung, nur Berufssoldaten konnten im Dienst bleiben, wenn sie das liberale Regime anerkannten. Miguel, einst Liebling des Volkes, wurde ausser Landes gewiesen, das ihm angebotene Jahresgeld lehnte er ab.“ Wohin er ging und wie er endete, erfahren wir leider nicht.
Wie ein Löwe hat er gekämpft, war aber der Übermacht seiner Gegner, zu denen sich zuletzt auch Frankreich gesellte, nicht gewachsen; Greueltaten wurden begangen (von welcher Art verschweigt der Autor) und ihm unterschoben, sodass er bei seinem Weggang, „von dem selben Volk, das ihn einmal als Befreier begrüßt hatte, verhöhnt, ausgepfiffen und mit Steinen beworfen wurde“. Das ist die Wirkung der Demagogie, die verstärkt wurde durch die Macht der Bankiers: „Miguel brauchte Geld, aber niemand in Europa wollte sein ‚Blutregime’ durch Gewährung einer Anleihe stärken. Er musste zu Zwangsanleihen mit neuen Steuern Zuflucht nehmen, was die Stimmung im Lande weiter verschlechterte.“ -- „Die von ihm verschmähte Tochter Pedros, die Prinzessin Maria de Gloria, wurde nun als Maria II. regierende Königin von Portugal. Sie war vorher durch ein besonderes Gesetz als volljährig erklärt worden. Als erster überreichte ihr Lord Russel sein Beglaubigungsschreiben als Gesandter Englands. Unter Maria II. trat Portugal 1834 als Mitglied dem Viererbund mit England, Frankreich und Spanien bei. Hiermit sollte das Ende der Gegenrevolution auf der Pyrenäen-Halbinsel besiegelt sein.“


Eine der unheimlichsten Gestalten der so genannten Neuzeit ist Oliver Cromwell, und in der von Roger Howell verfassten Biografie, deutsche Erstausgabe München 1981, ist in der Einleitung zu lesen: „Oliver Cromwells Leistungen waren sehr groß: Er veränderte den Gang der britischen Geschichte; niemals mehr konnten königlicher Absolutismus und religiöse Intoleranz unangefochten ihr Haupt erheben.“ Howell, der seinen Helden bei der Differenzierung, zu der er sich als Historiker verpflichtet fühlt, mit allen nur erdenklichen Gründen verteidigt, lobt mehrfach dessen Einsatz für die „Gewissensfreiheit“ – was aber versteht Cromwell darunter? „Der Staat bekümmert sich nicht um die Überzeugungen derer, die er in seinen Dienst wählt, wenn sie bereit sind, treue Dienste zu leisten, genügt das“ – so sagt er selbst. Und in einem Brief an seinen Vetter Robert Hammond schreibt er: „Ich beteure Dir, ich wünsche mir von ganzem Herzen, ich habe darum gebetet, ich habe auf den Tag gewartet, um Einverständnis zwischen den gottesfürchtigen Männern zu sehen, Schotten, Engländern, Juden, Heiden, Presbyterianern, Wiedertäufern und allen.“
Howell schreibt: „In einer unverblümten Erklärung ließ er erkennen, wie weit er seiner Zeit in puncto religiöser Toleranz voraus war“ -- und zitiert ihn: „Ich wollte lieber, der Mohammedanismus würde bei uns geduldet, als dass eines der Kinder Gottes Verfolgung leidet.“ Und weiter schreibt Howell: „Eine solche Haltung trat für minimale Einmischung in das private Gewissen der Bürger ein, solange dieses Gewissen die Funktionsfähigkeit des Staates nicht beeinträchtigte.“ Damit trifft er den Punkt, denn wo die Staatsraison zur Debatte steht, hören wir einen ganz anderen Cromwell: „Wahrlich, Euer großer Feind ist der Spanier. Er ist es wirklich, er ist ein natürlicher Feind. Er ist es von Natur aus, durch und durch, wegen jener Feindschaft, die in ihm ist gegen alles, was von Gott ist. Ihn gelüstet es nach Eurem Herzblut, wirklich und wahrhaftig.“ Und an den Gouverneur von Ross in Irland schrieb er: „Was das, was Ihr wegen der Gewissensfreiheit sagt, anbelangt, so mische ich mich nicht in Gewissensangelegenheiten anderer. Aber wenn Ihr unter Gewissensfreiheit die Freiheit, Messen zu lesen, versteht, so halte ich es für das Beste, ganz offen zu sein und Euch zu sagen: Wo das Parlament von England Herr ist, wird dies nicht gestattet werden.“
Und er belässt es nicht dabei, den Katholizismus in Irland zu verbieten, er ist auch verantwortlich für das Massaker in Drogheda am elften September 1649, wo Howell zufolge drei- bis viertausend Männer umgebracht wurden, darunter alle gefangen genommenen katholischen Priester. Cromwell kommentiert das Geschehen mit den Worten: „Ich bin überzeugt, dass dies ein gerechtes Gericht Gottes über diese barbarischen Schufte ist, die ihre Hände mit so viel unschuldigem Blut befleckt haben’.“ – „Die Lektion wiederholte sich am elften Oktober in Wexford, die Niederwerfung der Stadt verlief genauso blutig wie in Drogheda, doch verlief sie auf deutlich andere Weise. In Drogheda hatte Cromwell den Entschluss zur Abschlachtung in der Hitze des Gefechts gefällt; in Wexford scheint seine im allgemeinen gut disziplinierte Truppe buchstäblich Amok gelaufen zu sein, ohne dass Anstalten getroffen worden wären, sie zurückzuhalten. Fast zweitausend Soldaten, Priester und Zivilisten wurden getötet.“
Das ideologische Klima für diese Massenmorde hatte Cromwell mit den Worten geschaffen: „Lieber möchte ich von Kavaliersinteressen überrannt werden als von schottischen Interessen; lieber möchte ich von schottischen Interessen überrannt werden als von irischen; von allen halte ich diese für die gefährlichsten – die ganze Welt kennt ihre Barbarei“. Das bezieht sich auf den irischen Aufstand von 1641 gegen die skrupel- und gnadenlose englische Unterwerfung der Insel, von dem Howell schreibt: „Obwohl es keine Beweise dafür gibt, dass ein gezieltes Massaker an Engländern stattgefunden hat, nahm man in England die Wahrheit der Behauptungen fraglos an, und die Zahl der Opfer von mehr als 200 000 wurde weithin akzeptiert. Besonders wurde die Barbarei der Iren betont; wie ein Zeitgenosse bemerkte, waren jene, die massakriert wurden, ‚menschliche Opfer des Aberglaubens’, und es verbreiteten sich Greuelgeschichten, dass Kinder vor den Augen ihrer Eltern erschlagen, Menschen geröstet und gegessen, Frauen geschändet und dann getötet worden waren. Es wurde behauptet, dass hinter all diesen Dingen die verräterischen und teuflischen Machenschaften der katholischen Geistlichkeit stünden.“
In einer Rede vor dem von ihm einberufenen Parlament versteigt sich Cromwell als frisch gebackener „Lord-Protector“ in entlarvender Weise: „Gentlemen, Ihr habt Euch hier versammelt zu dem bedeutendsten Ereignis, das England, so glaube ich, jemals gesehen hat. Ruht doch auf Euren Schultern das Interesse von drei großen Nationen mit den zu ihnen gehörenden Gebieten; ja, ich glaube, ich darf es ohne jede Übertreibung sagen, Ihr tragt auf Euren Schultern das Interesse des ganzen Christenvolkes auf Erden.“ Dass von den „drei großen Nationen“ zwei unterworfen waren, nämlich die Schotten und die Iren, scheint ihn nicht gestört zu haben, und mit dem „ganzen Christenvolk auf Erden“ umschreibt er den Anspruch Englands auf die Beherrschung der Welt. Die Berufsarmee, die Kriegsflotte und der äusserst effiziente Geheimdienst waren sein Werk, er schuf auch den Begriff „Commonwealth“, auf deutsch das „Allgemeinwohl“, welches die geknechteten Völker in den Kolonien nur als Zynismus verstehen konnten.
„Man kann mit Cromwell kaum über irgend etwas reden, ohne dass er die Hand auf die Brust legt, die Augen gen Himmel richtet und Gott zum Zeugen anruft; er wird weinen, heulen und bedauern, selbst wenn er Euch gleichzeitig unter die kurze Rippe stößt“. „Er ist ein geborener Heuchler und führt das Leben eines Schurken. Er weiss seine Absichten besser zu färben als das Chamäleon und wird seine angebliche Unschuld vor Eurem Angesicht rechtfertigen, im Stillen jedoch Ränke schmieden, um Euch zu vernichten“ – so zitiert Howell die Stimmen seiner Gegner, um ihn aber gleich wieder in Schutz zu nehmen. In Bezug auf die irische Frage ist zu lesen: „Cromwells Behauptung, dass er nicht zuletzt auf einer Zivilisierungsmission begriffen sei, ist nur allzu häufig als krasseste Heuchelei abgetan worden; es gibt jedoch mehr als nur einen Hinbweis, dass er diese Behauptung mit völlig reinem Gewissen aufstellte.“ Und das, obwohl ein paar Seiten zuvor steht: „Cromwell betonte weiterhin, dass die englische Invasion von dem Wunsch herrühre, begangene Übel zu rächen und die Iren der Segnungen des gottesfürchtigen englischen Lebenswandels teilhaftig werden zu lassen, nicht aber von der Absicht, sich irischen Boden anzueignen. – Die Iren haben seit langem Anlass gehabt, Cromwells Erklärung für heuchlerisch anzusehen. Dies ist kaum überrschend angesichts der Tatsache, dass praktisch seit dem Ausbruch der Feindseligkeiten von 1641 in England Geldmittel für die Unterwerfung Irlands beschafft worden waren, für die man als Garantie irischen Boden verpfändete.“ Und nach dem Sieg wurden die Iren dann auch tatsächlich in Massen enteignet.
Trotz all seiner Bemühungen um die Würdigung der Verdienste von Cromwell gelingt es Howell nicht, seine Ehre zu retten und ihn von dem Makel der Heuchelei zu befreien, die Tatsachen sprechen eine zu deutliche Sprache. Und noch ein anderes Fänomen ist zu erwähnen, das zu gut bezeugt ist, als dass es hätte wegretuschiert werden können, und das die Abscheu bestätigt, die ich vor diesem Mann empfand, seit ich zum ersten Mal von ihm hörte, obwohl es mir bis zur Lektüre des Buches von Howell unbekannt war. In Bezug auf die Entscheidungsschlacht von Naseby in dem Bürgerkrieg zwischen „Parlamentarieren“ und „Royalisten“ ist zu lesen: „Cromwell war nicht im Zweifel, wie die Schlacht ausgehen werde. Mehrere Quellen geben zu verstehen, dass ihn eine gehobene Stimmung überkam, als die Schlacht näher rückte. Einer der Augenzeugen erinnerte sich, dass Cromwell kurz vor der Schlacht einen ‚Lachkrampf’ erlitt, ein Umstand, der zumindest einen Cromwell-Biografen zu dem Hinweis veranlasst hat, Cromwell habe sich damals in einer Art manischem Zustand befunden.“ Und dann zitiert er den Sieger: „Ich kann von Naseby Folgendes berichten: Als ich sah, wie der Feind sich aufstellte und in prächtiger Ordnung auf uns zu marschierte, und wir, eine Schar armer, unwissender Männer, uns mühten, Ordnung in unsere Reihen zu bringen, während ich, vom General beauftragt, die ganze Reiterei zu führen hatte, da musste ich, allein in meinem Dienst umherreitend, auflachen zu Gott, mit Lobpreisungen, des Sieges gewiss, weil Gott durch etwas, was noch nicht war, etwas, das war, zunichte machen würde; dessen hatte ich große Gewissheit, und Gott tat es auch.“
Alle Augenblicke führt dieser Mann Gott und die Vorsehung im Mund, und bei Bedarf schreckt er auch nicht davor zurück, zu behaupten, dass er auserwählt sei, das Reich Jesu Christi auf Erden zu gründen. Seine Siegesgewissheit dürfte aber eher als von seinem triefend gespielten Glauben von der erfolgreichen Einschleusung eigener Leute in die feindlichen Reihen verursacht worden sein; und anders ist es auch nicht zu erklären, dass in mehreren Kämpfen die Kundschafter seiner Gegner so unbedarft waren, dass sie ihre eigenen Leute in falscher Sicherheit wiegten und ein Überraschungsangriff gelang. Der „Lachkrampf“ dürfte also ein Hohngelächter gewesen sein, und er wiederholte sich in anderen Situationen, so bei dem Schauprozess, der zur öffentlichen Hinrichtung des Königs Karl I. am 30. Januar 1649 geführt hat. „Als Karl am Samstag, den 27. Januar, in das Gebäude gebracht wurde, um die Urteilsverkündigung zu vernehmen, bat er um die Erlaubnis, vor den Lords und Gemeinen sprechen zu dürfen. John Downes, Abgeordneter für Arundel, versuchte, das Wort zu ergreifen, um diese seiner Meinung nach vernünftige Bitte zu unterstützen. Er wurde von Cromwell unterbrochen, und als sich das Gericht in einen Nebenraum zurückzog, um Downes anzuhören, trat Cromwell ihm ‚mit großer Heftigkeit’ entgegen und fegte seine Argumente zugunsten des Königs beiseite. Die Berichte deuten in der Tat darauf hin, dass er wieder einmal von jener rasenden Heiterkeit mitgerissen wurde, die ihn bei mehr als einer Gelegenheit vor einer Schlacht ergriff. Es wird berichtet, dass er bei dem Wortwechsel mit Downes lachte, grinste und Witze machte, während Oberst Ewer die bizarre Geschichte erzählt, dass Cromwell und Henry Marton einander die Gesichter mit Tinte bespritzten wie Schuljungen, nachdem sie den Vollstreckungsbefehl unterzeichnet hatten.“
Ein weiteres Beispiel ist sein Verhalten während der den zweiten Bürgerkrieg entscheidenden Schlacht bei Dunbar im September 1650. Ein Augenzeuge berichtet: „Er lachte so übermäßig, als ob er betrunken wäre, und seine Augen funkelten vor Begeisterung.“ Howell fügt hinzu: „Charakteristischerweise schrieb er anschließend Gott den Erfolg zu. Dunbar war, so schrieb er, ‚eine der sichtbarsten Gnaden, die Gott in diesem Krieg an England und an Seinem Volk getan hat’“. Und noch ein anderer Aspekt der politischen Strategie des „Herrn Beschützers“ (das ist die wörtliche Übersetzung seines Titels „Lord-Protector“) ist zu erwägen. Seit dem Jahr 1290 war England „judenrein“, und kein Jude hatte seither dieses Land mehr betreten. „Cromwells Motive dafür, die Rückkehr der Juden anzustreben, hingen nicht allein mit der Toleranz oder mit einer vagen Hoffnung auf die Bekehrung der Juden zusammen. In einem sehr praktischen Sinn leuchteten ihm die Möglichkeiten ein, die das Netz der jüdischen Handelsverbindungen sowohl für die Tätigkeit seines Nachrichtensystems als auch für die wirtschaftliche Entwicklung Englands in sich bergen musste. – Und es gelang ihm, eine de-facto-Wiederzulassung der Juden zu erreichen.“ Er gedachte sie also, für seine Zwecke zu funktionalisieren, und tatsächlich war es zur Erringung der Weltherrschaft unumgänglich, die „jüdische Frage“ in den Griff zu bekommen.
Als im Jahr 1717 die erste Freimaurer-Loge das Licht der Welt erblickte, wie man so schön sagt, da war es England, wo diese Geburt sich ereignete. Die Logenbrüder sind aber nicht vom Himmel gefallen, sie müssen vor der offiziellen Konstitution ihres Klubs Vorreiter gehabt haben, und als einen ihrer Väter sehe ich den „Herrn Beschützer“. Im 18. und 19. Jahrhundert sind die Begriffe „Aufklärer“ und „Liberale“ Synonyme für die Freimaurer, und einige ihrer Grundmerkmale sind schon in dem Regime von Cromwell zu finden, so die „Toleranz“, die den Glauben zur Privatsache erklärt. In die Logen wurden (und werden) Männer der unterschiedlichsten Bekenntnisse aufgenommen, sofern sie sich als geeignet erwiesen, der gemeinsamen Sache zu dienen. Und die Losung von Cromwell „In geistlichen Dingen suchen wir keinen anderen Zwang als den des Lichts und der Vernunft“ ist geradezu paradigmatisch für die so genannte Aufklärung, die das Werk von Freimaurern war mit Voltaire an der Spitze. Die schlechten Erfahrungen, die Cromwell mit dem Parlament gemacht hat – dreimal hat er es einberufen und wieder entlassen, obwohl die Mitglieder zuvor sorgsam ausgewählt wurden – bestätigten die Macher in ihrer Auffassung, eine Organisation ausserhalb der Öffentlichkeit zu erschaffen, und ihre Erklärung, sie hätten dies tun müssen, weil sie von der Reaktion verfolgt worden seien, ist eine Lüge, da diese im Gründungsland Großbritannien längst jede Macht verloren hatte. Das Parlament durfte als äussere Einrichtung bestehen bleiben, und für das Volk wurde (und wird) das Theater der Parteien gespielt, aber die Entscheidungen fielen und fallen woanders.
Im 17. Jahrhundert war es noch unmöglich, einen atheistischen Staat zu begründen, und deswegen spielte Cromwell die Rolle des auserwählten Werkzeugs der göttlichen Vorsehung, wobei er mit skrupellosen Mitteln vorging, die seine vorgetäuschte Überzeugung völlig unglaubhaft machen. Ein Beispiel dafür ist sein Vorgehen gegen die Meuterer in seiner eigenen Armee, die sich „Leveller“ nannten (auf deutsch „Gleichmacher“) und die Teilnahme auch der einfachen Leute an den Entscheidungen der Mächtigen zu ihrem Ziel gemacht hatten. „Wenn Cromwell sich über manche Dinge unschlüssig war, so war er in anderen seiner Sache sicher, ganz besonders, was die Gefahr betraf, die von den Levellern auf dem linken Flügel ausging. Knapp ein Vierteljahr vorher hatte er noch an Hammond geschrieben, dass man die Leveller nicht zu fürchten brauchte. Aber der wachsende Widerstand dieser Gruppe gegen das Regime, als sie erkannten, dass die Vorstellungen der ‚Vereinbarung mit dem Volk’ nicht verwirklicht werden würden, hatte sie zu Feinden gemacht, die man im Zaum halten musste. Einige der Hauptanführer der Leveller, unter ihnen John Lilburne und Richard Overton, wurden festgenommen und vor den Staatsrat gebracht, mit der Begründung, der Traktat der Leveller ‚Englands Ketten’ sei aufrührerisch. Comwell schlug mit der Faust auf den Tisch und rief aus: ‚ Ich sage, Euch, Sir, Ihr habt keine andere Wahl, mit diesen Männern fertigzuwerden als sie zu zerbrechen, oder sie werden Euch zerbrechen; ja, sie werden die ganze Schuld an allem Blut und allem Reichtum, die in diesem Königreich vergossen und vertan wurden, über Eure Köpfe und Schultern bringen und alle Eure Arbeit zunichte machen und vereiteln, die Ihr in so vielen Jahren voller Fleiss, Mühe und Schmerzen getan habt; und sie werden Euch vor allen vernünftigen Menschen der Welt hinstellen als das verächtlichste Geschlecht alberner, kleinmütiger Leute unter der Sonne, das von einem so erbärmlichen, verächtlichen Gezücht, wie es jene sind, zerbrochen und zerstört wird. – Ich sage Euch noch einmal, Ihr seid gezwungen, sie zu zerbrechen.’“
Der blumigen Rede folgte die Tat, und „es stellte sich heraus, dass die Hauptgefahr der verschiedenen Erhebungen relativ leicht zu beseitigen war; die einzige wirkliche Bedrohung stellten Thompsons Meuterer dar, die von Banburry aus nach Süden marschierten, um sich mit den Soldaten in Salisbury zu vereinigen. Anscheinend entschloss sich Cromwell zunächst dazu, mit ihnen zu verhandeln, und schickte Major White mit einer Botschaft zu ihnen, er und Fairfax würden ‚ihnen nicht mit Waffengewalt auf den Fersen folgen’. Dann besann er sich anscheinend kurz entschlossen anders und fiel nach einem bemerkenswerten Nachtmarsch von 45 Meilen Länge mitten in der Nacht über die verdutzten Meuterer in Burford. Ein kurzer, verworrener und aussichtsloser Kampf folgte, dann war die Meuterei vorbei.“ Man muss entweder blind sein oder sich blind stellen wie der Autor (der hier zweimal das Wort „anscheinend“ verwendet), um zu verkennen, dass Cromwell seine ehemaligen Gefährten aus der von ihm selbst aufgebauten „disziplinierten und gottesfürchtigen Armee“, die dem Major White offensichtlich vertrauten, auf die hinterlistigste Weise in die Irre geführt hat.
Auch an dieser Stelle kann man sich leicht vorstellen, wie das krampfartige Hohngelächter den Leib des „Beschützers“ durchschüttelt. Der tiefere Grund für sein teuflisches Lachen ist darin zu sehen, dass er wie die Assassinen vor ihm und die Freimaurer nach ihm seine wahren Absichten geheim hielt und die Dummheit der von ihm Genasführten seine Verachtung erzeugen musste, die sich auf diese Weise entlud. Und auch darüber, dass Howell ihm den Einsatz für die „Gewissensfreiheit“ so hoch anrechnet, hätte er wohl gelacht. Hierzu noch das Folgende: „Der zweite wichtige Anhänger, den Cromwell auf seine Seite zog, bevor er nach Irland aufbrach, kam einem anderen Zug seines Charakters zugute, jenem Zug, der die irische Expedition als einen heiligen Kreuzzug ansah. Das war der Prediger John Owen. Die beiden begegneten sich im Hause von Fairfax, wo Owen eine glühende anti-katholische Predigt hielt; kurz darauf forderte Cromwell ihn auf, die Expedition nach Irland mitzumachen. Owen bezeugte ‚die tägliche geistliche Ermunterung und Unterstützung’, die er von Cromwell erfuhr; es kann wenig Zweifel daran bestehen, dass Cromwell seinerseits eine ständige Unterstützung in seiner Überzeugung erfuhr, dass er das Werk Gottes vollbringe, wenn er die Katholiken in Irland vernichte.“ Von diesem Mitstreiter hören wir dann: „ Im Februar 1652 legte ein Komitee unter dem Vorsitz John Owens, des ehemaligen Militärgeistlichen Cromwells in Irland, der jetzt durch Cromwells Fürsprache Vizekanzler in Oxford war, dem Parlament einen Plan zur Lösung der Kirchenfrage vor. – Owens Plan forderte eine nationale Kirchenregelung mit begrenzter Duldung religiöser Dissidenten. Zwei Arten von Kirchenbeauftragten sollten eingeführt werden: ‚Prüfer’, die als örtliches Komitee fungierten, um die Tauglichkeit von Kandidaten zu überwachen, die als Prediger zugelassen werden wollten, und ‚Vertreiber’, umherziehende nationale Beauftragte, die ungeeignete Geistliche und Lehrer zu entfernen hatten.“ Obwohl der „tolerante“ Cromwell sich zuerst scheinbar gegen die Initiative von Owen ausspricht, hören wir dann: „Er (Cromwell) war besonders erfreut über die nach seiner Meinung verbesserte Beschaffenheit des Klerus, wie er vor dem Parlament 1658 erklärte: ‚Ihr habt jetzt eine gottesfürchtige Geistlichkeit; Ihr habt eine kundige Geistlichkeit, und zwar, ohne Eitelkeit sei es gesagt, eine solche, wie sie die Welt nicht kennt.’ Dies war das Ergebnis der gewissenhaften Arbeit der ‚Prüfer’ und ‚Vertreiber’, die sich von Qualifikationen, die nur auf dem Papier standen, nicht täuschen ließen, sondern in jedem Menschen den Beweis für die Gnade Gottes suchten.“
Wie kann ein Professor der Geschichte und Präsident des „Bowdoin College“ in den USA so etwas schreiben? Glaubt er im Ernst, man könnte die Gnade Gottes in jedem Menschen zum Gegenstand einer Prüfung machen und diesen Gesinnungsterror rechtfertigen? Oder macht er sich lustig über seine Leser, von denen er zu anzunehmen scheint, sie würden ihm einen solch haarsträubenden Unfug abkaufen? Dann allerdings könnte er zusammen mit seinem Helden die Dummheit des Publikums, und zwar auch des hochgelehrten, grinsend verachten – doch wird es sich noch herausstellen müssen, wer zuletzt lacht.

Der „Geschichte Irlands“ von Jürgen Elvert, München 1993, ist zu entnehmen, dass das Massaker von Drogheda, das von Cromwell als göttliches Strafgericht an den „irischen Barbaren“ proklamiert wurde, einen ganz anderen Hintergrund hatte als den, wie er von Howell in Übereinstimmung mit seinem Helden hingestellt wurde. Dort wird der Eindruck erweckt, als sei das Gemetzel an irischen Aufständischen vollzogen worden, in Wirklichkeit galt es aber der Garnison, die eine englische, und nicht eine irische war, in jener Stadt: „Seither standen dort etwa 2600 schlecht bewaffnete und nur unzureichend versorgte Soldaten unter dem Kommando des englisch-katholischen Royalisten Arthur Ashton. Diese sahen sich Anfang September des Jahres mit einem 10 000-Mann-Belagerungs-heer konfrontiert, das zudem nach den neuesten Erkenntnissen der Waffentechnik ausgerüstet war. Dennoch wiegerten sie sich, die Stadt kampflos zu übergeben. Dafür mussten die Belagerten einen hohen Blutzoll entrichten. Am Nachmittag des 11. September hatten die Truppen Cromwells die Stadtmauern sturmreif geschossen und waren in die Stadt eingedrungen. Cromwell selbst hatte die strikte Anweisung erteilt, den Soldaten der Garnison kein Pardon zu gewähren. Nach einem mehrstündigen Gemetzel waren daher bis auf jene, denen die Flucht gelang, nur noch einige Dutzend Angehörige der ehemaligen Garnisonstruppen am Leben, die den Rest ihres Lebens als Sklaven auf Barbados fristen mussten. Doch nicht nur die Soldaten zählten zu den Betroffenen des ‚furor Cromwellicus’. Unzählige Zivilisten, die sich stets der Dubliner Herrschaft (die eine englische und keine irische war) verpflichtet gefühlt hatten, fielen der ‚marvellous great mercy’, der ‚ungeheuren und unfassbaren Gnade’ des Eroberers zum Opfer. Cromwell selbst rechtfertigte dieses Vorgehen mit zwei Gründen: der eine sei die gerechte Rache für die Mas-saker von 1641 – dabei waren die mehrheitlich neuenglisch-protestantischen Bewohner Droghedas mit Sicherheit nicht an der Rebellion beteiligt gewesen – der andere der Generalpräventiv, der helfen sollte, künftiges Blutvergießen zu vermeiden.“
Cromwell hat also in vollem Bewusstsein gelogen, was er sich leisten konnte, da seine „gottesfürchtigen“ Milizen über die irischen Verhältnisse genaus schlecht informiert waren wie die englische Öffentlichkeit. Was aber die „Barbarei“ der irschen „Ureinwohner“ betrifft, so stammt dieses Präjudiz aus der Zeit vor seinem Wirken – und was ich schon länger vermutet habe, nämlich dass die „Grüne Insel“ ein Exerzierfeld war für die Unterwerfung anderer Völker, finde ich bei Elvert bestätigt: „Seit einigen Jahren sind besonders von der irischen Historiografie verblüffende Parallelen im Vergleich der Kolonisation Nordamerikas mit der Durchdringung Irlands jenseits der Grenzen des Pale (das ist das Gebiet um Dublin) seit der elisabethanischen Zeit festgestellt worden. Abgesehen von personellen Überschneidungen, viele der englischen Kolonisatoren in Nordamerika hatten zuvor erste Erfahrungen in Irland gesammelt und konnten diese dann in Nordamerika umsetzen, vergleichbaren Motiven bei der Mehrzahl der Frontiers, individuelle Aussicht auf Profit durch Ausbeutung der erschlossenen Ländereien verbunden mit der Hoffnung auf Entdeckung bislang nicht ausgebeuteter Bodenschätze, sowie der Erwartungshaltung der Krone, die mit der Erweiterung des eigenen Herrschaftsbereiches eine Sicherung wichtiger Rohstoffzufuhren nach England verband, erstaunt auch die große Deckungsgleichheit bei der Einschätzung der nordamerikanischen Indianer und der irischen ‚Ureinwohner’ durch die Neuankömmlinge, grundsätzlich wurden beide Zielgruppen als heidnische oder quasi-heidnische Barbaren gesehen.“ Und weiter: „Damit war der Einsatz von Militär dann bereits genauso gerechtfertigt wie Vertragsbrüchigkeit – schließlich geschah der Vertragsbruch letzten Endes zugunsten der Betrogenen, die auf diese Weise direkt zivilisiert werden konnten.“

Wer Schwierigkeiten damit hat, sich vorzustellen, dass Menschen so dreist lügen können wie der „Herr Beschützer“ es tat, der braucht bloß an George W. Bush zu denken, welcher ganz genau wusste, dass der Irak über keine Massenvernichtungswaffen verfügte, und der auch keinen Widerspruch darin sieht, den „wiedergeborenen Christen“ zu mimen und gleichzeitig ein Mitglied im „Skull-and-Bones-Club“ zu sein – oder an die Päpste und ihre Büttel, die sich des unvorstellbar grausamen Instrumentes der Inquisition bedienten und gleichzeitig die „Heilige Messe“ zu zelebrieren vermochten.

(Vorbemerkung: „Die Wiedergabe japanischer Begriffe erfolgt nach dem modifizierten Hepburn-System. Personennamen erscheinen in der Folge Familienname, Vorname.“ Was das „Hepburn-System“ ist, wird nicht erklärt, aber offenbar handelt es sich dabei um die englische Transskription der japanischen Eigennamen, sodass also y als i, sh als sch, ch als tsch, j als dsch undsoweiter zu lesen ist.)

Gleichmäßig wie Wellen plätschern die Szenen vom Kampf um die Macht, Mord und Verrat, Unterdrückung und Aufstand dahin in der „Geschichte Japans“ von Kiyoshi Inoue (deutsche Ausgabe Frankfurt 1993) – so wie es mehr oder weniger überall war, wo die Menschen nicht nur sesshaft geworden waren, sondern auch die gemeinsame Bebauung des Bodens zugunsten einer Spaltung zwischen Beherrschten und Herrschenden aufgaben, worum dann trefflich gestritten werden konnte. Das änderte sich, als in der Mitte des 19. Jahrhunderts die „fortgeschrittenen“ Nationen in Gestalt der Europäer in die Geschicke des Landes eingriffen. Von 1641 bis 1854 hatte sich Japan von der restlichen Welt abgeschirmt, allerdings nicht total, denn die Holländer hatten diese ganze Zeit hindurch ihren Fuß in der Tür, sie unterhielten einen Stützpunkt auf Deshima, und es gab auch eine „holländische Schule“ in Japan, in der westliches Denken gepflegt worden ist, was ich vor der Lektüre des genannten Buches nicht wusste. Der „Freundschaftsvertrag“ zwischen Japan und den USA von 1854 und der Handelsvertrag zwischen Japan und den USA, Russland, Holland, Frankreich und England von 1858 markieren die Wende in der Geschichte des Inselreiches, und von da an wird diese verwirrend und undurchsichtig. Mehrmals musste ich den Text lesen, um einigermaßen zu kapieren, was es mit der „Sonno-Joi-Partei“ (die manchmal auch nur „Joi-Partei“ genannt wird, wobei die Bedeutung leider nicht übersetzt wird) auf sich hatte, und im folgenden versuche ich, dies so gut wie möglich zu reproduzieren.
Die „Öffnung“ Japans war mit der durch militärische Angriffe verbundenen Drohung eines Krieges erzwungen worden, wobei die eingreifenden Mächte auf das abschreckende Beispiel von China hinweisen konnten, das sie der Regierung von Japan vor Augen hielten. Der erste Widerstand gegen die Zwangsmaßnahmen des Westens wurde gewaltsam gebrochen, doch war er damit noch lang nicht erloschen. „Die Angehörigen der progressiven Partei, die aus den Schichten der Samurai, der Grundbesitzer und Händler stammten, begannen sich unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen Herrschaftsgebieten, also über die Grenzen der Lehensgebiete hinweg, zu einer gleichgesinnten Gruppe zusammenzuschließen und in die die höchsten Ämter der Regierung vorzurücken. Die Angehörigen dieser Partei, die eine politische Reform beabsichtigte, nannten sich Shishi (auch dieses Wort wird nicht übersetzt). – Der Slogan ihrer Bewegung war ‚Verehrt den Kaiser, vertreibt die Barbaren’.“ Sie gaben dem „Bakufu“ (das ist die alte und zu dieser Zeit noch herrschende Regierung) die Schuld an der Misere, und zu einem Teil dieser Revolte wurde die „Sonno-Joi-Partei“. „Takasugi Shinsaku war 1861 nach Shanghai gereist und hatte dort erlebt, wie die Engländer und Franzosen die Chinesen behandelten. Er fasste den Entschluss, dass Japan vor diesem Schicksal bewahrt werden müsste, wusste aber zu gut, dass sich die Chinesen durch ihre ‚Engstirnigkeit’ selbst zerstört hatten, und dass es für Japan unbedingt notwendig sei, von der ‚sich ständig erneuernden Wissenschaft des Auslands’ zu lernen. Als er nach Japan zurückkehrte, wurde er der Führer der Joi-Partei in Choshu und ließ Ende des Jahres 1862 die englische Gesandtschaft in Edo in Brand setzen. Über den eigentlichen Zweck dieses Anschlags sagte später einer der Führer dieser Partei, nämlich Katsuro Shogoro aus. In erster Linie sollte das Bakufu, das sich dem Ausland unterworfen hatte, in Schwierigkeiten gebracht werden. Kusako Genzui, ein Freund Takasugis, musste zwar die Notwendigkeit des Aussenhandels zugeben, aber er war dagegen, dass dieser unter der Kontrolle des Bakufu abgewickelt werde. In diesem Punkt unterschieden sie sich grundlegend von der Partei, die die Vertreibung der Ausländer forderte, um das Bakufu zu erhalten.“
Das heisst mit anderen Worten, dass die zur Debatte stehende Partei ein doppelzüngiges Spiel trieb und unter der Losung der „Vertreibung der Barbaren“ einen Systemwechsel anstrebte. Im nächsten Satz schreibt Kyoshi: „In den Jahren nach der Öffnung der Häfen ereigneten sich viele Übergriffe der Joi-Partei gegen Angehörige der ausländischen Gesandtschaften und auch gegen japanische Kaufleute, die für die Preissteigerung und die Krise der japanischen Wirtschaft verantwortlich gemacht wurden“ – was im Widerspruch steht zu der „Einsicht in die Notwendigkeit des Aussenhandels“. Aber es kommt noch viel toller. „Nicht mehr Edo (das spätere Tokyo), sondern Kyoto war nun das politische Zentrum der Sonno-Joi-Partei, die durch den Hofadeligen Sanjo Sanetomi den Hof überreden konnte, dem Bakufu zu befehlen, nach Ablauf einer bestimmten Frist die Häfen zu schließen und die Ausländer zu vertreiben. Die Loyalisten suchten aber auch die Unterstützung des Volkes, indem sie auf Anschlägen und Handzetteln die Schuld an den schwierigen Lebensverhältnissen den Ausländern und dem Bakufu, das diese eingelassen habe, zuschob. Sie unternahmen Terroraktionen gegen Beamte des Bakufu und gegen mit dem Aussenhandel beauftragte Händler, um den Feinden ihre Entschlossenheit zu demonstrieren und das Volk für ihre Sache zu gewinnen.“
Mit dem neu eingeführten Begriff „Loyalisten“, den er nicht erklärt, kann der Autor nur die Anhänger der Joi-Partei meinen, wie aus dem Kontext hervorgeht, wem gegenüber sie jedoch loyal waren, bleibt zunächst rätselhaft; auf jeden Fall hatten sie Agenten im Regierungsapparat wie den Hofadeligen Sanjo. Die Darstellung Kyoshis, die bis dahin relativ klar und nachvollziehbar ist, wird an dieser Stelle eindeutig falsch, denn der Hof und an seiner Spitze der Tenno (das ist der Kaiser) verfügte, wie aus dem Text klar hervorgeht, bereits seit dem japanischen Altertum über keinerlei politischen Einfluss mehr und hatte nur repräsentative Aufgaben wahrzunehmen, weshalb er auch dem Bakufu nichts befehlen, sondern höchstens dessen Anordnungen absegnen konnte. Hören wir aber weiter: „Das Bakufu antwortete dem Hof, dass es am 25. Juni 1863 Maßnahmen zur Vertreibung der Ausländer ergreifen werde. An diesem Tag beschoss die Sonno-Joi-Partei, die ihr Hauptquartier in Choshu hatte, von dort aus amerikanische Schiffe, die die Landzunge von Shomonoseki passierten, danach auch französische und holländische Schiffe, um ihre Entschlossenheit zu demonstrieren. Als am 20. Juli die französische Flotte einen Vergeltungsschlag führte, brach die ganze Verteidigung von Choshu zusammen.“
Es ist nicht einsichtig, wie Kyoto das politische Zentrum und Choshu das Hauptquartier der Joi-Partei genannt werden können, doch wird erkennbar, dass die Beschießung der ausländischen Schiffe eine von jener Partei eigenmächtig durchgeführte Aktion gewesen sein muss, denn sonst hätte sie nicht an demselben Tag beginnen können, an dem der Beschluss des Bakufu bekannt gemacht wurde. Das alte Regime hatte sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die Eingriffe der Ausländer gewehrt und sich zuletzt der nackten Gewalt beugen müssen, und so war es nichts als Verleumdung, wenn ihm die Schuld an der eingetretenen Lage gegeben wurde.
Vermutlich war dem Hof vorgemacht worden, dass es nun genügend starke Kräfte im Land geben würde, um das erzwungene Joch abzuschütteln, falls es denn wahr ist, was der Autor dazu mitteilt. Nach dem Sieg der französischen Flotte „bedrängten die Loyalisten den Tenno, ein neues Heer aufzustellen, um das Bakufu zu stürzen und eine neue Regierung unter ihrer Führung einzurichten, die in der Lage sei, die Ausländer aus dem Lande zu treiben“. Und obwohl sie dem Tenno versprochen hatten, ihm die reale Macht wiederzugeben, traute er ihnen nicht. „Zwar hasste er die Ausländer leidenschaftlich, fürchtete aber, dass die Loyalisten die feudalistische Ordnung zerstören könnten, und kollaborierte insgeheim mit dem Bakufu. Das Bakufu schlug am 30. September zuerst zu und vertrieb die Sonno-Joi-Partei aus Kyoto. Sanjo Sanetomi und sieben weitere Hofadelige mussten in Choshu Zuflucht suchen.“
Die Agenten der Joi-Partei waren also enttarnt worden, und die Handlungsweise des Tenno ist verständlich, denn immerhin waren er und sein Hof vom Bakufu seit vielen Jahrhunderten gut ernährt worden, was aber „die Loyalisten“ mit ihm vorhatten, wusste er nicht. Die gleichzeitige Kennzeichung zweier Städte als „Zentrum“ und als „Hauptquartier“ derselben Partei könnte die Verwirrung des Autors widerspiegeln wegen der undurchsichtigen Rolle resultiert, welche diese Partei gespielt hat, und es ist zu vermuten, dass nach ihrer Vertreibung aus Kyoto, der Residenzstadt des Tenno, dann tatsächlich Choshu die Stellung einnahm, die Kiyoshi ihr voreilig zuschrieb. Von den Ereignissen in der folgenden Zeit ist zu lesen: „Die Führer der Sonno-Joi-Partei, die sich in Choshu versammelt hatten, waren zu schnellem Handeln gezwungen. Im Juli 1864 brachen sie mit einem Heer nach Kyoto auf und griffen am 20. August den Palast des Kaisers an, wurden aber geschlagen. Nach diesem Kampf wurden Choshu und die Sonno-Joi-Partei nach den Regeln der feudalistischen Standesordnung als Empörer gegen den Kaiser verurteilt. Der Tenno befahl dem Bakufu, unverzüglich Choshu zu unterwerfen. Aber schon am 5. September bedrohte eine unter dem Oberkommando eines englischen Admirals stehende Flotte der Engländer, Franzosen, Holländer und Amerikaner, bestehend aus 17 Schiffen und einem mehr als fünftausend Mann starken Expeditionskorps, Shimonoseki. Choshu versuchte, indem es die Sicherheit des Schiffsweges vor Shimonoseki garantierte, einen Kampf zu vermeiden. Die Flotte eröffnete aber den Angriff und hatte schnell die ganze Landzunge besetzt. Choshu war gezwungen, einem Friedensvertrag zuzustimmen, der drei Artikel enthielt. Erstens sollten die ausländischen Schiffe beim Passieren der Meerenge bevorzugt abgefertigt werden; zweitens war sämtliche Artillerie von der Landzunge abzuziehen; drittens müsste, ‚da die Stadt Shimonseki eigentlich ganz hätte abbrennen müssen, aber zum Teil verschont geblieben ist’, eine Belohnung gezahlt und den Alliierten die Kosten des Krieges erstattet werden. Der dritte Artikel nennt die stark übertriebene Summe von drei Millionen Dollar, die allerdings das Bakufu zahlen musste, weil es angeblich Choshu befohlen hatte, gegen die Ausländer vorzugehen.“
Das Verwirrspiel ist meines Erachtens nur durch die Annahme lösbar, dass die Joi-Partei insgeheim und von Anfang an mit den Ausländern gemeinsame Sache gemacht hat, was aus dem Resultat des Komplottes hervorgeht: „Die Alliierten wussten von vornherein, dass das Bakufu nicht in der Lage war, diese Summe zu zahlen. Sie spekulierten mit den Vorteilen, die sie sich sichern könnten, wenn sie einer Herabsetzung dieser Summe zustimmten. Das Bakufu zahlte bis zum Mai 1866 1,5 Millionen Dollar und erbat sich für den Rest einen Aufschub. Die Alliierten gingen auf diesen Vorschalg scheinbar ein, verlangten aber bereits im Juli desselben Jahres, dass gegen Erlass der Restsumme die in den Ansei-Verträgen für den 1. 1. 1868 vereinbarte Öffnung der Häfen Kobe und Osaka vorzeitig erfolgen sollte. Ferner wurde die Zollsteuer umgeändert in eine Mengensteuer, deren Grundlage ohne Ausnahme fünf Prozent des Warenwertes betragen sollte. Nach einer ‚Abänderung der Steuerabmachung’ sollte in der Zollbehörde des Hafens von Yokohama je ein Vertreter von England, Frankreich, Amerika und Holland als ‚Assistent’ tätig sein. Um diese Bedingungen durchzusetzen, konzentrierten die Alliierten wieder eine Flotte vor dem Hafen von Kobe, sodass der Hof und das Bakufu keine Einwände erheben konnten. Mit diesen Zollabmachungen geriet Japan als quasi-kolonisiertes Land unter die Kontrolle der alliierten Mächte. Es war des Rechtes beraubt, den eigenen Interessen entsprechende Zölle festzusetzen, und hatte auch später keine Möglichkeit, diesen für die eigene Industrie zu tief angesetzten Zollsatz zu korrigieren. Das Zolldiktat sicherte den Alliierten die Kontrolle über die japanische Wirtschaft.“
Dass das Bakufu diesen Schlag ohne jede Gegenwehr hinnahm, kam daher, dass die Joi-Partei im ganzen Land Aufstände gegen es entfacht hatte, denn das Heer, das sie von Choshu aus gegen Kyoto in Bewegung gesetzt hatten, war nur ein sehr kleines gewesen und mehr dazu gedacht, den Bruch endgültig zu machen. Der Autor schreibt: „Jetzt erst begriff diese Partei, dass nicht der Sturz des Bakufu zum Zwecke der Vertreibung der Ausländer, sondern der Sturz des Bakufu allein ihre wichtigste Aufgabe war, in dem Augenblick, in dem das Bakufu unterstützt vom Tenno, alles daran setzte, sie zu vernichten. Das hatte zur Folge, dass sie auch ihre Ansichten über die Notwendigkeit, das Land abzuschließen und die Ausländer zu vertreiben, revidieren mussten.“ Das ist natürlich das Pferd vom Schwanz aufgezäumt und dient der Verschleierung der wirklichen Zwecke, wie das oben angeführte Zitat von der „Einsicht in die Notwendigkeit des Aussenhandels“ schon zu einem viel früheren Zeitpunkt beweist. Und erhärtet wird der Verdacht auf das falsche Spiel dieser Leute noch dadurch, dass Saigo Takamori, der die Truppe der Joi-Partei bei deren Angriff auf Kyoto niedergeschlagen hatte, die Seite wechselte und zur „Anti-Bakufu-Partei“ überlief; des weiteren dadurch, dass diese Partei „jetzt mit allen Mitteln Unterstützung bei den Engländern suchte“, was nichts anderes heisst, als dass sie das, was sie zuvor heimlich getan hatte, nunmehr ganz offen betrieb.
Das Volk von Japan wurde durch falsche Versprechungen betört, von denen das wirksamste war, „dass die Jahresabgaben auf die Hälfte reduziert würden, wenn erst einmal die Macht des Tenno wiederhergestellt sei“. Von diesem ist zu lesen: „Im Januar 1867 starb Komei-Tenno, der die Anti-Bakufu-Partei stets unterdrückt hatte. Sein Nachfolger wurde der vierzehneinhalbjährige Meji-Tenno, der nicht in der Lage war, politische Entscheidungen zu treffen. Es besteht der Verdacht, dass Komei-Tenno von der Anti-Bakufu-Partei vergiftet wurde. Durch den Tod des Komei-Tenno änderte sich die politische Einstellung des Hofes jedenfalls zugunsten der Anti-Bakufu-Partei, die dem Tenno die Chiffre ‚Perle’ gab und versuchte, da sie aus dem Scheitern ihrer Bewegung im September des Jahres 1863 Lehren gezogen hatte, sich des Einflusses auf den Tenno zu versichern. Sie überzeugte den Hofadel, der auf ihrer Seite stand, den Tenno zu einem Geheimbefehl zu veranlassen, der die Daimyo (das sind „größere Territorialherren aus dem Stand des Schwertadels“) von Choshu und Satsuma beauftragte, das Bakufu abzusetzen.“
Damit verschafften sie sich den Anschein der Legalität beim Wechsel des Systems, der aber trotzdem nur durch die Gewalt der Waffen und in einem Bügerkrieg möglich wurde. Ein obskurer Vorfall war den „Loyalisten“ dabei sehr hilfreich: „In der zweiten Hälfte des November (1867) brach unvermittelt im Kyoto-Gebiet, in Tokaido, in Edo, auch in Kofu und in Tokumisha ein Tumult aus, veranlasst durch Zettelamulette des Ise-Jingu und anderer Schreine, die wie Flugblätter vom Himmel fielen und denen Glück bringen sollten, die sie aufhoben. Das Volk rief ‚ee ja nai ka, ee ja nai ka (in einer Fußnote mit „Alles ist gut so“ oder „Was soll’s“ übersetzt) und andere Worte, die weder an ein Lied erinnerten noch eine bestimmte Bedeutung hatten, und tanzte Tag und Nacht wie besessen auf den Straßen. Es gibt keinen Beweis dafür, dass die Anti-Bakufu-Partei diesen Tumult inszeniert hat, aber der Tumult kam ihr sehr zu Hilfe, indem er für einen Monat in den politisch wichtigen Gebieten Kyoto-Osaka, Edo-Yokohama und Nagoya die Aktionsfähigkeit des Heeres und der Polizei des Bakufu lähmte. Während dieser Zeit konnten die Vorbereitungen für den Coup d’Etat abgeschlossen werden. Das Bakufu war am Ende seiner Macht.“
Wie es möglich war, eine solche Massenhysterie einen ganzen Monat lang aufrechtzuerhalten, wird nicht erklärt, doch liegt der Schluss nahe, dass die künftigen Machthaber auch Agenten unter den Priestern des Schintoismus, der nachher zur Staatsreligion erklärt wurde, im Einsatz hatten, die es verstanden, das desorientierte Volk zu hypnotisieren. Das böse Erwachen kam nach dem Sturz der alten Regierung: „Die neue Regierung und auch der englische Gesandte, der sie beriet, fürchteten nichts mehr als einen Volksaufstand. Als der Bürgerkrieg begann, organisierte die Bevölkerung von Tosando bis in das Gebiet von Kanto Aufstände mit dem Ziel, eine bessere Gesellschaft zu schaffen, vertrieb die Beamten des Bakufu und kämpfte gegen die Grundbesitzer und die Geldverleiher. Das Volk war für die neue Regierung nicht nur zu Bakufu-feindlich, sondern auch zu aufrüherisch.“ Die Konsequenz daraus war die Entmachtung und Entwaffnung des Volkes, um den Maßnahmen-Katalog durchzusetzen, den sich die neue Regierung zum Ziel gesetzt hatte. Dazu gehörte als erstes die willfährige Erfüllung der dem Bakufu-Regime aufgezwungenen „ungleichen Verträge: „Am 3. Februar 1868 teilte die neue Regierung den ausländischen Mächten mit, dass sie die von diesen mit dem Bakufu abgeschlossenen Verträge respektieren werde, und erklärte allen Parteien im Lande die Notwendigkeit eines friedlichen Verhältnisses zum Ausland. Diese Haltung entäuschte viele Hofadelige, Samurai (das ist der „Schwertadel“) und Gelehrte der nationalen Schule und provozierte deren Opposition.“
Zur Ausschaltung dieser Gegner musste sich die neue Regierung noch für eine Weile der Mitwirkung des Volkes bedienen, um es aber danach um die Früchte des Sieges zu bringen: „Die Regierung des Tenno (gemeint ist der Meji-Tenno, nach dem der Staatsstreich auch als ‚Meji-Restau-ration’ bezeichnet wird) warb um das Volk, solange es darum ging, das Bakufu zu stürzen oder gegen die der neuen Regierung Widerstand leistenden Daimyo vorzugehen, indem sie versprach, das System der Unterdrückung zu beseitigen oder die Jahresabgaben auf die Hälfte zu reduzieren. Nach Erreichen ihres Zieles vergaß sie ihre Versprechen.“ Sie hat sie natürlich nicht vergessen, sondern niemals zu halten gedacht, und als Beispiele für das skrupellose Doppelspiel der neuen Machthaber zeigen die im folgenden wiedergegebenen Fälle, dass diese Leute auch schon vor der Ergreifung der Macht keine ehrlichen gewesen sein können, denn so schnell ändert sich niemand. „So bildete z.B. Sagaro Sozo eine aus Bauern bestehende Truppe, die als Vorhut des Heeres der neuen Regierung operierte und in allen Dörfern des Tosando die Herabsetzung der Jahresabgaben befahl, somit die Bevölkerung dieser Gebiete zu Verbündeten der neuen Regierung machte und dafür sorgte, dass angesichts dieser Bewegung kleinere Lehensgebiete der Regierung Loyalität schworen. Die neue Regierung setzte zunächst diese Truppe ein, als aber die Gebiete westlich vom Kinki zu ihrem Machtbereich gehörten, verkündete sie, dass diese Truppe keinen offiziellen Auftrag habe, sondern sich ungesetzlicher, eigennütziger Mittel bediente. Sie ließ die Einheiten von den Daimyo in Shinshu gefangennehmen und ihre Führer hinrichten, weil sie fürchtete, dass diese aus Bauern bestehende Truppe mehr als erwünscht das Volk für sich gewinnen und dadurch eine eigene Macht aufbauen könnte.“ Die Daimyo hatten sie also auch schon zerspalten.
„Ein anderes Beispiel: die neue Regierung unterstützte den Aufstand der Inselbewohner von Oki gegen Matsue, der für die Verwaltung der Insel, als sie noch zu den Ländereien des Bakufu gehörte, verantwortlich war, solange Matsue gegenüber der neuen Regierung keine eindeutig positive Stellung einnahm. Als aber Matsue der neuen Regierung Gefolgschaft leistete, veranlasste sie ihn, den Aufstand der Bewohner von Oki niederzuschlagen. Als Echigo, Dewa und Mutsu der neuen Regierung die Gefolgschaft versagten und an der Zuverlässigkeit von Matsue wieder Zweifel laut wurden, war es für die neue Regierung nicht ratsam, die Insel Oki, wichtig für den Schiffsverkehr zwischen Kyoto, Echigo, Dewa und Mutsu, der Kontrolle von Matsue zu überlassen. Die neue Regierung kritisierte die grausame Politik von Matuse gegenüber den Bewohnern der Insel (die sie zuvor selbst befohlen hatte), überstellte die Insel der Verwaltung von Tottori und räumte den Bewohnern das Recht auf Selbstverwaltung ein. Als der Bürgerkrieg beendet war, nahm die neue Regierung dem Gebiet wieder das Recht der Selbstverwaltung und ließ zwei Jahre später ihre Führer unter dem Vorwand, sie hätten sich gegen Matsue aufgelehnt, hinrichten.“
Als sich das neue Regime genügend gesichert fühlte, führte es nach dem westlichen Vorbild die allgemeine Schul- und Wehrpflicht ein und machte das Land zu einem straff zentralistisch organisierten Poizeistaat. Im Jahr 1873 übernahm Okubu die Führung der Regierung und behauptete, „dass die Regierung die Bürger, die wie Kinder seien, durch die Polizei im Zaum halten, d.h. beschützen müsse, und rechtfertigte so alle Maßnahmen, die das Volk bis in sein Privatleben hinein unter die Aufsicht der Polizei stellte.“ Als ideologischer Überbau diente der neu eingeführte Kaiser-Kult, von dem wir hören: „Als die Macht des Tenno-Systems restauriert wurde, wusste der größte Teil des Volkes nicht, wer und was der Tenno eigentlich war. Im April 1868 musste der Generalgouverneur von Kyushu, um dem Volk die Existenz des Tenno zu erklären, seine Rede mit folgenden Worten beginnen: ‚In unserem Land gibt es einen Himmelssohn, der seinen Herrschaftsauftrag direkt von der Sonnengöttin Amaterasu erhalten hat’. Als im März 1869 das Volk von Mutsu und Dewa einen großangelegten Aufstand organisierte, versuchte die Regierung das Volk wie folgt zu belehren: ‚Der Himmelssohn ist ein Nachkomme der Göttin Amaterasu’“ undsoweiter. Das Volk wusste deshalb nichts von einem Tenno, weil es seit urdenklichen Zeiten nichts mehr mit ihm zu tun gehabt hatte, der Kaiser vegetierte mit seinem Hof machtlos in seinen abgeschlossenen Palästen und wurde nur zu dem Zweck der Legitimierung der jeweils herrschenden Adelsclique gegenüber konkurrierenden Sippen gehalten. Aber wenn er geglaubt hätte, dass mit der „Meji-Restauration“ seine Wiedergeburt zu einem wirklichen Herrscher gekommen sei, so hätte er sich getäuscht, denn wiederum war er nur eine Puppe: „Der Tenno verfügte nach dem Rechtssystem (der neuen Regierung) über absolute Macht, die aber de facto von Zivil- und Militärbeamten im Namen des Tenno ausgeübt wurde. Der Tenno rechtfertigte lediglich diese Herrschaft, d.h. seine religiöse Autorität war bei weitem größer als seine weltliche Macht.“
Die „neue Regierung“ war nicht bloß eine neue Regierung und die „Restauration“ keine Wiederherstellung eines früheren Zustands, sondern der tiefste Einschnitt in der Geschichte des Landes. Die Identität von Japan wurde zerstört und durch die „Modernisierung von oben“ von einer künstlich aufgepropften ersetzt. Ein Ausdruck dafür war die Entwertung der in der Tradition des Volkes verwurzelten Feste und ihre Ersetzung durch neue, die im Zusammenhang mit dem pseudoreligiösen Staatskult um den Tenno standen, z.B. des Kaisers Geburtstag. Ein anderer war die Steuer- und Bodenreform, die Bauern hatten seit jeher ihre Abgaben in Naturalien entrichtet, und die Höhe schwankte mit dem Ernteertrag, jetzt aber mussten sie in Geld bezahlt werden, und zwar unabhängig vom Ernteertrag. „Da der Wert des Bodens von oben, von Beamten festgesetzt wurde, galt jeder Bauer, der diesen Wert nicht akzeptierte, als Feind des Hofes.“ Und hinzu kam noch dies: „Bisher waren die Jahresabgaben vom ganzen Dorf entrichtet worden, die Dorfgemeinschaft war auch für die verantwortlich, die ihre Abgaben nicht entrichten konnten. Nun hatte der Grundeigentümer die Grundsteuer zu entrichten und war allein haftbar. – Die Garantie des Eigentums an Grund und Boden bedeutete auch eine Annexion von Land, das vorher das Volk nutzte. Öffentlich genutztes Land, Forst und Brachflächen, an dem das Volk sein Eigentum nicht nachweisen konnte, wurden verstaatlicht, ebenso Gemeinschaftsland, das ein Dorf oder mehrere Dörfer genutzt hatten. Damit wurde jeder, der sich Unterholz nahm, als Dieb staatlichen Eigentums belangt. – Die von der Regierung erhobene Grundsteuer und der von den Grundbesitzern eingezogene Pachtzins, der 60 bis 70 Prozent der Ernte betrug, waren die wichtigsten Quellen der Kapitalakkumulation des japanischen Kapitalismus. Aus den armen Bauern, die durch die Erhebung der Grund-steuer überstürzt in die Geldwirtschaft einbezogen wurden und dadurch wirtschaftlich scheiterten, rekrutierten sich die neuen Lohnarbeiter der kapitalistischen Wirtschaft.“
Die Volksaufstände gegen die neue Regierung erreichten ein Ausmaß wie nie zuvor unter dem alten Regime und wurden mit aller Brutalität unterdrückt. Als Ersatzbefriedigung für das gedemütigte Volk wurde die Idee eines „Großjapanischen Reiches“ mit der entsprechend aggressiven Aussenpolitik eingeführt, die sich aber nicht gegen die westlichen Staaten richtete, sondern gegen die von diesen geschwächten asiatischen Nachbarn. Als die Chinesen vorschlugen, mit Japan ein Bündnis zu schließen, „um sich gegen das Eindringen der westlichen Länder zu wehren, lehnte die japanische Regierung dieses Angebot ab. Schließlich hatte ja im April 1870 der Staatsrat Okuba Toshimichi, als England und Frankreich erneut in China einfielen, dem Minister Iwakura vorgeschlagen, die Heere beider Länder mit Proviant und Heizmaterial zu versorgen und ihnen jede Hilfe zu gewähren, die Japan nur bieten könne, ‚als Ausdruck der Redlichkeit dem Ausland gegenüber’, und die Regierung handelte in diesem Sinne.“
Der Autor zieht als Fazit den Schluss: „Der Übergang der japanischen Gesellschaft vom feudalistischen System zum Kapitalismus wurde beschleunigt. Aufgrund dieses historischen Fortschritts konnte Japan die Gefahr, von den West-mächten kolonisiert zu werden, abwenden. Hier liegt die eigentliche, wirklich fortschrittliche Bedeutung der Meji-Restauration, die sie über alle anderen Veränderungen der japanischen Gesellschaft stellt.“ Dieses Urteil ist äusserlich gesehen zwar richtig, aber in Wirklichkeit ersparte die neue Regierung den Westmächten die Mühen und Kosten der Kolonisierung, die zu jener Zeit schon gewaltig gestiegen waren, denn die Niederwerfung der Aufstände in Persien, Indien und China verschlangen immense Summen an Menschen- und Kriegsmaterial. Und von daher kam es der kapitalistischen Staatengemeinschaft mehr als gelegen, dass sich in Japan Leute fanden, die sich an der Unterwerfung der Welt unter ein einheitliches System beteiligen wollten. Zur Belohnung wurde das Land in den privilegierten Kreis der imperialistischen Mächte aufgenommen und der Aufbau einer Militärmaschinerie unterstützt.
Der Regierungs-Chef Okubu „wagte im Juli 1874, obwohl er vorher immer betont hatte, dass innenpolitische Probleme den Vorrang hätten vor einem Krieg, aufgrund eines seit einem Jahr festgelegten Planes den Einfall in Taiwan, gegen den China heftig protestierte. Okubu reiste, um diesen Konflikt zu lösen, als Bevollmächtigter nach Peking und erreichte, dass die Regierung der Qing (Dsching) Japans Einfall in Taiwan als ‚ehrenhaften Akt zum Schutz des Vokes’ betrachtete.“ Das ist der reinste Zynismus, und Okubu hätte sich einen so üblen Scherz nie erlaubt, wenn er die Westmächte nicht hinter sich gewusst hätte. Das wird bestätigt von der Aussage: „Auch Korea gegenüber nahm die Okubu-Regierung eine aggressive Haltung ein. Als Okubu sich in Peking aufhielt, um die Qing-Regierung wegen des Einfalls in Taiwan zu beschwichtigen, versuchte ihn der dort residierende englische Botschafter zu überreden, in Korea einzufallen, und sicherte ihm die Hilfe Englands zu.“
Da es unvermeidlich war, dass mit dem westlichen Einfluss auch die Idee einer „parlamentarischen Volksvertretung“ Eingang in Japan fand, wurden Parteien gegründet, unter denen die „Liberale Partei“ und die „Fortschrittspartie“ die bedeutendsten waren. Das japanische Volk war jedoch noch nicht reif für eine „Demokratie“, d.h. noch nicht genügend saturiert und domestiziert, und deshalb musste „der Kampf um die Bürgerrechte“ scheitern, zumal in einigen Kreisen gefährliche Vorstellungen entwickelt wurden. „Die revolutionären Bürgerrechtler, die gegen die despotische Herrschaft im eigenen Lande kämpften, waren dem Ausland gegenüber leidenschaftliche Verfechter der Selbständigkeit ihres Volkes, und in diesem Sinn auch Kämpfer für die Autonomie Japans. Sie vertraten aber nicht chauvinistische Tendenzen, sondern waren der Überzeugung, dass Japan, Korea und China gemeinsam gegen die Unterdrückung durch Europa und Amerika kämpfen sollten. Deshalb kritisierten sie die Regierung, die sich diesen Mächten unterworfen habe, aber den benachbarten Ländern gegenüber eine aggressive Politik vertrete. Ueki Emori veröffentlichte 1875 einen Artikel, in dem er die Japaner kritisierte, die, statt sich mit den Ländern Ostasiens, die eine Familie seien, gegen Europa und Amerika zu verbünden, einen Einfall in Korea planten und sich wie Dummköpfe benähmen, die nicht wüssten, was die ‚Existenz einer Familie’ bedeute. Als 1876 die Regierung den König von Ryukyu (das ist die Inselgruppe zwischen Japan und Taiwan) zwang, sich Japan zu unterwerfen und die Beziehungen zum Qing-Reich abzubrechen, kritisierte eine Zeitung der Bürgerrechtsbewegung, dass man den Wunsch der Unabhängigkeit der Ryukyu respektieren müsse, dass gerade der Respekt vor einem schwachen Land das richtige Mittel sei, wenn Japan sich von der Bevormundung Europas und Amerikas befreien wolle.“
Die „Bürgerrechtsbewegung“ wurde von ihren eigenen Führern verraten, und nach der blutigen Unterdrückung einiger unkoordinierter lokalen Aufstände, die von Unterführern geleitet wurden, löste sich die „Liberale Partei“ selber auf, „mit der Begründung, dass unter dem immer stärker werdenden Druck der Regierung ein freies politisches Handeln nicht mehr möglich sei.“ Das war 1884, und vier Jahre später „gründete Goto Shojiro mit Mitgliedern der ehemaligen Liberalen Partei und der Fortschrittspartei die ‚große Vereinigung aller liberalen Kräfte’, die keine revolutionären, demokratischen, nicht einmal reformistische Ziele verfolgte, sonder nur eine Bewegung von Politikern war, die durch die zwei Jahre später stattfindenden Wahlen andie Macht kommen wollten. Goto übernahm, als die Regierung ihn dazu aufforderte, ohne Skrupel im März 1889 das Verkehrsministerium. Die ‚Große Vereinigung aller liberalen Kräfte’, die gegen die despotische Regierung hätte kämpfen müssen, wurde zu einer großen Vereinigung ehrgeiziger Politiker.“
Die neue Verfassung, „wenn es auch nur eine Scheinverfassung war, sicherte den Bürgern das Recht zu, wenn auch in äusserst begrenztem Maße, an der Regierung teilzunehmen.“ Aber für alle Fälle hatte man schon Jahre zuvor dafür gesorgt, dass das Militär ausserhalb der Kontrolle der Regierung stand: „Zuerst wurde 1874 für das Heeresministerium festgelegt, dass der ‚Heeresminister aus dem Kreis der Offiziere zu bestimmen’ sei. Bis zu dieser Zeit gehörten die Militärverwaltung und der Oberbefehl zu den Befugnissen der Regierung, im Dezember 1878 aber wurde ein Generalstab gegründet, der direkt dem Tenno unterstand. Er übte den Oberbefehl aus, war für Militärgerichtsbarkeit zuständig und jeder Einmischung seitens der Regierung entzogen.“ Im übrigen baute man auf den wohltätigen Einfluss der Erziehung in den staatlichen Schulen, von der Inoue Kaoru gesagt hatte: „Dem Volk müsse die Freiheit garantiert werden, statt der traditionellen die abendländische Naturwissenschaft zu studieren, ohne solche grundlegenden Reformen sei das Volk unmöglich zu beherrschen.“ Von demselben Mann ist zu erfahren, dass er in Choshu den Aufstand der „Samurai niederen Ranges, die Opfer des neuen Systems geworden waren“. niederwarf: „Als Choshu zwischen 1869 und 1870 sein Sonderkommando und seine Truppen auflöste, empörten sich die Soldaten gegen die Regierung, die sie in vielen Schlachen eingesetzt hatte, sie aber nun ohne befriedigende Abfindung entließ. Sie schlugen sich auf die Seite der Bauern, die eine Herabsetzung der Lasten und Abgaben forderten. Choshu war nicht in der Lage, den Aufstand zu unterdrücken, sodass die Regierung Inoue Kaoru mit einem starken Heer nach Choshu schicken musste.“
Auf einem derart morbiden, durch und durch verlogenen und brutal-zynischen Fundament baute sich ein System auf, von dessen höchster Vollendung Kyoshi schreibt: „Ganz Japan glich einem riesigen Militärgefängnis.“ Die tragenden Säulen dieses Systems waren das Staatskapital und die großen privaten Unternehmen, die weitgehend miteinander verschmolzen, und auf dem Land die Großgrundbesitzer, die die Pächter gnadenlos ausbeuteten. Dazu kam der „Kaiserliche Erziehungserlass“ vom Oktober 1890, der den Japanern verbot, sich mit ihrer eigenen Geschichte zu befassen. „Bis zur Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg durften Forschungen über den Ursprung des japanischen Staates, die den Shintoismus analysierten und die Ideologie des Tenno-Systems bloßlegten, nicht veröffentlicht werden. Im Geschichtsunterricht an den Schulen musste gelehrt werden, dass die Ahngötter des Tenno das Land Japan geschaffen hätten, dass die Tenno als göttliche Nachkommen ewig Japan regieren würden und dass die Regierung der Tenno die treibende Kraft der Entwicklung der japanischen Geschichte gewesen sei. Der Schaden, den diese Repression anrichtete, war, was die wissenschaftliche Kenntnisse der Japaner über ihre Geschichte, was die Entwicklung ihrer historischen Identität betrifft, unermesslich, und ihre Auswirkungen sind bis heute noch groß.“
Raffinierterweise wurde eine Variante des US-amerikani-schen Slogans „Vom Tellerwäscher zum Millionär“ eingebaut: „Die Menschen zählten nicht als Menschen, ihr Wert wurde bemessen an ihrem Rang im Verhältnis zum Tenno, der als göttliche Autorität an der Spitze der Gesellschaft stand. In dieser Rangordnung der Untertanen hatte die Stellung des Ministers und des Generals besonderes Ansehen und Glanz. Den Weg zu dieser Stellung konnte jeder ohne Ansehen des Standes gehen. Jedem jungen Mann, wenn er die Prüfung bestand und die Mittel für das Studium aufbringen konnte, stand die mittlere und höhere Ausbildung zum Beamten offen. Die Ausbildung an der Heeres- und Marineakademie war kostenlos. Jeder junge Mann, wenn er nicht gerade aus einer sehr armen Familie stammte und möglichst schnell Geld verdienen musste, konnte in die Akademie eintreten und davon träumen, General zu werden. Auf diese Weise entstand ein auf die Karriere ausgerichtetes Wertsystem, das sich bald in der Gesellschaft durchsetzte. Es gab auch Möglichkeiten, führende Posten in der Großindustrie oder die Karriere des Hochschullehrers anzustreben. Dieser Karriereweg war aber im Vergleich zur Karriere eines Ministers oder Generals in den Augen der Gesellschaft zweitrangig. So wurden aus dem Volk die Begabtesten in die Schicht der Herrschenden aufgenommen. Institutionen und Ideologie bevorzugten diese neue Elite, eine Bedingung dafür, dass das Volk das Tenno-System von sich aus stützte. Auf der anderen Seite zwang ein System der Unterdrückung, das sich der neuesten Techniken der importierten Zivilisation bediente, von aus-sen zum Gehorsam.“
Wohlgemerkt war dies alles nur mit der ideologischen Unterstützung und der Kapitalhilfe der Westmächte durchgesetzt worden. „Japan war finanziell vollkommen abhängig von England und Amerika. Von den Kriegskosten, die sich auf 1,7 Milliarden Yen beliefen, beschaffte es sich durch Auslandsanleihen in England und Amerika 800 Millionen Yen. Ohne diese Kredite hätte es den Krieg garnicht führen können.“ Das bezieht sich auf den Krieg gegen Russland, der von 1904 bis 1905 geführt und von Japan gewonnen wurde. Aber auch noch im Jahr 1914, als das Land schon zur Kolonialmacht aufgestiegen war (1910 wurde Korea annektiert), blieb es abhängig von ausländischem Kapital: „Im Jahr 1914 betrugen die Auslandsanleihen noch knapp zwei Milliarden Yen, das Sechsfache der Steuereinnahmen desselben Jahres.“
Japan hatte sich das Wohlwollen des Westens redlich verdient, denn schon im Jahr 1900 „war es für die Westmächte zur ‚Polzei des Fernen Ostens’ avanciert.“ Diese Rolle hatte es sich bei der Unterdrückung des sogenannten „Boxer-Aufstandes“ erworben, in welchem sich „das chinesische Volk in einem großangelegten antiimperialistischen Aufstand gegen die Invasion der Westmächte zu wehren versuchte“. „England kämpfte damals in Afrika gegen die Buren, Amerika gegen die Volksbewegung auf den Philippinen. Beide Länder konnten keine großen Truppenverbände nach Ostasien entsenden. Der Transport deutscher und russischer Truppen brauchte Zeit. Japan konnte dagegen ein Heer von 12 000 Mann mobilisieren, das die Hauptmacht des 32 000 Mann starken alliierten Heeres bildete.“
„Im Juli 1905 hatte Premierminister Katsura mit dem amerikanischen Verteidigungsminister Taft ein Geheimabkommen geschlossen, in dem Japan die Herrschaft Amerikas über die Philippinen anerkannte und Amerika die Herrschaft Japans über Korea. Im August folgte mit England ein gleiches Abkommen betreffend die Herrschaft über Indien bzw. Korea. Japan unterstützte also durch den russisch-japanischen Krieg das Vordringen Amerikas und Englands in Asien. Es traf nach diesem Krieg überdies Abmachungen mit Russland über die Aufteilung der Mandschurei und der Mongolei.“
Nach dem Krieg zwischen Japan und China, den Japan mit der Billigung Englands von 1894 bis 95 geführt und gewonnen hatte, wurde ein Friedensvertrag abgeschlossen, in dem es heisst: „Der fünfte Artikel gewährte Japan wirtschaftliche Privilegien, die nicht einmal Europa und Amerika besaßen“. -- „Die Sonderrechte, die Japan durch den neuen Vertrag erworben hatte, fielen automatisch auch Europa und Amerika zu, gemäß der Verträge, die diese selbst mit China abgeschlossen hatten. Der japanische Kapitalismus hatte sich aber noch nicht so weit entwickelt, dass ein starkes Bedürfnis bestand, Kapital zu exportieren. England dagegen nutzte die Gelegenheit zu massivem Kapitalexport, für den Japan praktisch die Bedingungen geschaffen hatte.“
In all diesen Fällen hatte sich Japan als ein brauchbares Werkzeug für die Interessen der westlichen Mächte erwiesen, und im Jahr 1911 war es dafür mit der vollen Souveränität belohnt worden, die letzten der sogenannten „ungleichen Verträge“ erloschen. Im Ersten Weltkrieg hat es auf der richtigen Seite gekämpft und wurde dafür mit den deutschen Kolonien in China und im Pazifik belohnt. Von diesem Krieg schreibt Kyoshi: „Der Erste Weltkrieg veränderte das Kräfteverhältnis der imperialistischen Welt. Deutschland und Österreich, die den Krieg verloren hatten, konnten für eine Zeitlang am Konkurrenzkampf nicht teilnehmen. Die Siegerländer England und Frankreich brauchten Jahre, um sich von den Folgen des Krieges zu erholen. Nur Amerika und Japan erlebten einen wirtschaftlichen Aufschwung (vermutlich weil sie die wenigsten Kriegskosten hatten). Amerika wurde das Finanzzentrum der Welt. Der Mittelpunkt der kapitalistischen Weltwirtschaft war nicht mehr London, sondern New York.“
Die USA sind damit als die eigentlichen Sieger dieses Krieges bezeichnet, und von Japan sagt Kyoshi, dass es „eines der ersten den Vorstand führenden Mitgliedsstaaten des Völkerbunds war und stolz darauf, neben England, Amerika, Frankreich, Italien zu den ‚Großen Fünf’ zu zählen“. Von dem Sonderfall Russland ist zu lesen: „Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs verstärkten die Alliierten ihren Druck auf Russland und unterstützten mit allen Mitteln die konterrevolutionäre Armee. Das englische und französische Heer drangen in Südrussland ein, nachdem sich die geschlagenen deutschen Truppen von dort zurückgezogen hatten. England, Frankreich, Japan, Amerika und weitere neun Länder bedrängten von allen Seiten das junge, im Umsturz begriffene Russland, das nach der Schreckensherrschaft des Zarismus und nach vier Kriegsjahren unter dem Mangel an Nahrungsmitteln, Kleidung und Brennstoff litt.“ Wie sich die „Rote Armee“ gegen eine Koalition von 13 Ländern und die Gegner im eigenen Land behaupten konnte, das gehört zu den Wundern der neueren Geschichte, welche mit normalen Gründen niemals erklärt werden können. Es ist aber nicht einem göttlichen Eingriff zu verdanken, sondern (wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe) dem erklärten Willen der „satanischen Mächte“, dieser Revolution zum Zug zu verhelfen und einen Mann wie Stalin an die Macht zu bringen, der in seinem Herrschaftsgebiet genauso furchtbar gewütet hat wie sein Kollege Mao Dse-Dong etwas zeitversetzt dann in dem seinen.
Dass die Alliierten nicht mit allen Mitteln die konterrevolutionäre Armee unterstützt haben können, geht schon aus der folgenden Stelle des Textes hervor: „Im Januar 1920 beendeten England, Frankreich und Italien die Blockade Russlands, das amerkikanische Heer zog sich aus Sibirien zurück. Der vom polnischen Heer im April 1920 unternommene Einfall in die Sowjetunion endete im Oktober mit einer vernichtenden Niederlage. Die Sowjetunion hatte sich gegen jede Einmischung behauptet und schließlich auch die Gegner im eigenen Land besiegt.“ Das polnische Heer ist also ohne jede Rückendeckung in sein katastrofales Unterliegen gerannt, und vermutlich waren nur die Sowjets davon informiert, dass es im Osten ihres Landes eine wirkliche Front nicht mehr gab. Auch die japanischen Truppen im Osten der Sowjetunion scheinen keine Verbindung zu den US-amerikanischen mehr gehabt und deren Rückzug zunächst nicht mitbekommen zu haben, denn sie standen etwas verloren in der Landschaft herum und bezogen mehrfach eine über die Kappe gezunden, was Kyo-shi folgendermaßen umschreibt: „Nur das japanische Heer setzte unter nicht überzeugendem Vorwand seine Einmischungspolitik fort. Je weiter es vordrang, desto mehr Niederlagen musste es einstecken. Schließlich folgte unter beschämenden Umständen im Juli 1922 der Rückzug aus Sibirien, 1925 auch der Abtransport der nach Nordsachalin entsandten Truppen. Das imperialistische Japan hatte seinen ersten Krieg verloren.“
Dass das im Ersten Weltkrieg so siegreiche und stolzgeschwellte Japan, dessen Wirtschaft einen gewaltigen Aufschwung erlebte, nicht in der Lage gewesen sein sollte, einen so geschwächten Gegner wie die sowjetischen Truppen niederzuringen, ist sehr unwahrscheinlich – und noch mehr, wenn eine mit den Alliierten koordinierte Aktion duchgeführt worden wäre. Die beschämende Schlappe, die Japan von der Sowjetunion hinnehmen musste, war das Vorspiel zu einem weiteren Komplott, das im Zweiten Weltkrieg dazu geführt hat, dass es für die Sowjetunion wiederum keinen Zweifrontenkrieg gab, weil Japan in dieser Angelegenheit keinen Finger mehr rührte, wie wir gleich sehen werden.

Nur von den Resultaten werden all diese Geschichten erklärlich, und für jedes Land wurden eigene Methoden entwickelt, um es sturmreif zu machen für den hemmungslosen Kapitalismus, wie er heutzutage überall herrscht. Und an dieser Stelle erlaube ich mir noch eine weitere Bemerkung. Es wurde und wird noch immer behauptet, der US-Präsident Bush junior hätte keine Strategie für die Zeit nach seiner Besetzung des Irak gehabt -- oder er hätte sich vorgestellt, die Iraker würden ihn als Befreier begrüßen wie seinen Vorgänger einst die westlichen Deutschen nach der „Entnazifizierung“. Aber selbst wenn er persönlich so idiotisch gewesen sein könnte, so ist dies nicht von seinen Hintermännern zu glauben, und deren Ziel war und ist die totale „Destabilisierung“ der Region, wie es eufemistisch ausgedrückt wird. Denn die Araber und die Perser zählen zu den am schwersten erziehbaren Völker, die letzteren hatten ihre Chance nicht wahrgenommen, mit der Hilfe des Schah, der so etwas Ähnliches wie der Tenno sein sollte, die westliche Lebensart anzunehmen – und auch den Arabern hatte man dies oft genug angeboten; doch scheinen selbst die vom Westen eingesetzten Büttel nicht willens oder fähig zu sein, die Schlupfwinkel der Widerspenstigen total auszuräuchern. Und in so einem Fall hilft nur der „totale Krieg“, der inzwischen etwas anders aussieht als zu faschistischen Zeiten, aber im Effekt genauso stark wirkt. Ein Jahrzehnte lang gequältes und misshandeltes Volk wird irgendwann bereit sein, die Erlösung durch das internationale Kapital anzunehmen. Dies hat der Vietnamkrieg bewiesen, denn selbst die Niederlage der USA, die nur durch den Widerstand der eigenen Bevölkerung möglich war, hat ausser einem Image-Schaden, den der nächste oder übernächste Präsident ausbügeln wird, keinen Rückschlag gebracht. Seit Vietnam unlängst in die „World-Trade-Organisation“ aufgenommen wurde, giert es vor allem nach US-Kapital.
Oder ein anderes Bespiel: Wie ich gehört habe, soll es schon länger Techniken geben, mit deren Hilfe Benzin eingespart oder dieses sogar durch eine andere Energie-Quelle ersetzt werden könnte, und nicht einmal das Auto, das drei Liter auf einhundert Kilometer verbraucht, obwohl es schon produzierbar sei, komme zum Einsatz. Ich kann dies nicht überprüfen, aber ich halte es durchaus für möglich, dass der Kampf um das Erdöl, das ohnehin in absehbarer Zeit zur Neige geht, künstlich aufgeputscht wurde und wird, um die Dinge zu regeln, bevor der Brennstoff ausgeht. Und zur jetzt heraufbeschworenen „Klima-Katastrofe“ ist zu sagen, dass ich ihre Bekämpfung nicht ernst nehmen kann, alldieweil die Billigflüge in den letzten zehn Jahren fast um hundert Prozent zugelegt haben und das Flugbenzin, genannt Kerosin, immer noch nicht besteuert wird; inzwischen ist es billiger, ein Flugzeug zu nehmen als die Eisenbahn, um in Europas Städte zu reisen; und von daher nährt sich mein Verdacht, dass es weniger die Sorge um die Verseuchung der Atmosfäre ist, die die Verantwortlichen umtreibt, als der Ausbau der Kompetenzen der „internationalen Staatengemeinschaft“, der Vorstufe zum Weltstaat, der von langer Hand schon geplant, nunmehr realisiert werden soll nach der langen Zersplitterung in die Nationalstaaten, die nur dazu diente, den Kern dieser Macht hinter den Kulissen zu etablieren.
Dass der Iran provoziert wird, ist an dem Atomstreit deutlich zu sehen, denn wie könnte sonst Indien bei Bush die Anerkennung seiner Atomwaffen durchgesetzt haben, obwohl es sie heimlich gebaut hat und den Atomwaffensperrvertrag nicht unterschrieb? Die Antwort lautet: Ihr, liebe Inder, habt wenigstens begriffen, worum es uns geht, und unser Dank gilt auch den Chinesen unter der Führung der „Kommunistischen Partei“, denn euer Staatskapitalismus ist imponierend. Aber ihr, böse Perser, ihr wollt ja noch nicht einmal unseren Mythos vom Holocaust anerkennen und dem Staat Israel das Existenzrecht absprechen. Das geht, wie ihr einsehen werdet, zu weit.
Es ist interessant, wie unsere Presse in diesem Zusammenhang über den iranischen Präsidenten Achmadinedschad berichtet: er wird als Leugner des Holocaust hingestellt, als ein Krimineller demnach und „ein zweiter Hitler“, gleichzeitig wird aber gemeldet, dass er eine „Holocaust-Konferenz“ nach Teheran einberufen hat, zu der er Experten aus aller Welt einlud, die sich nicht auf der Regierungslinie bewegen; und dass diese Leute über ein Fantom diskutierten, glaube ich nicht. Um einem Missverständnis vorzubeugen, erkläre ich, dass der Völkermord an den europäischen Juden nicht zu leugnen ist, er hat ja in ganz Europa seine furchtbare Spur hinterlassen. Achmadinedschad wird auch mit seiner Aussage zitiert, dass es die Europäer waren, die mit den Juden ein Problem hatten, und nicht die Araber oder die Perser, und dass daher die Europäer die Juden aus dem Staat Israel wieder bei sich aufnehmen sollten, weil sie der islamischen Welt gewaltsam aufgepfropft wurden. Dass er aber jetzt zum Buhmann aufgebaut wird, wie vor ihm Saddam Hussein, das bedeutet, dass sein Land, das bereits rings herum von US-Militär-stützpunkten eingekreist ist, zum Abschuss frei gegeben wird, um einen Flächenbrand auszulösen, von dem sich die islamische Welt nicht mehr anders erholen kann als nur in den Armen des Großkapitals. Und jetzt, da ich dies schreibe, ist es bereits gelungen, den Bruderkreig zwischen Schi´iten und Sunniten zu entfachen sowie den zwischen den palästensischen Gruppen. Wäre doch gelacht, wenn wir es nicht hinkriegen würden, diese Banden gegeneinander zu hetzen, damit sie sich zerfleischen! Haben wir es nicht schon einmal geschafft, die Araber auf die Perser zu hetzen? Das war in dem zehnnjährigen Krieg zwischen dem Irak unter Saddam Hussein und dem Iran unter Khomeini, in welchem eine ganze Generation verblutet ist -- und wer die ersten Bomben auf die Moscheen und die Pilger warf, kam nie heraus.
So scheinen es die Hardliner geplant zu haben, womit sie die Gemäßigten in ihren Reihen überstimmt haben dürften, die für etwas mehr Zeit plädiert hatten für die Iraner, bis sie ihr engstirniges Mullah-Regime selbst gestürzt hätten; diese Zeit wird jetzt durch Sanktionen verlängert, aber das war auch im Irak so. Nicht nur Indien hat Atombomben, es haben sie auch Pakistan und Israel und China und Frankreich und Großbritannien und Russland und die USA, aber dem Iran wird sie vorenthalten, und diese Provokation wird vermutlich dahin wirken, das Volk auf Kosten der Opposition mit dem Mullah-Regime zusammenzuschweissen, um es in den angestifteten Brand mit hineinreissen zu können. Und wenn meine Hypothese stimmt, dass genau dies geplant ist, dann kann Achmadinedschad genauso ein Agent der „internationalen Staatengemeinschaft“ sein wie es Khomeini einst war, indem er als Kriegstreiber wirkt und seinen Landsleuten erklärt, es ginge nur um die friedliche Nutzung der Atomenergie und man wolle das Land vom technologischen Fortschritt ausschließen.

Diese Gedanken sind eine Einleitung zur Beantwortung der Frage, wie es dahin kommen konnte, dass der Musterknabe Japan den Unwillen der Alliierten erregte und im Zweiten Weltkrieg gegen sie kämpfte. Alle Begründungen, die Kiyoshi dafür zu geben versucht, überzeugen mich nicht. Sein Hauptargument ist der Streit über den Status der Mandschurei, den Japan 1905 in einem Vertrag mit Russland nach dem russisch-japanischen Krieg als eine Art von halbkolonialem Gebiet unter seiner Obhut definiert hatte, die westlichen Mächte hätten dieses Land dagegen für sich selber beansprucht. Aber die hatten noch nicht einmal das Kernland von China unter ihre Kontrolle gebracht und hätten damit genug zu tun gehabt, ausserdem wäre es auch unbillig gewesen, dem Verbündeten die Beute entreissen zu wollen, die dieser sich selbst erkämpft hatte. Dass die imperialistischen Mächte sich sehr gut vertragen, das haben die Alliierten seit dem 19. Jahrhundert immer wieder bewiesen, und ein schönes Beispiel dafür ist ihr gemeinsames Auftreten bei der „Öffnung“ von Japan gewesen. Vor dem Ersten Weltkrieg war in Ostasien noch genug Land zu verteilen, und die Unterwerfung eines Gebietes war immer eine kostspielige Sache, denn sie bestand nicht nur aus dem ersten Akt, der Eroberung, sondern auch aus den folgenden Akten, die sich immerzu gleich sind in der permanente Unterdrückung des widerstrebenden, weil versklavten Volkes, bis der letzte Akt zeigt, wie dieses das Joch der Eroberer von sich reisst, um sich in der universalkapitalistischen Gemeinde als neues Mitglied wiederzufinden. Und so gesehen hätten die Alliierten Japan dankbar sein müssen, dass es ihnen die Umerziehung der Koreaner, Mandschus und Mongolen abnahm. Was war also der wirkliche Grund für die zumindestr äuserlich zunehmende Entfremdung zwischen Japan und den Westmächten?
Mit dieser ersten ist noch eine zweite Frage verknüpft: Wie kommt es, dass Japan im Zweiten Weltkrieg keinen einzigen Schuss, geschweige denn eine Bombe, gegen die Sow-jetunion eingesetzt hat, obwohl es angeblich mit Nazi-Deutschland verbündet war? Registrieren wir folgende Daten: Auf einer Konferenz, die 1922 in Washington stattfand und „an der England, Frankreich, Italien, Belgien, Holland, Portugal, China und Japan teilnahmen, wurden Japans ‚Sonderrechte’ über China nicht mehr anerkannt und die ehemaligen Nutzungsrechte Deutschlands an der Provinz Shandong an China zurückgegeben“ – also der Anteil an der Beute, den dieses Land sich im Ersten Weltkrieg seriös genug verdient hatte. Und dieser Affront geschah etwa zeitgleich mit dem schmählichen Kampf der in Sibirien verratenen japanischen Truppen.
„Am 4. August 1931 hatte Heeresminister Minami auf einer Konferenz der Divisionskommandeure und anderer höherer Offiziere bereits angedeutet, dass das ‚mandschurische und mongolische Problem’ nur mit Waffengewalt zu lösen sei. – Am 18. September 1931 ließen der Generalstab und ein Teil der Offiziere der Guan-Dong-Armee die Mandschurische Eisenbahnlinie bei Liutiaogou in der Nähe von Fengtian sprengen, gaben diesen Vorfall als Angriff des chinesischen Heeres aus und starteten ohne Kriegserklärung den verharmlosend als ‚Mandschurei-Zwischenfall’ bezeichneten Einfall, um den Nordosten Chinas zu besetzen. Nicht einmal der Kommandeur der Guan-Dong-Armee war eingeweiht worden.“
Hinter den Akteuren standen unter verschiedenen Namen operierende Gruppen, die bereits im März 1931 den Versuch eines Staatsstreichs unternommen hatten, um ihr Ziel zu erreichen, nämlich „die Mandschurei so schnell wie möglich in eine japanische Kolonie zu verwandeln“ -- und im eigenen Land eine Militärdiktatur aufzubauen. „Um diesen Plan zu verwirklichen gründeten sie eine ‚Kirschblütenbund’ genannte Gruppe. -- Im Oktober 1931, einen Monat nach Kriegsbeginn, planten die Offiziere, die an der März-Affäre beteiligt waren, einen neuen Coup d`Etat, der wegen Meinungsverschiedenheiten in den eigenen Reihen und den Vorbehalten der Heeresführung wieder nicht zur Ausführung kam. Dieser Plan brachte aber immerhin im Dezember das Wakatsuki-Kabinett zum Sturz.“ Es wurde ein neues Kabinett aufgestellt, „die Rechtsextremisten waren jedoch damit nicht zufrieden. Im Februar 1932 wurden der ehemalige Finanzminister Inoue Junnosuke, im März Dan Takuma, einer der Leiter des Mitsui-Konzerns, von einer rechstextremistischen Gruppe, die mit dem aus jungen Offizieren bestehenden ‚Blutbund’ kollaborierte, ermordet. Am 15. Mai erschoss eine Grupp, die aus Offizieren der Marine und des Heeres bestand, am hellichten Tage Premierminister Inukai in seinem Amtssitz.“ Es folgten noch eine Reihe weiterer politischer Morde, bis alle Gemäßgten liquidiert waren und sich „die meuternden Offiziere“ auf der ganzen Linie durchgesetzt hatten; 1936 verkündete „Kita Ikki, Theoretiker ihrer Aktionen, der seinen Lebensunterhalt von Ikeda Shigeaki erhielt, dem Geschäftsführer des Mitsui-Konzerns“, unter anderem, „dass Japan alle Anstrengungen unternehmen müsse, ‚der stärkste Staat zu werden, der über alle großen und kleinen Staaten der Welt herrscht’.“
Da ist er wieder, der größenwahnsinnige Gedanke von der Weltherrschaft, der sich seit der Gründung der ersten Großreiche vor rund fünftausend Jahren wie eine Seuche durch die Geschichte der Menschheit zieht und bereits allzuviele verführte. Aber hier ist er schon auf seinem höchsten Niveau, nämlich in der Gestalt von Geheimorganisationen begründet, in denen die unteren Chargen nicht wissen, worum es in Wirklichkeit geht. Mit der erfolgreichen Durchsetzung der japanischen Militärdiktatur waren die Weichen zum Zweiten Weltkrieg auch im Osten gestellt, und die Alliierten unter Führung der USA hatten kräftig dazu beigetragen. „Am 1. März 1932 wurde die Gründung des Marionettenstaates ‚Mandschukuo’ bekannt gegeben. Amerika intervenierte mit scharfen Worten, ihm war aber wegen der Maßnahmen gegen die Wirtschaftskrise so sehr die Hände gebunden, dass es keine wirkungsvollen Sanktionen gegen Japan verhängen konnte. Der Bericht der von dem Engländer Lytton geführten Untersuchungskommission des Völkerbundes erkannte das Vorgehen Japans nicht als Selbstverteidigung an, betonte aber die Gefahr der ‚Bolschewisierung’ der Mandschurei und schlug eine gemeinsame Verwaltung der großen Länder vor. Die aus diesem Vorschlag hervorgegangene Resolution wurde auf der Vollversammlung des Völkerbundes mit 24 Stimmen gegen eine, die Japans, angenommen, weshalb Japan im März 1933 aus dem Völkerbund austrat.“
Genauso gut wie die Allierten von Japan die Herausgabe der Mandschurei verlangten, hätte Japan die Herausgabe Indiens von den Engländern, Indonesiens von den Holländern und der Filippinen von den USA fordern können. Und dass den USA die Hände gebunden waren, um wirksame Sanktionen gegen Japan zu verhängen, glaube ich nicht, es verhängte vielmehr den erforderlichen Zeitraum zum Aufbau der Kulisse des ins Auge gefassten Krieges, der zum bisher größten Flächenbrand der Geschichte aufstieg. Wenn die Alliierten, die den gesamten Völkerbund hinter sich hatten, Japan boykottiert hätten, dann wäre es diesem Land nicht möglich gewesen, sein extrem gigantisches Militärpotential aufzubauen.
„Im November 1936 schlossen das Hirota-Kabinett, und die Militärführung, von der Isolierung bedroht, mit Nazi-Deutschland den Anti-Kominternpakt ab, der offiziell gegen die revolutionären Bewegungen der Komintern (das ist die „kommunistische Internationale“), in Wirklichkeit aber ein Geheimabkommen für den Angriff auf die Sowjetunion war. Einen Monat nach dem Antikominternpakt schlossen Japan und Italien ebenfalls ein Bündnis, mit dem Italien Mandschukuo und Japan die Herrschaft Italiens über Äthiopien anerkannte“. Nachdem sich Nazideutschland mit Italien kurz zuvor schon verbündet hatte, war die „Achse Tokyo-Berlin-Rom zustandegekommen, die sich gegen die Sowjetunion, gegen England, Amerika und Frankreich richtete“. Man braucht sich bloß einen Globus anzuschauen, um zu sehen, dass sich drei winzige Länder zusammengeschlossen hatten gegen ein erdrückendes Übergewicht, das sie niemals aufwiegen konnten. Man muss sich zu den ohnehin schon riesigen Ländern Sowjetunion und USA noch das britische „Commonwealth“ mit Kanada, Indien, Australien und goßen Gebieten von Afrika hinzudenken, die dortigen und in Indochina befindlichen französischen Kolonien, sowie Indonesien als Kolonialbesitz von Holland und „Belgisch-Kongo“, deren „Mutterländer“ gleichfalls zu den Alliierten gehörten. Und dem steht gegenüber die Dreierverbindung von Deutschland, das seine verstreuten Kolonien im Ersten Weltkrieg verlor, man hatte sie ihm mühelos schon zu dessen Beginn abgenommen, Italien, das sich gerade erst Äthiopien angeeignet, aber noch keinerlei Erfahrung mit der Technik der permanenten Unterwerfung eines versklavten Volkes hatte, und Japan, das alle Hände voll zu tun hatte, die Aufstände in Korea, in der Mandschurei und den beanspruchten Posten in China aufrechtzuerhalten, das es sich nach und nach immer mehr und schließlich ganz einzuverleiben gedachte.
Diese drei verbündeten Länder haben eines gemeinsam, sie litten alle an einer inneren Unsicherheit, die sie mit Größenwahn kompensierten. Deutschland war nach dem niederschmetternd verlorenen Ersten Weltkrieg, für den es die Alleinschuld übernehmen musste, noch lange zutiefst verstört, und Japan wurde durch die fortwährende Brüskierung von seiten der Westmächte in seinem ohnehin schwachen Selbstwertgefühl irritiert. Und diese begannen schon früh: „Besonders die amerikanische Regierung empfand die Herrschaft Japans über die Südmandschurei als ‚schmerzliche Enttäuschung’. Um sich für den Verlust seiner Ansprüche zu rächen, begann Amerika, die japanischen Einwanderer, die sich schon in den Bundestaaten der amerikanischen Westküste angesiedelt hatten, auszuweisen. Im Februar 1907 erließ die amerikanische Regierung das antijapanische Einwanderungsgesetz, das die Einreise japanischer Bürger über Hawaii, Kanada und Mexiko untersagte.“ Angehörigen anderer Völker dagegen war es weiterhin erlaubt, nicht nur in das „Gelobte Land“ zu pilgern, sondern es auch zum Wohnsitz zu wählen. Damit war also eine rassistische Note ins Spiel gekommen, die von beiden Seiten immer mehr hochgespielt wurde. Mit der Situation in Italien habe ich mich noch nicht näher befasst und kann sie daher nur grob aus der Ferne abschätzen; der Verrat am Bündnis mit Deutschland und Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg war zwar klug, aber für den Stolz auf sich selbst nicht sehr erhebend; und dazu kam noch der Gegensatz des erst 1870 geeinten Landes, das Jahrhunderte hindurch unter Fremdherren stand und sich im Norden und Süden vollkommen anders entwickelt hatte.
Die drei Länder schlossen einen Pakt von Selbstmordattentätern, und sie waren sich nicht einmal einig. „Im Juli 1938 fielen japanische Truppen bei Zanggufeng in sowjetisches Gebiet ein, wurden aber zurückgeschlagen. Im Mai 1939 begann die Militärführung in Nomonhan, im Grenzgebiet zwischen der Mandschurei und der Äusseren Mongolei, einen Krieg, für den sie ihre Elitetruppen einsetzte. Der Angriff wurde nach mehr als drei Monaten von einem alliierten Heer der Sowjetunion und der Mongolei abgewehrt. Fürs erste verzichtete die Militärführung darauf, die Sowjetunion weiter zu provozieren.“ Das tat sie aber nicht nur „fürs erste“, sondern konsequent bis zu ihrem Zusammenbruch 1945.
Bereits „im November 1938 hatte Deutschland Japan ein gegen die Sowjetunion, England und Frankreich gerichtetes Bündnis vorgeschlagen“ – die Verhandlungen darüber wurden von Japan hinausgezögert und hatten am 23. August 1939 noch zu keinem Ergebnis geführt. An diesem Tag, „als japanische Truppen immer noch in Nomonhan kämpften, schloss Deutschland mit der Sowjetunion einen Nichtangriffspakt und fiel damit Japan in den Rücken.“ Das war der berühmte „Hitler-Stalin-Pakt“, in welchem sich die beiden Herren Polen aufteilten und der eine dem anderen den Rücken freihielt, wodurch die „Blitzsiege“ Nazideutschlands in Europa ermöglicht wurden. Denn eins hatte Hitler aus dem Ersten Weltkrieg, an dem er teilgenommen hatte, gelernt, nämlich dass es Wahnsinn ist, einen Zweifrontenkrieg führen und gewinnen zu wollen. Und dies hätte er seinem Verbündeten Japan verständlich machen können, wenn es denn eine funktionierende Kommunikation zwischen Deutschland und Japan gegeben hätte. Aber offenbar waren Leute am Werk, die nicht daran interessiert waren, ein effektives Bündnis zustandezubringen, sondern nur daran, den Militärs beider Länder vorzuspiegeln, sie hätten einen zuverlässigen Verbündeten hinter sich.
„Das zweite Konoe-Kabinett, das sich im Juli 1940 gebildet hatte, brachte nach zähen Verhandlungen mit Deutsch-land den gegen Amerika gerichteten Dreimächtepakt zustande. – Aussenminister Matsuoka, der danach Europa bereist hatte, machte auf dem Rückweg im April 1941 in Moskau Station und schloss das ‚japanisch-sowjetische Neutralitätsabkommen’ ab. Das Militärbündnis der drei Länder richtete sich offiziell gegen Amerika, war aber auch ein Bündnis gegen die Sowjetunion, wie Matsuoka und der deutsche Aussenminister Ribbentrop vereinbart hatten. Matsuoka hatte das ‚japanisch-sowjetische Neutralitätsabkommen’ nur abgeschlossen, um Zeit zu gewinnen für die Verstärkung der Rüstung und für den Angriff auf die Sowjetunion.“ Dieser hat aber in Wirklichkeit bis zum Ende des Krieges nicht stattgefunden, und als „am 22. Juni 1941 die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion angriff und in einem Blitzkrieg weit in deren Territorium vorstieß, plädierte das japanische Heer und Aussenminister Matsuoka sofort für einen Einfall in Sibirien, während die Marine und Konoe zur Umsicht rieten. Am 2. Juli beschloss die Kaiserliche Konferenz in Gegenwart des Tenno, ‚den Krieg Deutschlands gegen die Sowjetunion aufgrund des Geistes der Dreierachse zu rechtfertigen, aber zunächst nicht einzugreifen, sondern den Krieg gegen die Sowjetunion insgeheim vorzubereiten und dann selbständig zu handeln. Sollte der Krieg Deutschlands gegen die Sowjetunion einen günstigen Verlauf nehmen, dann sollte mit Waffengewalt das Problem im Norden gelöst und die Sicherheit in dieser Region hergestellt werden.“ Japan sah also zu, wie sich Deutschland im Inneren des riesigen Sowjetreiches vergeblich festzubeissen versuchte, und griff dieses von Osten her nicht an.
Zwar heisst es: „Unter dem Vorwand, ein Manöver der Guan-Dong-Armee abzuhalten, wurden zur Vorbereitung des Krieges gegen die Sowjetunion Truppen und Material in einem in der Geschichte des Heeres einmaligem Ausmaß nach China transportiert. Die Guandong-Armee erreichte eine Stärke von 700 000 Mann“ – sie kam aber niemals gegen die Sowjetunion zum Einsatz, sondern verzettelte sich in China, wo es von den Helden der künftigen „Volksrepublik“, allen voran Mao Dse-Dong, in einen Partisanenkrieg verstrickt wurde und angeblich zu schwach war, um ihn zu gewinnen. Die Interessen Japans waren in Richtung eines „Großen Ostasiatischen Reiches“ abgelenkt worden, schon im Mai 1940 hatte es Indochina besetzt und danach seine Blitzsiege über Thailand und Burma errungen, über die Filippinen, ganz Indonesien und die pazifische Inselwelt bis vor die Küsten Australiens.
Als ich etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt war, bekam ich ein Buch geschenkt mit dem Titel „Berühmte Köpfe“, und darin waren alle namhaften Persönlichkeiten abgebildet, geordnet unter anderem in die Rubriken „Staatsführer und Politiker, Heerführer und Feldherren, Dichter, Maler, Musikanten (unterteilt in Komponisten und Sänger), Filosofen und Religionsgründer; darin gab es auch eine kleine Rubrik mit dem Titel „Spione“, und noch heute habe ich die Fotografie eines Mannes namens Richard Sorge vor Augen. Dem Aussehen nach war er ein Mischling zwischen einem europäischen und einem asiatischen Elternteil, und vermutlich war sein Vater ein Deutscher und seine Mutter eine Japanerin. Viele Jahre später las ich von ihm, dass er der entscheidende Verbindungsmann war, der die sichere Botschaft aus Japan an die Sowjetunion überbrachte, wonach ihr aus dem Osten keine Gefahr drohen und der „Neutralitätspakt“ streng eingehalten werde; nur darum konnte Stalin alle seine Truppen an der Westfront gegen die Deutschen einsetzen, die sich als kurzfirstige Herren von Europa durchaus Chancen ausgerechnet hatten, die Russen bezwingen zu können.
Es gibt einige Beispiele in der Geschichte dafür, dass jemand in einen sinnlosen Krieg hineingehetzt wird, um dann, noch während er sich an seinen Anfangserfolgen berauscht, die man ihm eingeräumt hatte, desto unwiderstehlicher überwältigt zu werden. Schon der Erste Weltkrieg war vom Standpunkt der „Mittelmächte“, die sich gegen den Rest der Welt gestellt hatten, einem Selbstmordversuch gleichgekommen, denn aufgrund des Kräfteverhältnisses konnten sie nur verlieren. Dass die Militärs dieser Länder trotzdem davon überzeugt zu sein schienen, den Krieg gewinnen zu können, kommt entweder daher, dass sie logen und in Wirklichkeit eingeschleuste Agenten waren von einflussreicheren Gruppen als den eigenen Regierungen, oder dass sie mit Hilfe von gefälschtem Material und erfundenen Meldungen desinformiert und in eine falsche Siegesgewissheit hinein manövriert worden sind.
„Schon seit Ende 1940 hatten Verhandlungen zwischen Japan und Amerika stattgefunden, um die Beziehungen zwischen beiden Ländern zu normalisieren. Für beide Länder dienten diese Verhandlungen jedoch nur dazu, Zeit für die Vorbereitung des Krieges zu gewinnen. Am 6. September 1941 beschlossen Regierung und Militärführung in der Kaiserlichen Konferenz, dass ‚der Krieg gegen Amerika und England unverzüglich zu eröffnen sei, falls bis Ende Oktober keine Aussicht besteht, dass unsere Forderungen akzeptiert werden’. Als Anfang Oktober die Verhandlungen zwischen Japan und Amerika immer noch kein Resultat zeigten, forderte Heeresminister Tojo Hideki den Beginn des Kriegs, während Preimerminister Konoe auf der Fortsetzung der Verhandlungen bestand. Konoe informierte den Tenno über diese Meinungsverschiedenheit und reichte seinen Rücktritt ein. Der Tenno ernannte am 18. Oktober auf Rat seines Siegelbewahrers Kido Koichi Tojo zum Premierminister. Sowohl der Tenno als auch Kido erwarteten angeblich, dass es Tojo gelingen werde, den größten Teil der Offiziere, die den Krieg sofort beginnen wollten, zur Umsicht zu bewegen. Am 29. November befragte der Tenno die ihm ergebenen Beamten nach ihrer Meinung über die Chancen, den Krieg gegen die USA zu gewinnen. Nicht ein einziger nahm deutlich Stellung oder riet davon ab. Sogar Premier- und Heeresminister Tojo, eifrigster Verfechter des Krieges, war sich des Erfolges nicht sicher. Er sagte nur, dass im Leben eines jeden Menschen einmal der Entschluss notwendig sei, mit Stolz von der Plattform des Kiyomizu-Tempels zu springen“ – und in einer Fußnote ist zu lesen: „Die Plattform des Kiyomizu-Tempels in Kyoto wird auch als ‚Selbstmörderbühne’ bezeichnet, da viele Menschen hier den Freitod suchten.“
Dieser Mann spricht es offen aus, und für sich selbst meint er wohl, dass nun der Augenblick gekommen sei, für die Große Sache zu sterben, der er sich verpflichtet hatte und die über das Wohl und Wehe von Japan sehr weit hinausging. Und dass in dieser Sache mit Lügen gearbeitet wurde, wird sichtbar, wo wir nur hinsehen. „Am 8. Dezember griff Japan ohne Kriegserklärung Pearl Harbour an und eröffnete damit den Krieg gegen die Vereingten Staaten und England. Diesen Krieg nannte die Regierung den ‚Großen Ostasiatischen Krieg’. – Japan hatte die Kriegshandlungen eröffnet, aber die amerikanische Regierung hatte dafür geschickt gesorgt. Die Vertreter der amerikanischen Regierung hatten sichere Informationen darüber erhalten, dass die japanische Marine einen Angriff auf Pearl Harbour plante, diese Informationen aber nicht an den Stabschef der Marine in Pearl Harbour weitergegeben. Dass die amerikanische Regierung für das Gelingen des Überraschungsangriffs selbst gesorgt hat, behauptet der Stabschef anhand zahlreichen Beweismaterials. Der Präsident habe diesen schmerzlichen Schlag akzeptiert, um das amerikansiche Volk von der Notwendigkeit des Kriegs gegen Japan zu überzeugen. Diese Version ist nicht von der Hand zu weisen.“
Vom weiteren Verlauf des Krieges im Osten ist zu erfahren: „Amerika hatte sich dank seiner starken Wirtschaft schnell von dem Angriff auf Pearl Harbour erholt und griff im Juni 1942 die Midway-Inseln an. Die dort stationierte japanische Flotte wurde versenkt, und von nun an bestimmte Amerika das Kriegsgeschehen im Pazifik. – Im Juni 1944 besetzten die Amerikaner die zur Marianen-Gruppe gehörende Insel Saipan, von wo es ab November desselben Jahres seine Luftangriffe gegen Japan startete. In der Nacht zum 10. März 1945 wurde der Südteil Tokyos bombardiert und in eine Steinwüste verwandelt, danach andere große und kleine Städte. Die japanische Marine hatte fast alle ihre Schiffe verloren. Im Juni 1945 fiel Okinawa in die Hände der amerikanischen Streitkräfte. – Auf der Konferenz in Jalta im Februar 1945 berieten Stalin, Churchill und Roosevelt strategische und politische Maßnahmen gegen Deutschland und Japan. Roosevelt forderte Stalin auf, sich am Krieg gegen Japan zu beteiligen, und bot ihm dafür den Süden von Sachalin an, den das zaristische Russland nach dem russisch-japanischen Krieg an Japan abgetreten hatte. Daneben stellte er das Pachtrecht an den chinesischen Gebieten Port Arthur und Dalian und die Chishima-Inselkette in Aussicht. Stalin nahm dieses Angebot an und versprach, drei Monate nach der Kapitulation Deutschlands in den Krieg gegen Japan einzugreifen.“ Deutschland hatte am 8. Mai 1945 bedingungslos kapituliert, und „im Juli berieten sich die Regierungschefs von Amerika, England und China in Potsdam. Sie gaben am 26. dieses Monats ihre gegen Japan gefassten Beschlüsse bekannt und warnten dieses, dass die Alliierten das Land zerstören würden, falls Japan nicht sofort kapitulierte. – In der Regierung und Militärführung kam es, die Annahme der Potsdamer Erklärung und die Kapitulation betreffend, zu heftigen Auseinandersetzungen. Die Regierung verschwieg dem Volk jedoch diese Erklärung und forderte es auf, bis zum Endsieg zu kämpfen. Im August sollte, wovon Japan keine Kenntnis hatte, die Sowjetunion in den Krieg gegen Japan eingreifen. Amerika ließ, bevor sich dieser Tag näherte, am 6. August eine von den zwei Atombomben, über die es verfügte, über Hiroshima abwerfen. Die Atombombe tötete mehr als 200 000 Menschen und hinterließ eine Verwüstung grausamsten Ausmaßes, wie sie die Menschheit bis dahin noch nicht erlebt hatte. Am Morgen des 9. August griff die Sowjetunion in den Krieg ein und drang mit einer Armee in die Mandschurei vor. Amerika warf am selben Tag seine Atombombe auf Nagasaki.“
Der Einsatz von Atombomben war für den Sieg über Japan nicht nötig‚ das Land lag zuvor schon am Boden, und wenn der Angriff der Sowjetunion der japanischen Regierung offiziell und dem Volk über Radiosender bekannt gemacht worden wäre, dann hätte Japan mit Sicherheit kapituliert; und selbst wenn es auch da noch gezögert hätte, wäre es eher früher als später durch die Luftangriffe mit den „konventionellen“ Bomben zermürbt worden, wie es Deutschland vorgemacht hatte. Der Abwurf der Atombomben lässt sich nicht anders rechtfertigen als mit der erklärten Absicht, einen Massen-Menschenversuch durchzuführen und dabei die unvorstellbar brutale Ermordung von Männern, Frauen und Kindern ins Werk zu setzen; und allein diese Tatsache entlarvt den Charakter des Regimes in den USA. Seinem Bündnispartner Stalin hatte es zu einem leicht errungenen Sieg im Osten verholfen, und ein weiteres Resultat dieses teuflischen Paktes war die Zerteilung zweier ostasiatischer Länder in „Interessenssfären“ – der Norden von Korea und Vietnam wurde der Sfäre von Stalin zugeteilt, der Süden beider Länder den USA. Aber womit hatten die Völker dieser Länder die Strafe verdient, dass sie in ihrer Mitte von einer willkürlich gezogenen Demarkationslinie zerrissen wurden? Korea war seit 1910 das Opfer der brutalen japanischen Besatzung gewesen, Vietnam seit 1940, und der Krieg war nie die Angelegenheit dieser Länder gewesen, aber trotzdem mussten sie nicht nur mit der Zerteilung büßen, sondern auch damit, dass sie zum Schauplatz künftiger Kriege auserwählt wurden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Japan sehr schnell wieder der Musterknabe des Westens im Osten und explodierte in einer gewaltigen industriellen und technischen Entwicklung, die es in der Höhe der Produktivkraft an die zweite Stelle hinter den USA katapultierte. Die Kriegsverbrecher wurden bestraft, mit Ausnahme der eingeschleusten Agenten und vielleicht auch noch derer, die sich eine passende Identität zu verschaffen wussten, vor den Kriegsgerichten sind sie wieder hinausgeschleust worden. Heute, am 5. 2. 2007, steht die Besprechung eines Buches von Uki Goni in der Süddeutschen Zeitung, das den Titel hat: „Odessa – die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Verbrecher“. Darin ist zu lesen: „Eine Rattenlinie, auf der Nazi-Kriegsverbrecher wie Josef Mengele und Adolf Eichmann oder Kollaborateure wie Ante Pavelic nach Argentinien flüchten konnten, hat es wirklich gegeben. Uki Goni hat die Geschichte von ‚Perons Odessa’ rekonstruiert: Die Nachrichtenabteilung des argentinischen Diktators baute zunächst 1947 eine Fluchtroute über Nordeuropa, dann 1948 eine Südroute durch die Schweiz und Italien auf und wurde durch einflussreiche Kreise unterstützt, in der Schweiz etwa durch Mitglieder der Regierung.“ Es gab noch andere Schleuser, und „sie alle wähnten sich im weltweiten Abwehrkampf gegen Kommunismus, ‚jüdischen Kapitalismus’ und Missstände der Demokratie. Sie glaubten an die Unvermeidlichkeit eines Dritten Weltkriegs, und ihrer Verschwörung lag eine Verschwörungstheorie zugrunde.“ Man könnte meinen, eine solche Gruppe von Spinnern sei ohne allzu großen Aufwand unschädlich zu machen gewesen, aber sie hatte eine schützende Hand über sich: „Die westlichen alliierten Geheimdienste duldeten das Komplott, das sie unmittelbar nach dem Krieg noch heftig bekämpft hatten.“
Auf die Frage warum, kommt die Antwort: die weltpolitische Lage hätte sich grundsätzlich gewandelt, und tatsächlich standen sich die USA und die Sowjetunion, bis eben noch die dicksten Freunde, plötzlich als unversöhnliche Feinde gegenüber, die miteinander den „Kalten Krieg“ führten. Der Ausdruck ist richtig nur in Bezug auf „die Erste und die Zweite Welt“, also den „Ost- und den Westblock“, die Dritte Welt musste diesen Krieg siedend heiss führen. Ich habe an anderer Stelle erläutert, welchem Zweck der „Kalte Krieg“ diente, und will das Ergebnis hier wiederholen: Die Kolonialmächte hatten einsehen müssen, dass der Status von Kolonien unhaltbar geworden war, und das nicht nur weil der Aufwand, der betrieben werden musste, um sie zu kontrollieren, zu einem Fass ohne Boden wurde infolge der nie endenden Rebellionen der unterworfenen Völker, sondern auch weil sie die Ideen der Demokratie und der Völkerbefreiung im Gefolge der Aufklärung und der Gründung der USA selbst mitgebracht hatten. Man musste also eine andere Lösung finden, ohne die Macht über die eroberten Länder wieder aufgeben zu müssen. Und die angewandte Methode bestand darin, dass man die Länder zwar in die Freiheit entließ, aber durch die Grenzziehungen zuvor die Möglichkeit installiert hatte, jederzeit die Bewohner in Bürgerkriege zu verstricken und aufeinanderzuhetzen. Zusammengehörige Völker wurden in drei oder sogar vier Staaten zerteilt, und traditionell verfeindete Völker in einem Staat zusammengepfercht. Und nun musste man nur noch den Wettlauf der Systeme um die Weltherrschaft starten, wo der Westen für die Überlegenheit des Kapitalismus und seine schon vorher bestimmte Ausbreitung bis in den letzten Winkel anrannte, und der Osten spiegelbildlich für den weltweiten Sieg des Kommunismus eintrat. Es gehörte dann nicht mehr viel Aufwand dazu, um in den geschürten Bürgerkriegen der Dritten Welt die eine Partei in die Arme der Sowjetunion und die andere in die der USA zu treiben, von denen sie die Waffen und das Geld zum Führen dieser Kriege bezogen. Das Ende des „Kalten Krieges“ ist zu dem Zeitpunkt eingetreten, als das Ziel der Veranstaltung erreicht worden war und die geschundenen Länder sowohl moralisch als auch finanziell am Boden zerstört gewesen sind. Weil sie nicht mehr in der Lage waren, die Zinsen für ihre Schulden zu zahlen, geschweige denn diese selbst, wurden sie von der Weltbank und dem Weltwährungsfond, den zentralen Institutionen des Weltkapitals, übernommen. Und dann dürfen sie sogar Wahlen abhalten und den Zirkus mitspielen, den ihre Vorbilder und Geldgeber ihnen vormachen.
Was aber die „Rattenlinie“ betrifft, auf welcher „Naziverbrecher“ nicht nur nach Argentinien, sondern auch in andere lateinamerkanische Länder geschleust worden sind, so diente sie dazu, erfahrene Folterknechte mit dem Aufbau des dortigen Staatsterrorismus zu betrauen, der zur Lähmung der gesellschaftlichen Dynamik in jenen Ländern geführt hat. Ein ungeheuer großes Potential ist auf diese entsetzliche Weise auf Generationen hinaus zerstört worden, wovon wir eine Ahnung bekommen, wenn wir die Musik der bunt gemischten und schönen Menschen auf uns wirken lassen, und ich nenne hier nur den Rumba, den Tango, den Samba, den Calypso, den Son und den Salsa.
Die Auffassung des Menschen als einer Dreifaltigkeit von Körper, Seele und Geist ist sehr alt, auf lateinisch heissen sie Corpus, Anima und Spiritus, auf griechisch Soma, Psychä und Pneuma, und auf hebräisch Gwijah, Näfäsch und Ruach. Neuerdings werden sie anders benannt, doch sind sie noch immer dieselben, und die Naturwissenschaft in Gestalt der Biologie hat sie bestätigt: das zentrale Nervensystem in seinen bewussten Anteilen ist das Reich des Geistes, das vegetative Nervensystem, das ohne die Einmischung des Bewusstseins besser funktioniert, weil es uralte Nervengeflechte im Bauchraum enthält, die wie Gehirne arbeiten, ist das Reich der Seele, zu dem auch alle Emotionen gehören und damit bestimmte Bereiche im Schädelgehirn, die als Stammhirn zusammengefasst werden können und die wir mit den uns verwandteren Tierarten teilen; das Reich des Leibes im strengeren Sinn umfasst die Basis der anderen beiden, den Stoffwechsel und die Bereitstellung von Energie, sowie die dazu gehörigen Organe und Organsysteme, das Gefäß-, das Bewegungs- und das Verdauungssystem, die Lungen, die Leber, die Nieren und auch die in zwei Funktionen getrennten Sexualorgane, die so gut zueinander passen, dass es eine Lust ist, wenn sie sich ungestört finden.
In der alten Auffassung gilt die Seele als der zentrale Teil zwischen Körper und Geist naturgemäß als der Vermittler zwischen diesen beiden, und wenn sie dem Teufel verkauft worden ist oder in anderer Weise behindert, dann wütet ein schrankenlos gewordenes Großhirn über den eigenen Körper und die Körper von Fremden, die garnicht genug gefoltert werden können, weil für den Seelenlosen der Anblick der Gequälten so etwas wie ein Narkotikum ist, das ihm hilft, seine eigene Leere zu übertünchen und dabei noch einen höhnischen und fragwürdigen Triumf zu genießen in der Auslöschung von Seelen, Leibern und Geistern. Wenn wir die Dreifaltigkeit des Menschen, die ihm gegeben ist und nicht ernsthaft bestreitbar, mit der Heiligen Dreifaltigkeit von Gott Vater, Gott Sohn und Gott Heiliger Geist vergleichen, werden wir zugeben müssen, dass der Heilige Geist schon kraft seines Namens dem Geist entsprechen muss; der Sohn ist aber so unverkennbar die Seele, dass er wie diese gefoltert und bestialisch ermordet wurde, um uns zu zeigen, dass sie unsterblich ist; bleibt als dritter übrig der Vater, der unvermeidlich dem Körper entspricht. Und hier wird das patriarchale Vorurteil der Dreifaltigkeit deutlich, denn da der Corpus von der Mutter gebildet wird und nicht vom Vater, der lediglich den Antstoß dazu gibt, muss an seiner Stelle die Mutter stehen. Die katholische und auch die orthodoxe Kirche haben Maria, die Mutter Jesu, als einzigen „bewiesenen“ Fall dargestellt, wo ein Mensch in die Heilige Dreifaltigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist aufgenommen wird, das ist die Himmelfahrt Mariä am 8. August; aber eigentlich hätte es der Vater nötig gehabt, in den Dreierbund als Vierter aufgenommen zu werden, der verborgene Vater, von dem Jesus zu uns spricht und der keinen Zugang zu unserer Welt hat, wenn wir ihn nicht bei uns einlassen. Und wenn das Denken zum Geist gehört, das Fühlen zur Seele und die Sinnesempfindung zum Körper, dann ist die vierte Potenz genauso verborgen wie jener Vater und tritt wie er nur dann in Funktion, wenn wir sie zulassen, die Intuition.
Ruach, der Geist, ist im Hebräischen weiblich, und der Heilige Geist, Ruach Kadoschah, ist wörtlich der Geist einer Tempelhure, also einer Dienerin im Heiligen Haus der Göttin der Liebe; das zeigt auch das Symbol des Heiligen Geistes, die Taube, die seit alters ein Tier der Liebesgöttin ist, schon durch ihr verliebtes Gurren und Turteln. Daher muss noch eine Umbesetzung vorgenommen werden in der Dreiteilung, oder besser gesagt eine Apokalypsis im Sinne des Wortes, eine Enthüllung der Frau und der Göttin; wenn Jesus von Nazareth der Sohn Gottes ist, dann ist Mirjam von Magdalah die Tochter Gottes an seiner Seite, die seit alters auch Chochmah auf hebräisch, Sofia auf griechisch und Sapientia auf lateinisch genannt wird, auf deutsch die Weisheit. Denn erst dann erfüllt sich der unerschöpfliche Spielraum des Großhirns und seines Bewusstseins, der die Überlegenheit der menschlichen Rasse über alle anderen gebracht hat, wenn er aufs innigste mit dem „Unbewussten“ verknüpft ist, wie in der Umarmung von Gottes-Sohn und Gottes-Tochter, die sich als Wonne und Glückseeligkeit dem ganzen Corpus mitteilt, der ganzen Erde mit ihren Bewohnern. Dann muss die Seele nicht mehr die Notschreie eines Gefolterten röcheln und die Panikattacken und die Alpträume auslösen, die Herz- und Gehirnschläge sowie die fürchterlichen Geschwüre, denn der Geist ist dann eine Heilige Geistin geworden, die von sich aus schon das Ganze erspürt.
In dem Buch „Russische Geschichte“ von Günther Stökl, Stuttgart 1997, findet sich der Hinweis: „Das russische Mönchtum kennt so wenig wie das griechische Orden.“ Und ich bin dem Autor dafür sehr denkbar, denn dieser Umstand war mir in noch keiner anderen Lektüre mitgeteilt worden, obwohl er eminent wichtig ist. Ich hatte bis dahin ohne nachzudenken die Vorstellung, die der christliche Westen (die römisch-katholische Kirche oder der von „Westrom“ aus geleitete und organisiert Bereich), vom Mönchtum vermittelt, auch für den christlichen Osten unterstellt. Im Westen hat Benedikt von Nursia das Mönchtum schon im sechsten Jahrhundert in die Bahn seines mustergültigen Ordens gelenkt, und aus dieser Keimzelle sind sehr viele Orden entsprungen, die den Westen nachhaltiger prägten als sich der heutige Europäer vorstellen kann. Es waren ja nicht nur die auch politisch schon sehr aktiven Mönchsorden allein, in der Zeit der Kreuzzüge kamen die Ritterorden dazu, deren Einfluss noch weiter reichte war, und nach ihnen kamen die Orden aller Arten, deren Tendenz immer mehr in Richtung Geheimhaltung ging. Der Jesuiten-Orden war ein herausragendes Beispiel, bestens geführt und bereit, die Erziehung der Fürstensöhne zu übernehmen, was ihnen dann auch die Freimaurer nachgemacht haben, die in mancher Hinsicht eine Kopie davon sind, obwohl sie ein weit umfassenderes Operationsgebiet haben.
Benedikt von Nursia hielt die sexuelle Triebkraft für teuf-lisch, und das haben seine Nacheiferer über viele Jahrhunderte genauso empfunden; wenn sie sexuell erregt waren oder einen feuchten Traum hatten, dann kamen diese Regungen für sie nicht aus ihrem eigenen Körper, sondern vom Teufel, der sich der Frauen bediente. So sah es jedenfalls das Großhirn dieser Mönche gewordenen Männer, und die Hexenverfolgung, die vom Ende des 15. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts wütete, ist ein entsetzliches Beispiel für die Macht eines abgespaltenen und wild projizierenden Großhirns, das sich in Massen gleich geschaltet hat mit den Großhirnen anderer Kranker. Auf diesem Boden ist die Überlegenheit des Westens über den Osten und die übrige Welt erwachsen, denn um die Grundlage der Naturwissenschaft mit der ihr eigenen „Objektivität“ und „Neutralität“ auch beim abscheulichsten Experiment hervorzubringen, war diese Spaltung notwendig. Und in den Folterungen der als Hexen denunzierten Frauen, deren Vollstrecker besonderes Augenmerk auf die Geschlechtsorgane richteten, arbeiteten handwerklich nur die Folterknechte, die Herren Ärzte und Inquisiteure verglichen die Wunden der blutenden und schreienden Frauen völlig gefasst und übernüchtern mit den Texten in ihren Fachbüchern zum Thema Satan.
Es mag sein, dass die Geschichtswissenschaft die Existenz eines Mönches namens Berthold Schwarz nicht nachweisen kann und sie deshalb für legendär hält. Aber oft sind in Legenden Wahrheiten versteckt, und dass es ein Mönch gewesen sein soll, der das „Schwarzpulver“ erfand, erscheint mir sehr logisch. Die Leistungen der Militärtechnik waren es jedenfalls, die den Sieg des Westens ermöglichten, und der Geist, der dieser innewohnt und sie immer eindrucksvoller erweiterte und perfektionierte, ist von Grund aus destruktiv. Er ist in den Orden gezüchtet worden und aus der perversen Spaltung des Menschen geht er hervor. Er hat sich sehr lange gehalten, und im 19. Jahrhundert, im „Viktorianischen Zeitalter“, wo England an der Spitze der westeuropäischen Mächte die Erschließung der Welt abschließen konnte, trieb er schauerliche Blüten in der Heuchelei des „Puritanismus“, dessen Früchte in den Exzessen des 20. Jahrhunderts aufgingen; und auch heute scheint er nicht wirklich geschwächt, obwohl es immer mehr Leute gibt, die sich einen Dreck um ihn scheren oder ihn sogar tätlich angreifen.
Für meinen Kontext bedeutsam ist die Gestalt von Peter, dem „Großen“, der als Zar von 1696 bis 1725 Russland regierte. Bei Stökl lesen wir die Zeilen: „Der Machtkampf am Hofe war entschieden, aber die düstere Atmosfäre des Strelitzenaufstandes hatte gezeigt, wie weit Moskau noch vom aufgeklärten Europa entfernt war. Es sollte eines stärkeren Willens, als ihn Sofia einzusetzen hatte, bedürfen, um diese Entfernung zu überbrücken und die Schatten einer verzweifelten Rückständigkeit zu lichten.“ Mit dem stärkeren Willen ist der von Zar Peter gemeint, und die Sätze beziehen sich auf eine Palastrevolution, die eigens zu dem Zweck inszeniert worden war, um den Willen des zur Rettung Russlands bestimmten Erlösers zu stählen. Zar Aleksej, der Vater von Peter, hatte diesen schon ganz bewusst mit seiner zweiten Frau gezeugt, weil ihm der Nachwuchs von seiner ersten zu schwächlich erschien. „Von den 13 Kindern seiner ersten Ehe waren fünf Knaben gewesen, und zwei davon, Fjodor und Iwan, waren bei Peters Geburt (1672) noch am Leben. Trotzdem mag es der Wunsch nach einem vollwertigen Erben gewesen sein, der den frommen Zaren Aleksej zu einer nach streng orthodoxer Auffassung fragwürdigen zweiten Ehe führte, denn Fjodor war krank und Iwan so minderbegabt, dass man nicht hoffen konnte, er würde jemals regierungsfähig werden.“ Als Aleksej Anfang 1676 starb, musste man seinen ältesten Sohn „zum Leichenbegängnis tragen“. Trotzdem wurde er der neue Zar, starb aber sechs Jahre später, und „ein improvisierter ‚Zemski Sobor’ der Trauergesellschaft wählte nach dem Leichenbegängnis den zehnjährigen Peter zum Zaren“. Ein „Zemski Sobor“ ist so etwas Ähnliches wie ein Staatsrat, und die Hintermänner dieser „improvisierten“ Ernennung sollen die Naryschkins, die Angehörigen der Mutter von Peter gewesen sein, in einen Machtkampf verstrickt mit den Miloslawskis, den Angehörigen der Mutter von Fjodor und Iwan, der ja noch am Leben war. Und diese hätten nach der Einsetzung Peters den „Strelitzenaufstand“ entfacht, um Iwan unter der Regentschaft seiner Schwester Sofia an die Macht zu bringen. Von den Strelitzen (das sind wörtlich die „Schützen“) hören wir: „Die Zeiten, da die Strelitzen ein Produkt des militärischen Fortschritts dargestellt und den Kern des Moskauer stehenden Heeres gebildet hatten, waren lange vorbei. Schlecht bezahlt und durch allerlei kleinbürgerliche Nebenberufe dem Soldatenhandwerk entfremdet, waren sie zu einer Garnisonssoldateska herabgesunken, die von ihren adligen Offizieren kaum weniger ausgebeutet wurden als der leibeigene Bauer durch den Grundbesitzer.“ Sie waren von den mit Hilfe westeuropäischer Spezialisten modernisierten Heereseinheiten überholt und nur noch nicht aufgelöst worden, weil sie für Palastintrigen verwendbar waren.
„Eine völlig skrupellose Agitation verbreitete unter den Strelitzen die Meinung, dass alle Miloslawskis Verräter seien, und das Gerücht, die Naryschkins hätten den Zaren Iwan ermordet, brachte am 15. Mai 1682 den Tumult offen zum Ausbruch.“ Wer waren die „skrupellosen Agenten“, und wie konnten sie die Strelitzen dermaßen aufhetzen, „dass sich Natalja (die Mutter von Peter) mit Iwan und Peter der aufgebrachten Menge zeigte“ -- und diese sich trotzdem nicht beruhigte? „Vor den Augen des zehnjährigen Peter wurden sein Onkel Afanasi Kirillowitsch Naryschkin, Marwejew und andere von der Freitreppe im Kreml auf die Lanzenspitzen der unten stehenden Strelitzen gestürzt, Peters Mutter selbst schien aufs äusserste bedroht. Niemals hat Peter diese grauenhafte Szene vergessen, er hat den Moskauer Kreml von diesem Tag an gehasst.“
Ich glaube, dass dieser Hass das eigentliche Ziel der Aktion war, denn wenn die Miloslawskis wirklich den Sturz der Naryschkins beabsichtigt hätten, warum ließen sie sich dann die Gelegenheit entgehen, auch Peter mitsamt seiner Mutter auf die Lanzen der Strelitzen zu schmeissen?
Hinter den Familienintrigen spielte sich noch etwas ganz anderes ab, und das wird in den folgenden Ereignissen deutlich. Die Strelitzen waren vor allem deshalb von der nach westlichem Vorbild modernisierten Armee ausgeschlossen, weil sie „Altgläubige“ waren, das heisst sie waren der altüberlieferten Liturgie treu geblieben, die im Jahr 1653 durch eine gewaltsam durchgesetzte Verordnung von oben verändert worden war, was die Kirchenspaltung auslöste, den „Raskol“. Nach ihrem erfolgreichen Putsch waren die Strelitzen so kühn, dass sie „am 5. Juli 1682, drei Monate nachdem der geistliche Führer des Raskol (d.h. der Altgläubigen), Awakum, verbrannt worden war, ein öffentliches Religionsgespräch zwischen Altgläubigen und Orthodoxen im Kreml erzwangen. Die Lage in Moskau wurde allmählich auch für (die Regentin) Sofia bedenklich. Ende August verließ sie mit der Regierung die Stadt, um vom Dreifaltigkeitskloster aus den Adel zu mobilisieren.“ Ein gewisser „Fürst Iwan Andrejewitsch Chowanski spielte dabei eine sehr unduchsichtige Rolle“ – und dieser Mann sollte nicht der letzte beiben in der Geschichte Russlands von nun an, auf den dieser Satz passt. Obwohl die Strelitzen sich beugen mussten, hielt man sie immer noch für so gefährlich, dass es schrecklicher Strafgerichte bedurfte, um sie ganz auszulöschen, und diese wurden von Peter persönlich geführt. Kurz vor seiner berühmten 1697 angetretenen und 1698 beendeten Reise in den Westen, wo er sich vor allem in Holland und England aufhielt, deckte er eine Verschwörung gegen sein Leben auf, die angeblich von den mit den Strelitzen im Bunde stehenden Miloslawskis ausging. „Die Strelitzen und die Miloslawskis, das war eine Kombination, die Peters Hass von Kindheitstagen aufrühren musste und eine Reaktion von grauenhafter Symbolkraft hervorrief: Der Zar ließ die sterblichen Überreste des 1685 verstorbenen Iwan Miloslawski exhumieren und so auf der Richtstätte lagern, dass sie vom Blut der gevierteilten Verschwörer überströmt wurden.“ Aber damit noch nicht genug, nach seiner Rückkehr „standen die ersten Wochen und Monate ganz im Zeichen der blutigen Abrechnung mit den Strelitzen. Es gibt Berichte, dass Peter sich an den Folterungen und Massenhinrichtungen persönlich beteiligt habe.“ Die Strelitzen konnten zu diesem Zeitpunkt nicht mehr wirklich staatsgefährdend gewesen sein, denn sonst hätte sich Peter nicht so unbekümmert lange im Westen aufhalten können, worum es ging war ein Massenexempel, das dem ganzen russischen Volk galt. Der Anlass, „die Meuterei einiger Strelitzenregimenter, die man von Azow an die Nordwestgrenze verlegt hatte, war keine ernste militärische Gefahr. Sie war im Grunde nicht mehr als die verzweifelte Aktion einer seit Jahren gedemütigten, in ihrer Existenz bedrohten und in ihrem Weltbild erschütterten Menschengruppe. Ohne Zweifel bildeten die Strelitzen, eine Art verbürgerlichtger Janitscharen, ein militärisch nur sehr wenig brauchbares und politisch unter Umständen gefährliches Element. Sie aus der Hauptstadt zu entfernen, zu reformieren oder vielleicht überhaupt aufzulösen, war ratsam.“ Stökl ist der Meinung, dass Peter die Strelitzen „als ‚die Saat der Miloslawskis’ nur hassen konnte“, und „so hat er sie in ihrer Truppenehre gekränkt, wo er nur konnte, indem er die von Ausländern geführten Truppen neuer Ordnung sichtbar vorzog. Vor Azow waren die Strelitzen so eingesetzt worden, dass sie die weitaus schwersten Verluste davontrugen, und nun sollten sie auf Grenzgarnisonen verteilt, d.h. von ihren Familien getrennt und ihres längst traditionellen Nebenerwerbs beraubt werden. Dagegen meuterten sie. – Dass die Folterungen von Tausenden primitiver Menschen die gewünschten Geständnisse ergaben, nimmt nicht wunder. – Im September 1698 wurden etwa Tausend, im Februar noch einmal mehrere Hundert hingerichtet, im Juli 1699 wurden alle noch bestehenden Strelitzenregimenter aufgelöst, kein ehemaliger Strelitz durfte je wieder Soldat werden. – Die Verfolgung erstreckte sich auch auf die Familien: Es wurde Befehl gegeben, weder eine der Frauen noch eins der Kinder der mit dem Tode bestraften Strelitzen aufzunehmen.“ Die Nachrichten von diesen Methoden drangen durch einen Bericht „des kaiserlichen Gesandtschaftssekretärs Korb“ nach Westeuropa, und Leibniz, der ein großer Bewunderer des Zaren gewesen war, äusserte seine Bedenken, woraufhin ihn „der Amsterdamer Bürgermeister Nicolaus Witsen“ zu beruhigen versuchte: „Da sei nichts zu befürchten, ‚denn es herrscht dort die Sitte, die Frauen, die Kinder und selbst alle Verwandten der Hingerichteten nach Sibirien und in die entfernten Gegenden zu schicken’.“
Noch heute wird die Figur von Peter, dem „Großen“ vom Klischee der Operette „Zar und Zimmermann“ und dem einer Lichtgestalt für den Westen verhüllt. Als im Jahr 2003 die 200-jährige Gründung von Sankt Petersburg von Putin in einem Staatsakt gefeiert wurde, zu dem alle mächtigen Männer der Welt antraten, da wurde dem Logenbruder Peter gehuldigt, der sich in dieser Stadt ein Denkmal gesetzt hat (und das zweitweilig ein anderer Bruder Leningrad taufte). Sie war auf dem Tod von unzähligen Zwangsarbeitern auf den Sümpfen der Newa erbaut, das „Fenster zum Westen“, das der Zar so sehnlich erflehte. Und nur wenn er zu diesem heraussah, konnte er als das erwünschte Idol bestehen, nicht aber in seinem eigenen Volk, denn dort war er verhasst wegen der unermesslichen Not, die seine vielen Kriege dem Land gebracht hatten und auch wegen seiner gewaltsamen Art, in die russische Lebensart einzugreifen, was bis in die persönliche Sfäre hineinreichte, so verbot er allen Männern den Bart, und wer mit einem solchen herumlief, der wurde gewaltsam geschoren, ausserdem duldete Peter in seiner Umgebung nur Leute in westlicher Kleidung.
„Der (nordische) Krieg ließ die altmoskauer Relikte rasch verschwinden und eine neue Armee von lebenslänglich dienenden Berufssoldaten entstehen, die sich aus allen Bevölkerungsschichten mit Ausnahme der Geistlichen und der wirtschaftlich unentberhrlichen Kaufleute rekrutierten. Dies war neu, dass auch die Tiaglye Ljudi, die ‚Steuerleute’, zum regulären Dienst mit der Waffe herangezogen wurden. Zwangsaushebungen ergaben 30 000 bis 40 000 Rekruten im Jahr, die von 1705 an in Rekrutendepots kaserniert und ausgebildet wurden. Misst man diesen jährlichen Zuwachs an der Tatsache, dass sich am Ende von Peters Regierung die Armee gegenüber den Zeiten Golycins mit 210 000 Mann kaum mehr als verdoppelt hatte, so ergibt sich ein ungeheurer Menschenverschleiss, der zum geringsten Teil auf Gefechtsverluste zurückging. Mangelhafte Versorgung und Unterbringung sowie die enormen Marschleistungen, die man von der Truppe verlangen musste, waren die Hauptursachen des Soldatenschwundes, und es lag eine grausame Ironie in der Bezeichnung ‚unsterbliche’, d.h. vom Gestellungsbezirk jeweils zu ersetzende Rekruten. Massendesertionen waren eine gewöhnliche Erscheinung, und nur unbarmherzige Härte brachten es fertig, aus den zum Dienst gezwungenen Bauern in einem knappen Jahrzehnt eine anerkannt vollwertige Armee zu bilden.“
Diese „unbarmherzige Härte“ erinnert sehr stark an die zur gleichen Zeit aufgebaute Armee von Preussen, und auch im Geist der „Toleranz“ herrscht eine auffällige Ähnlichkeit zwischen dem Großen Peter von Russland und dem Großen Friedrich von Preussen. Der erstere hat schon vor dem letzteren gesagt, „dass ein jeder Christ in russischem Dienst auf seine eigene Verantwortung sich die Sorge seiner Seeligkeit lasse angelegen sein“. Auch in der Erziehung der beiden finden sich Parallelen, dem Friedrich wurde als Jüngling zugemutet, der Hinrichtung seines Freundes Katte beizuwohnen, und beide sind auch perfekte Heuchler gewesen. Was den Peter betrifft, so hat er das mit der geistlichen Freiheit natürlich nur im Interesse des Staates gemeint, in dem er „die sofortige Meldung jedes staatsschädigenden Verhaltens zur allgemeinen Untertanenpflicht, in den Worten Kljutschewskis die ‚Denunziation zu einer Art Naturalsteuer’ machte.“ Und die Kirche baute er in den Staatsapparat ein: „Die Mitglieder des Synod (eines von Peter neu geschaffenen Organs zur Leitung der Kirche) mussten wie alle Beamten den Untertaneneid leisten, der sie unter Umständen im Staatsinteresse zum Bruch des Beichtgeheimnisses verpflichtete.“ Die „Klosterreform“ Peters „ging weit über die staatliche Nutzbarmachung des Klosterbesitzes hinaus. Peter hat den Josefinismus bis ins Detail vorweggenommen. Kontemplatives Asketentum, wie es im östlichen Mönchtum vorherrschte, hielt er für im höchsten Grad nutzlos.“
Der „Josefinismus“ ist die Regierungsform von Josef, dem Sohn von Maria-Theresia, der später als „aufgeklärt“ galt und ein Protektor der Freimaurer war, und „bis ins Detail gleich“ sind die Maßnahmen der Logenbrüder immer gewesen, weil sie dasselbe Ziel haben: „alle Sondergruppen und Sonderrechte zu nivellieren“, was Stökl die „Tendenz des Absolutismus“ nennt. Und in der Tat ist der „absolute Staat“, den es aufzubauen und zu kontrollieren galt, über die Jahrhundert hinweg und bis heute der Leitwert. Peter hat indem er mit den Kosaken aufräumte noch eine andere historische Großtat in diesem Sinne vollbracht. Jene „Sondergruppe“ ist eine nur in der russischen Geschichte zu findende Gemeinschaft von Menschen gewesen, die aus entlaufenen Bauern bestand und fortwährend noch mehr Bauern dazu animierte, das immer schlimmer drückende Joch abzwerfen und das Heil in den Steppen im Niemandsland zwischen den Russen und den Tataren zu suchen. Die Gelegenheit für den Schlag gegen sie ergab sich im Nordischen Krieg: „Der westlich gebildete Jesuitenzögling Mazepa, das Oberhaupt der Kosaken von des Zaren Gnaden, hatte seit jeher eine skrupellos egoistische Machtpolitik getrieben, die allen überlieferten kosakischen Freiheiten ins Gesicht schlug“. Den Überlauf dieses Mannes auf die schwedische Seite zu einem Zeitpunkt, da die Truppen des Zaren der zu weit nach Süden vorgepreschten schwedischen Armee der Nachschub bereits abgeschnitten hatten, nahm Peter zum Anlass, sich grausam an allen Kosaken zu rächen und sie entscheidend zu schwächen.
Seine letzte abscheuliche Tat vollbrachte Peter mit der Ermordung seines eigenen Sohnes, von der wir bei Stökl lesen: „Aleksej war ein mäßig begabter und willensschwacher Mensch, der gerade jene Aktivität und jenes staatsmännische Interesse nicht aufzubringen vermochte, das der Vater von ihm erwartete, und der eben deshalb auch nicht zum Führer der vielschichtigen Opposition werden konnte, die im geheimen auf ihn setzte. Das Ergebnis war eine Thronfolgertragödie von erschütterndem Ausmaß. Als Peter dem Sohn den freiwilligen Verzicht auf die Nachfolge und den Rückzug in ein Kloster verwehrte, floh Aleksej 1716 zu seinem Schwager Kaiser Karl VI., ließ sich aber dann doch durch den skrupellosen Peter Tolstoj wieder zur Rückkehr aus seinem italienischen Asyl in St. Elmo bei Neapel nach Russland bewegen. Ein eigens gebildetes Sondergericht von hohen Würdenträgern verurteilte ihn am 24. Juni 1718 zum Tode, überließ aber die Entscheidung dem Zaren. Noch ehe sich Peter zu ihr durchgerungen hatte, starb Aleksej, wahrscheinlich an den Folgen der Folterung, am 26. Juni.“ – „Schon am 3. Februar 1718 hatte Peter den Nachfolger verloren, als er in einem Manifest allen Untertanen kundgetan hatte: ‚Kraft väterlicher Gewalt, die auch jedem unserer Untertanen nach den Gesetzen unseres Staates das Recht gibt, seinen Sohn zu enterben, und als autokratischer Herrscher nehmen wir um des Staatsnutzens willen unserem Sohn Aleksej das Recht der Nachfolge auf unseren allrussischen Thron, selbst dann, wenn keine andere Person in unserer Familie mehr übrig bleiben sollte’.“
Stökl beurteilt die Sache so: „Eine organisierte Verschwörung zum Zwecke des Staatsstreichs hatte die Untersuchung nicht aufdecken können. Wenn Aleksejs Geliebte aussagte, der Thronfolger habe die Absicht gehabt, die Residenz nach Moskau zurückzuverlegen, die Flotte aufzulösen, keine Eroberungskriege mehr zu führen und das Heer zu reduzieren, so war das doch weniger ein zielbewusst verfolgtes Programm als Ausdruck eines offenbar weit verbreiteten Ruhebedürfnisses.“ War die Ermordung des Sohnes, der in Italien ein für seinen Vater völlig ungefährliches Leben geführt hatte, nur aus der Befürchtung erfolgt, dass sich oppositionelle Gruppen der Person Aleksejs bemächtigen könnten, oder gab es dafür noch einen tieferen Grund? Ich glaube, dass Peter mit diesem politisch eher sinnlosen Mord ein Vorbild setzen wollte für das Ideal des Staatsbürgers, der im Interesse des Staates über jedes persönliche Gefühl hinweggehen muss.

Ich überspringe jetzt einige Herrschergestalten, mache aber auf einen Umstand aufmerksam, den wir immer im Auge behalten sollten: „1768 begann Russland, um die finanziellen Aufwendungen für den Türkenkrieg zu erleichtern, mit der Ausgabe von Banknoten, ein Jahr später nahm die Regierung die ersten Auslandsanleihen auf. Immer neue Kriege und immer neue Erfordernisse der inneren Verwaltung führten zu immer häufigerer Anwendung der neuen Finanzierungsmethoden. Die negativen Folgen blieben nicht aus: Am Ende von Katharinas Regierung (von 1762 bis 1796) hatte der Papierrubel bereits 32% von seinem Nominalwert eingebüßt, und die auswärtige Verschuldung des Staates überstieg bereits 50 Millionen Rubel.“ Mit dem Anstieg der Schulden bei westlichen Ländern war Russland von dort aus immer erpressbarer geworden, und ein Ring der Abhängigkeit legte sich über das Land, dessen Kraft von den jeweils offiziell „Herrschenden“ völlig losgelöst war.
Aus dem Gebiet der Pädagogik ist zu vermelden: „Für die Dienstbeflissenen schuf man besondere Anreize: Wer an einem der beiden der (1755 in Moskau gegründeten) Universität angeschlossenen Gymnasien, eines für den Adel, eines für den Nichtadel, das Abitur bestand, erhielt den persönlichen Adel, wer sein Universitätsexamen erfolgreich ablegte, wurde Oberoffizier.“ Diese Maßnahme diente dazu, den alten erblichen Adel mit dem neuen „persönlichen“ zu einem einheitlichen Dienstadel zu verschmelzen, der dem Staat alles verdankte. Und weiter: „Katharinas langjähriger Berater in Schulfragen, Iwan Beckoj, sah die Lösung in Internaten, die dem Schüler nicht nur Wissen vermitteln, sondern ihn auch, fern vom abträglichen Einfluss der Familie, erziehen sollten.“ Das sind vermutlich die Eliteschulen gewesen.
„Zur selben Zeit, da Katharina II. in vielen ihrer Maßnahmen eine heftige Reaktion auf die revolutionären Ereignisse in Frankreich zeigte, war der Unterricht ihrer Enkel dem Schweizer César La Harpe anvertraut, der völlig in den umstürzenden Ideen der Aufklärungsfilosofie lebte“ – das heisst mit anderen Worten ein Freimaurer war. Wie wenig die gegenrevolutionäre Attitüde der Zarin die Aufnahme der Freimaurer in Russland ausschloss, wird aus der fogenden Bemerkung deutlich: „Eine nicht geringe Bedeutung bei der Entstehung einer neuen geistigen Atmosfäre (unter Katharina II.) kam den Freimaurerlogen zu, die sich in den siebziger und achtziger Jahren großer Beliebtheit erfreuten und ihrerseits einem sehr bezeichnenden Wandel vom ungetrübten Rationalismus der Aufklärung zu mystischen, mitunter aus ziemlich trüben Quellen gespeisten Lehren unterlagen.“ Diese „mystischen Lehren“ sind aber genauso pseudo-mystisch wie die ganze Freimaurerei, weshalb ein derartiger Wandel garnicht stattfinden musste -- allerdings eine Anpassung an die Landesverhältnisse. Und mit den „trüben Quellen“, über die er sich nicht weiters ausspricht, meint der Verfasser vielleicht die Vorfahren der „Theosofen“ um Madame Blawatski, aus denen die „Anthroposofen“ unter Rudolf Steiner hervorgingen, oder die „Schwarzen Hundertschaften“, die sich besonders bei den Pogromen gegen die Juden hervortaten und von der Regierung unterstützt wurden, oder auch die Kreise, die Rasputin in den Hof des letzten Zaren einschleusten.
Alexander I., der Schüler von La Harpe, regierte von 1801 bis 1825 und ging als „Retter Europas“ (vor Napoleon) in die Geschichte ein und dann als „Gendarm Europas“, denn er mutierte nach seiner Kehrtwendung vom Befreier der Völker zum Kerkermeister der Reaktion und rief die „Heilige Allianz“ ins Leben. Von diesem Zaren sagt Stökl: „Er ist schon den Zeitgenossen rätselhaft erschienen, und die Historiker quält bis heute das Problem, dass in ihm eine Persönlichkeit geschichtswirksam geworden ist, die sich dem zugriff des Erkennens und Einordnens immer wieder entzieht.“ – „Auch Menschen, die Alexander sehr nahe standen, wurden niemals das Gefühl los, dass er sein Inneres verberge, auch dann und gerade dann, wenn er rückhaltlos offen zu sein schien“. Das ist eine vortreffliche Beschreibung eines in die obskuren Mysterien der Fraumaurerei (oder einer ihrer zahlreichen Filialen) Eingeweihten, der seine Seele an die Sekte verkauft hat. Aber damals war das Volk noch nicht ganz so betört wie heutzutage, denn einem „Bericht der österreichischen Geheimpolizei aus der Zeit des Wiener Kongesses“ ist zu entnehmen, dass man ihn „für einen Heuchler hielt, für einen Menschen ohne moralisches Fundament, obwohl er über Religion sprach wie ein Heiliger und seine religiösen Pflichten sorgfältig wahrnahm’.“
Zum familiären Hintergrund dieses undurchsichtigen Mannes gehört die Beseitigung seines Großvaters, Zar Peter III., dem Gemahl „der Prinzessin Sophie Friederike von Anhalt-Zerbst, mit der dieser Peter 1745 verheiratet wurde und die als Katharina II. in die Weltgeschichte eingehen sollte.“ Sie sei „in siebzehnjähriger Ehe seine Todfeindin geworden“, und nachdem Peter sechs Monate im Amt war, erfolgte am 28. Juni 1762 der Staatsstreich, in welchem „die von den Brüdern Orlow gewonnenen Garderegimenter die Kaiserin als Selbstherrscherin proklamierten; acht Tage später kam der auf dem Landsitz Ropscha internierte Peter III. unter niemals ganz geklärten Umständen ums Leben.“ Der Sohn dieses Peters war der Vater von Alexander und kam nach dem Tod Katharinas als Paul I. 1796 auf den Thron. „In der Nacht vom 11. auf den 12. März 1801 erfolgte zugunsten und mit Wissen des Thronfolgers Alexander der Staatsstreich, bei dem der Kaiser ums Leben kam, nach offizieller Lesart vor Aufregung vom Schlag getroffen, als ihn die Verschwörer zur Abdankung zwingen wollten, in Wahrheit ohne Zweifel durch Mord.“
Die Heuchelei des Alexander war nichts neues, Katharina II. hatte sie vorexerziert, indem sie es im Hinblick auf die Französische Revolution nur bei einem Rasseln mit den Säbeln beließ, während sie daran ging, sich mit Preussen und Österreich-Ungarn, die sich genauso verhielten, das Land Polen zu unterwerfen und unter sich zu verteilen. Und diese drei Länder, die maßgeblich dazu beitrugen, dass die Französische Revolution siegreich blieb, waren die Kerntruppe der „Heiligen Allianz“, die nach dem Sturz von Napoleon ganz Europa in einen Polizeistaat verwandelte, in dem sich das Kapital und die Industrialisierung ungebremst entfalten konnten.
Der ebenso einfache wie geniale Gedanke der Freimaurer (und Konsorten) besteht in folgender Logik: aus dem Studium der Geschichte war man zu dem Schlusse gekommen, dass der andauernde Streit um die Macht im Stil der tierischen Rivalen- und Revierkämpfe zu nichts führt, denn dem, der die Macht heute besitzt, wird sie morgen entrissen. Man musste sich also hinter den Kulissen dieses Theaters organisieren und seine Leute in allen Teilen der Gesellschaft plazieren, um im gegebenen Moment einheitlich handeln zu können; und dieser Moment tritt immer dann ein, wenn das Chaos, das man zuvor angezettelt hat, die Gesellschaft so weit zersetzt hatte, dass ein durchgreifendes Manöver zur Machterweiterung ausführbar wurde, und zwar auf internationaler Ebene, denn man war international organisiert. Die Freimaurer-Logen verbreiteten sich im 18. Jahrhundert in ganz Europa, und mit den USA hatten sie ihren ersten Weltstaat gegründet. Der war mit Bedacht erwählt und ausserhalb der europäischen Zwietracht angesiedelt worden, und je schlimmer die Kriege wurden, desto heller erstrahlte der Glanz der USA in der Welt. Der Toleranz in den Logen liegt der Gedanke der Effizienz zugrunde, denn wenn es egal war, welcher Religion oder welcher Schicht das neue Mitglied angehörte, weil die Freimaurerei angeblich an keine Weltanschauung gebunden, sondern nur eine Methode sei, dann hatte man bald alle gesellschaftlich relevanten Bereiche mit Agenten oder zumindest Informanten durchsetzt.
Durch „die ultrareaktionären Maßnahmen“ des Alexander „blieb den Liberalen nur die Wahl zwischen vorsichtiger Anpassung und dem Risiko der illegalen Betätigung. Geheimgesellschaften waren in Russland seit den Zeiten der Freimaurer, die unter Alexander I. wieder geduldet wurden, bekannt (Paul I. hatte sie offenbar zu unterdrücken versucht). Nach ihrem Vorbild bildeten 1816 in Petersburg einige Gardeoffiziere den ‚Bund der Rettung’ oder ‚der wahrhaften und treuen Söhne des Vaterlands’, der 1818 in den ‚Wohlfahrtsbund’ umgewandelt wurde. – Die Nachfolge traten zwei Geheimgesellschaften an, und zwar eine ‚südliche’ in der Ukraine und eine ‚nördliche’ in Petersburg. Beide setzten ihre Tätigkeit fort, auch als 1822 sämtliche Geheimgesellschaften verboten wurden, beide erfuhren Verstärkung durch gleichgesinnte Geheimzirkel, die sich unabhängig von ihnen gebildet hatten.“ Murjawjew, „der Theoretiker der nördlichen Gruppe, stellte sich die künftige Ordnung als einen föderativen Zusammenschluss etwa nach der Art der Vereingten Staaten vor“. – Pestel, der Theoretiker der südlichen Gruppe, „entwarf das Bild eines allmächtigen republikanisch-demokratischen Staates; in scharfem Gegensatz zu Murjawjew forderte Pestel einen extrem zentralistisch organisierten Staat und lehnte jeden Gedanken an einen föderativen Staatsaufbau ab.“
Dieser Superstaat sollte dann in Gestalt der „Diktatur des Proletariats“ Wirklichkeit werden, und der Übergang von den Freimaurern zu den marxistischen Zirkeln ist fließend, das Menschenbild und die Methoden sind gleich. Von einem gewissen P.N. Tkajtschjew, der von 1844 bis 1885 gelebt hat, ist zu erfahren, dass er „Ende 1873 in die Schweiz emigirierte, wo sich in Zürich seit einigen Jahren eine regelrechte Kolonie russischer Revolutionäre gebildet hatte“. Hier gab er eine Zeitschrift heraus, aber die Frage woher er, „der einer verarmten Adelsfamilie entstammte“, das Geld dazu hatte, wird weder gestellt noch beantwortet. Der Mann propagierte jedenfalls seine Auffassung, „dass es sinnlos und aussichtlos sei, die Massen des Volkes durch Propaganda für das Ziel der Revolution zu gewinnen; die Revolution sei zunächst kein sozial-pädagogisches, sondern ein rein politisch-technisches Problem, zu lösen nur als gewaltsame Machtergreifung einer streng diziplinierten Elite, die sich dabei aller zweckmäßig erscheinenden Mittel bedienen dürfe.“ Damit hat er den Typus der Kaderpartei, den Lenin realisierte, entworfen.
Ein anderer Mann lebte von 1847 bis 1882 und hieß S. G. Netschajew; mit Bakunin zusammen verfasste er den „Katechismus des Revolutionärs“, der mit den Sätzen beginnt: „Ein Revolutionär ist ein todgeweihter Mensch. Er hat weder persönliche Interessen noch Geschäfte, weder persönliche Gefühle noch Bindungen, nichts was ihm zu eigen wäre, nicht einmal einen Namen. Alles in ihm ist beherrscht von einem einzigen Ineresse, von einer einzigen Leidenschaft: der Revolution“. Diese Selbstauslöschung durch die Instrumentalisierung und Vergewaltigung der eigenen Seele ist auch bei den Freimaurern die oberste Tugend, und wer durch jahrelange „Arbeit an sich selbst“ aus einem „unbehauenen Stein“ zu einem behauenen wurde, der ist überall einsetzbar und somit der Größte. Für entwurzelte und ihrer Identität ohnehin schon beraubter Menschen mochte dieses Angebot durchaus verlockend erscheinen, und solcher gab es in Russland am Ende des 19. Jahrhunderts mehr als genug. Von linkem und rechten Terror zerrissen taumelte das Land von einer Krise in die andere, und von seiten der Regierung wurde die sich abzeichnende Revolution noch gefördert, denn ein einflussreicher Mann namens Pobjedonoscef „war der Meinung, dass eine durch den Druck der Obrigkeit ausgelöste gewaltsame Erhebung um vieles besser sei als jedes Nachgeben in Richtung einer Konstitution, eine Revolution könne man niedergeschlagen, eine Konstitution vergifte den ganzen Organismus von Staat und Gesellschaft“.
Dass dies nicht nur Theorie blieb, zeigen die folgenden Sätze: „In der Praxis wurden diese Mängel (gemeint sind die der Universitäten) dadurch behoben, dass die Polizei eben ohne rechtliche Grundlagen in den Hochschulen Ordnung schuf, bei größeren Unruhen, wie sie 1869, 1874 und 1878 stattfanden, mit Massenrelegierungen vorging und dadurch sehr erheblich zur Verbreitung revolutionärer Ideen im Lande beitrug.“ – „1875 entstand die revolutionäre Organisation ‚Land und Freiheit’, Zemlja i Wolja, unter zentraler Führung eines ‚Hauptkreises’. Noch war der Terror des geplanten und organisierten politischen Mordes nicht revolutionäres Prinzip, sondern Mittel zur Abwehr von Polzeispitzeln und zur Rache an besonders grausamen Polizeibeamten, aber das Vorgehen der Regierung, die 1887 und 88 in Massenprozessen vor Sondergerichtshöfen nicht nur zahlreiche Märtyrer schuf, sondern diesen Märtyrern auch noch Gelegenheit gab, in ihren Schlussreden das Regime anzuklagen und an das Gewissen der Gesellschaft zu appelieren, führte in kurzer Zeit zu einer Situation, die auf beiden Seiten eine Entscheidung erzwang. Das eindrucksvollste Symptom war der Prozess gegen Wera Zasulitsch am 31. März 1878. Diese hatte bei einem Attentatsversuch den Petersburger Stadtkommandanten General Trjepow, allerdings nicht lebensgefährlich, verletzt. Das Motiv des Attentats war die von Trjepow aus nichtigem Anlass befohlene Auspeitschung eines noch nicht rechtskräftig verurteilten Gefangenen; die Öffentlichkeit sollte auf die unmenschlichen und rechtswidrigen – seit 1863 war die Prügelstrafe in Russland gesetzlich verboten – Methoden bei der Behandlung politischer Gefangener aufmerksam gemacht werden. Dieses Ziel erreichte Wera Zasulitsch dank der unfreiwilligen Unterstützung durch den Justizminister Graf Pahlen in überwältigender Weise, denn Pahlen, der ein Exempel statuieren wollte, kam auf die für diesen Zweck sehr unglückliche Idee, das Attentat als kriminelles Verbrechen von einem normalen Geschworenengericht in öffentlicher Verhandlung aburteilen zu lassen. Das Gericht unter dem Vorsitz des angesehenen liberalen Juristen A.F. Koni sprach Wera Zasulitsch allen Beeinflussungsversuchen zum Trotz frei, nachdem die Verhandlung grauenhafte Einzelheiten an den Tag gebracht hatte, und die Creme der Petersburger Gesellschaft – anderes Publikum war nicht zugelassen – raste vor Begeisterung. Während sich das russische Imperium in der Rolle eines Befreiers unterdrückter Völker gefiel, klatschten höchste Würdenträger des Reiches einem Urteil Beifall, das einer schonungslosen Verurteilung des herrschenden autokratischen Regimes gleichkam. Die Regierung wusste nun, dass sie das in den letzten anderthalb Jahrzehnten angewendete System reaktionärer Halbheiten vollkommen isoliert hatte, und die Revolutionäre mussten in dem Gefühl bestärkt werden, dass die Gesellschaft hinter ihnen stand und dass es nur noch darauf ankomme, den Autokraten selbst zu beseitigen, um das Wunder der Revolution zu vollbringen.“
Ich kann nicht glauben, dass der Justizminister Graf Pahlen wirklich so dumm war, wie er hier hingestellt wird, und dass es ein Versehen gewesen sein soll, die verurteilten Revolutionäre noch öffentliche Erklärungen vor ihrer Hinrichtung abgeben zu lassen, denn nichts wäre einfacher gewesen, als die Prozesse vor einem Militärgericht unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchzuführen oder die Delinquenten ohne Verhandlung zu beseitigen. Und somit gibt es nur eine schlüssige Erklärung für das seltsame Verhalten der Regierung, bzw. der Leute, die sich des Regierungsapparates bedienten: die Revolution war unvermeidlich geworden, und man arbeitete daraufhin, sie in eigener Regie und der Mitwirkung der auf beiden Seiten (der revolutionären und der reaktionären) vertretenen eigenen Leute vorzubereiten und durchzuführen.
Vom letzten Zaren, Nikolaus II., der von 1894 bis 1917 regierte, wenigstens dem Schein nach, sagt Stökl: „Mit infantiler Hartnäckigkeit hielt er an einem Fantom der Selbstherrschaft fest, die auszuüben er gar nicht imstande war, und an einer unverantwortlichen Kamarilla, die in Wahrheit die Geschicke des Landes mehr und mehr bestimmte.“ Eine „unverantwortliche Kamarilla“ hatte in gleicher Weise den Kaiser Wilhelm II. von Deutschland umgarnt, um ihn in die imperialistischen Träume zu versetzen, die niemals wahr werden konnten. Und der Realitätsverlust des deutschen Kaisers und des russischem Zaren war eine Vorbedingung für den Ausbruch der größten Katastrofe, die die Welt bis dahin erlebt hatte, des Ersten Weltkriegs, der in Russland das Zarenregime hinweggefegt und in Deutschland den Kaiser. Auffällig ist dabei noch ein weiterer Umstand, nämlich die Zusammenarbeit von Teilen des Polizeiapparates mit der Gruppe um Lenin, die später „Bolschewiki“ genannt worden ist. Ich habe auf die bevorzugte Behandlung Lenins während seiner Verbannung in Sibirien, die zum Lebenslauf jedes angesehenen Revolutionärs gehörte, an anderer Stelle hingewiesen und dabei auch erwähnt, dass dem Verbannten der Empfang von Schriften und Büchern erlaubt war, so wie umgekehrt auch die Aussendung der von ihm selbst geschriebenen Sachen ins ganze In- und Ausland. Und von Stökl kommt die Information, dass in den Jahren „von 1906 bis 1914 über 3000 marxistische Publikationen in Russland erscheinen konnten“ -- wohlgemerkt „marxistische Publikationen“, die damit offen bevorzugt wurden. Die Marxisten und an erster Stelle die Bolschewiki arbeiteten lange vor der für sie erfolgreichen Revolution mit gewissen „Polizeiagenten“ zusammen, an die sie ihre Konkurrenten im Lager der Linken verrieten. Und auch der Bürgerkrieg zwischen den „Roten“ und den „Weissen“ diente zu nichts anderem als dazu, die „Ketzer“ mitsamt ihren Ideen aus der Welt zu schaffen – ein Fänomen, wie es in sehr ähnlicher Weise nach der Reformation zu beobachten war, wo im Krieg der Lutherischen und der Calvinisten gegen die Katholischen alle Menschen, die etwas anderes wollten als die Dogmatik dieser drei Lehren, wie zwischen Mühlsteinen zermalmt worden sind.
Stökl drückt es so aus: „Im Bürgerkrieg gelten nur die Extreme. Herrschte in Moskau die radikale Linke, so landete die Gegenrevolution, die im Juni 1918 mit sozialistischen Regierungen an der Wolga und in Sibirien begonnen hatte, schon im November 1918 mit der Militärdiktatur Koltschaks bei der radikalen Rechten. Die demokratische Mitte von den gemäßigten Sozialisten bis zu den Liberalen wurde zwischen den Extremen zerrieben und musste, da sie sich weder für die bolschewistische Parteidiktatur noch für eine reaktionäre Militärdiktatur entscheiden konnte, emigrieren.“ Weder von den Führern der „Weissen Armeen“ noch von den Alliierten kann behauptet werden, dass sie Lenin und seine Parteidiktatur ernsthaft beseitigen wollten. Von den ersteren heisst es: „Die mangelnde Koordination ist offensichtlich: Denikin erreichte die Wolga erst, als sich Koltschaks Armee bereits in vollem Rückzug befand; Pilsudski begann seine Offensive erst, als sich die Reste von Denikins Truppen bereits in Noworossisk eingeschifft hatten; und Wrangel griff erst an, als die polnische Offensive bereits gescheitert war.“ Und von den Alliierten erfahren wir: „Mit den Niederlagen Koltschaks und Denikins kam auch die Intervention an ihr Ende. Mit halbem Herzen unternommen und mit unzulänglichen Mitteln durchgeführt, teilte sie das Fiasko der Gegenrevolution. Es war symbolisch, dass der französische General Janin als höchster alliierter Offizier in Sibirien den ‚Obersten Regenten’ Koltschak, auf den die Alliierten gesetzt hatten und der sich am 4. Januar 1920 in Irkutsk unter ihren Schutz stellte, einem dort gebildeten ‚Politischen Zentrum’ aller Diktaturgegner auslieferte. Und es war ebenso symbolisch, dass diese nichtbolschewistische Institution den Admiral (Koltschak), als sich die Reste seiner Armee auf dem Fußmarsch durch den höllischen Winter Sibiriens Irkutsk näherten, ohne Gerichtsverhandlung am 7. Februar 1920 erschießen ließ.“
Stökl verrät leider nicht, in welchem Sinn er dieses Geschehen symbolisch versteht, aber die Ausmanövrierung von Bundesgenossen in dem Moment, wo sie ihren Zweck erfüllt haben, ist eine oft eingesetzte Methode. Und die Effizienz des Organisationsprinzps von „Logen“ oder „Kadern“ oder „Zellen“ besteht darin, dass nur ein sehr kleiner Kreis führender Männer eingeweiht sind in das, was wirklich gespielt wird, die unteren Chargen werden wie Figuren verwendet, die zu dumm sind, um zu begreifen, wozu sie sich benutzen lassen, weil sie in ihrer Beschränktheit die Identifizierung mit dem Idol der jeweiligen Gruppe für ihre Erlösung halten. Und aus den wenigen diabolischen Männern, die in der Lage sind, Menschen wirklich zu führen, und zwar hinters Licht, rekrutiert sich der innere Zirkel. Ein paar dieser intransigenten Gestalten schimmern in der Darstellung Stökls durch das Bild des noch zaristischen Russland: „Die Kampforganisation der Sozialrevolutionäre setzte unter der Leitung des 1908 als Poizeiagent entlarvten Azef die Kampfmethode des Einzelterrors systematisch fort.“ – womit sie sich isolierten. „Die Rechtsradikalen, der Bund des russischen Volkes, der Erzengel-Michael-Bund und andere, die sich ebenso wenig an Recht und Moral hielten und in Purischkjewitsch einen Führer hervorbrachten, der nur noch von dem Polizeiagenten Malinowski als Führer der bolschewistischen Fraktion in der vierten Duma an Fragwürdigkeit übertroffen wurde, brauchten das Licht der Duma-Öffentlichkeit nicht zu scheuen.“ (Die Duma ist das russische Parlament, das nach der gescheiterten Revolution von 1905 als Zugeständnis eingerichtet worden war). – „Während einer Festvorstellung der Kiewer Oper am 1. September 1911 wurde ein Attentat auf Stolypin (den Ministerpräsidenten) verübt, an dem er fünf Tage später verstarb – in einer furchtbaren Bestätigung des Wortes, dass einem Gruben, die man anderen gräbt, selbst zum Verderben werden können: der Attentäter war einer jener Doppelspieler, die zugleich der Revolution und der Staatspolizei dienten und von Berufs wegen beide betrogen. Die gerichtliche Untersuchung gegen die schuldigen Polizeibeamten verhinderte der Kaiser persönlich.“ Und noch ein letztes Beispiel: „Die deutsche Regierung setzte nach der Februarrevolution natürlich nicht auf eine neue kriegsfähige Ordnung, sondern auf eine friedensbereite Unordnung in Russland. Der Gedanke einer ‚destruktiven Russlandpolitik’ durch Einschleusen radikal-revolutionärer Elemente lag nahe. Brockdorff-Ranzau, damals Gesandter in Kopenhagen, die Oberste Heeresleitung und der Kaiser stimmten zu, und Dr. Alexander Helphand mit dem Pseudonym Parvus -- russischer Revolutionär, deutscher Sozialdemokrat, Großschieber und Berater der deutschen Regierung in einer Person – stellte die entsprechenden Verbindungen her. Das Ergebnis waren jene berühmten ‚plombierten Eisenbahnwagen’, in denen zunächst Lenin mit seinen Begleitern und danach noch mehrere hundert weitere russische Revolutionäre aus der Schweiz durch Deutschland hindurch nach Schweden transportiert wurden, von wo ihnen die Heimkehr über Finnland offen stand.“
Die Revolution vom Februar 1917 durfte keine Chance bekommen, sie musste ausgelöscht werden zugunsten der vom Oktober, welche die Autokratie nur in anderer Form wiederholte. Die Kontinuität beider Regime war ja viel größer als oft angenommen, und nur für die Zarenfamilie und die Emigranten hatte sie eine einschneidende Veränderung mit sich gebracht. „Die vielgerühmte Arbeiterkontrolle, die sich in Gestalt der Fabrikkomitees vielfach der Betriebsführung bemächtigt hatte, wurde stillschweigend beseitigt, die Fabriken erhielten ausschließlich der Zentrale verantwortliche Direktoren, häufig borgeoise Spezialisten, die allein imstande waren, die Produktion wieder inGang zu bringen.“ Und derselbe Rückgriff galt natürlich auch für den Verwaltungs- und Militärapparat, wobei diejenigen die besten Posten bekamen, die sich um die Sache als Ganzes verdient gemacht hatten. Insgesamt hatte sich nur die Fassade geändert, und das Volk fand sich in demselben Käfig gefangen wie unter der Autokratie, nur dass sie die Gitterstäbe anders angemalt hatten und die Methoden der Unterwerfung noch intensivierten. Gleich geblieben war auch die Politik der Unterdrückung der kaukasischen, zentralasiatischen und sibirischen Völker, nur dass sie noch raffinierter und brutaler betrieben wurde. Und die Alleinherrschaft unter Lenin und Stalin hat einen pseudoreligiösen Personenkult hervorgebracht, neben dem sich der der Zaren geradezu mickrig ausnimmt.
Infolge der siegreichen Revolution hatten die Bolschewiki unter Lenin und Stalin auch die Führung in der Kommunistischen Internationalen, dem Zusammenschluss aller kommunistischen Parteien der Welt, übernommen. Und „in der Neujahrsbotschaft an das russische Volk 1920 verkündete die Komintern: ‚Wir werden auch in Berlin und Warschau, in Paris und London Arbeiter- und Soldatenräte einsetzen, und die Macht der Sowjets wird sich dereinst über die ganze Welt erstrecken’.“ Schon zwei Jahre früher hatte „ein Redner auf dem 5. Allsowjetischen Kongress die eben angenommene Verfassung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik so interpretiert: ‚Wenn die Arbeiter und Bauern der verschiedenen Länder die günstigen Umstände ausnützen und dem Beispiel Sowjetrusslands folgen, dann wird die russische Sowjetrepublik früher oder später von Tochter- und Schwesterrepubliken umgeben sein, eine Vereinigung, die die Basis für eine Föderation zuerst Europas und dann der ganzen Welt bilden wird’.“
Das war der so genannte „Welt-Kommunismus“, der aber nie wirklich ernst gemeint war und von den Alliierten auch nie ernst genommen wurde. „1920 gelang es M. Litwinow, sein kleines Büro in Kopenhagen zu einer ersten inoffiziellen Sowjetvertretung im westlichen Ausland aufzubauen und als Ergebnis mannigfaltiger Kontakte die ebenso inoffizielle De-facto-Anerkennung Sowjetrusslands durch eine ganze Reihe von Staaten zu erreichen. Die britische Interventionsmacht ging hier eindeutig voran und stimmte in London am 16. März 1921 einem regulären Handelsabkommen zu.“ Im Rahmen seiner „Neuen Ökonomischen Politik“ hatte Lenin im selben Jahr „Konzessionen an private, meist ausländische Unternehmen erteilt“, aber „mit Rücksicht auf ihren vom marxistischen Standpunkt aus schockierenden Charakter“ insgeheim und nicht auf dem 10. Parteikongress behandelt.
Die Handels- und sonstigen Beziehungen zwischen Sowjetrussland und den hochindustrialiserten Ländern des Westens wurden durch diplomatische Verwicklungen, die bis zum äusserlichen Abbruch der Beziehungen gehen konnten (so zwischen Großbritannien und der Sowjetunion in der Zeit vom 27. Mai 1927 bis zum 1. Oktober 1929) niemals wirklich getrübt. Ein Spezialfall ist die Beziehung zwischen Russland und Deutschland: „Selbstverständlich wurden auch die deutsch-sowjetischen Beziehungen stets überschattet von den Gefahren einer weltrevolutionären Komintern-Aktivität, gegen die kein Abkommen mit der Sowjetunion Garantien bot. Wenn sie trotzdem eine erstaunliche Stabilität aufwiesen und der Berliner Vertrag 1931 durch ein Protokoll unbefristet verlängert wurde, dann lag das weniger an den politischen als an den ökonomischen Vorteilen der Zusammenarbeit. Die streng konspirativen militärischen Kontakte begann schon im Winter 1920/21; ihre Durchführung lag deutscherseits bei Reichswehrdienststellen, ‚Sondergruppe R’ im Reichswehrministerium, ‚Zentrale Moskau’ in der Sowjetunion, und entzog sich jahrelang der politischen Kontrolle. Für die Reichswehr boten sie die Möglichkeit, einschränkende Bestimmungen des Versailler Friedens zu umgehen und auf diese Weise den Anschluss an die moderne Entwicklung zu wahren; die Rote Armee dagegen gewann nicht nur Beteiligung an allen technischen Errungenschaften, sondern durch Teilnahme einzelner Vertreter an der deutschen Offiziersausbildung einschließlich der Generalstabsschulung auch Einblick in alle organisatorischen Details einer modernen Armee.“
Zur selben Zeit dieser gedeihlichen Zusammenarbeit hatte Stalin seinem Befehlsempfänger in Deutschland, dem Führer der KPD Ernst Thälmann, die Weisung erteilt, nicht in den Nationalsozialisten, sondern in den Sozialdemokraten den Hauptfeind der Kommunisten zu sehen und entsprechend zu handeln. Und unter den Augen der Alliierten, deren Geheimdienste ansonsten völlig unbrauchbar gewesen wären, rüsteten zwei Länder, die vom Ersten Weltkrieg schwer zerstört waren, schon zum Zweiten, in welchem sie ihre Führer gnadenlos aufeinander hetzen sollten. Perfide sind die fortwährenden Handels- und Kapital-Beziehungen der Sowjetunion mit den westlichen Ländern nicht allein wegen der Scheinrethorik der Komintern, sondern wegen der brutalen Unterdrückungsmaßnahmen der Sowjetdiktatur dem eigenen Volk gegenüber, was die Kapitalisten mit einem kalten Lächeln quittierten. „Die Petrograder Arbeiter antworteten mit einer Streikwelle, forderten freien Handel mit dem Dorf und so manches andere, was seit dem Oktober 1917 in Vergessenheit geraten war. Aber nun erwies sich, was Streik gegen die bolschewistische Sowjetmacht bedeutete: Der Petrograder Parteidiktator Zinowjew, eine der menschlich abstoßendsten Erscheinungen unter den bolschewistischen Führern, verhängte am 24. Februar (1921) das Standrecht über die Stadt, ließ Sonderabteilungen von Offiziersschülern gegen die Streikenden vorgehen und alle Menschewisten und Sozialrevolutionäre verhaften.“ (Die Menschewisten waren ursprünglich ein Teil der russischen Marxisten, die sich insgesamt verharmlosend „Sozialdemokraten“ genannt hatten, und sie trennten sich später von den Bolschewisten, weil sie als Frucht der Revolution keine Diktatur wollten, ebenso wenig wie die „Sozialrevolutionäre“.)
„Als Sympathiekundgebung für die Petrograder Arbeiter fasste die Besatzung des Schlachtschiffes ‚Petropawlowsk’ (das in Kronstadt vor Anker lag) am 28. Februar 1921 eine Resolution, der am folgenden Tag eine Versammlung von 16 000 Matrosen zustimmte, ohne dass der anwesende Kalinin, damals Vorsitzender des Zentralexekutivkomitees der Sowjets, dies verhindern konnte. Die Resolution begann mit der Forderung von Neuwahlen für den Sowjet unter den Bedingungen geheimer Stimmabgabe und freien Agitationsrechts für alle Arbeiter und Bauern vor der Wahl, sie forderte die Wiederherstellung der Grundfreiheiten ‚für Arbeiter und Bauern, Anarchisten und linkssozialistische Parteien’, die Befreiung aller politischen Gefangenen derselben sozialen und politischen Gruppen, die Überprüfung der Prozessakten in Gefängnissen und ‚Konzentrationslagern’, die Beseitigung der bevorzugten kommunistischen Zellen und Sonderabteilungen in allen Truppenteilen und Betrieben und ähnliches mehr.“ – „Wenn die Macht und die Einheit der Partei gefährdet schien, kannte Lenin keine Gefühle. Am 7. März begann der Angriff auf Kronstadt über das brüchige Eis des finnischen Meerbusens hinweg. Die Kronstädter wehrten sich verzweifelt, und die eingesetzten Truppen mussten mit der Waffe vorwärts getrieben werden. Zweihundert Delegierte des eben zusammengetretenen 10. Parteikongresses eilten aus Moskau herbei, um die politische Moral der Angreifer zu stärken. Erst am 18. März wurde Kronstadt erobert, und die Härte der Vergeltung entsprach der Härte des Kampfes. Die Zahl der Liquidierten wurde niemals bekanntgegeben, aber schlimmer noch als die fysische Vernichtung war die moralische, die aus dem Freiheitsschrei von Proletarieren eine weissgardistische Verschwörung machte und heute noch behauptet, die ‚Gegenrevolution’ der Kronstädter habe die ‚Diktatur der Bourgeoisie’ errichten und die kapitalistische Ordnung wiederherstellen’ wollen.“
Kennzeichnend für das System ist auch das Strafgesetzbuch von 1926, „unter dem jeder in der Industrie Tätige stand. In einer total verstaatlichten Industrie konnte jedes produktionsschädigende Verhalten als ein Angriff gegen den Staat aufgefasst und im Falle der Vorsätzlichkeit nach § 58 des Strafgesetzbuches als ‚gegenrevolutionäre Tätigkeit’ geahndet werden; dieser Paragraf sah in schweren Fällen das ‚oberste Strafmaß der sozialen Verteidigung’ vor, d.h. die Hinrichtung durch Erschießen.“ Ein weiteres Beispiel ist die Zwangskollektivierung der Bauern: „Stalin begann von der ‚Kulakengefahr’ zu reden und davon, dass man ‚gewisse Maßnahmen gegen die Kulaken’ werde anwenden müssen. Der dörfliche Klassenkampf, den man schon geschürt hatte, um die Requisitionen des Winters 1927/28 erfolgreicher zu gestalten, wurde gleich im Gang gehalten, um die Kolchoz-Bewegung in Schwung zu bringen. Die Erfolge blieben gering, und zwar deshalb, weil man es auf dem Dorf im allgemeinen eben nicht mit einer Klassenkampfsituation zu tun hatte – das war eine propagandistische Fiktion – sondern mit einer festgefügten Lebensgemeinschaft, die freiwillig nicht bereit war, sich selbst aufzugeben und in erzwungener Lohnarbeit auf den Kollektivwirtschaften für die Zwecke des Staates zu produzieren. Es blieb nichts übrig, als die volle Macht des totalitären Parteistaates gegen die bäuerliche Bevölkerungsmehrheit einzusetzen. In einer Rede vor Agrarexperten sprach Stalin am 27. Dezember 1929 zum erstenmal von der Liquidierung des Kulakentums als Klasse; das war der Beginn jener ‚Revolution von oben’, die Stalin stets für sein größtes Verdienst um die Sache des Kommunimus gehalten hat und die nach seinem eigenen Urteil mehr Menschenleben kostete als Revolution und Bürgerkrieg.“ – „Etwa eine halbe Million Kulaken – das waren nicht etwa getarnte Gutsbesitzer, sondern nach westeuropäischen Begriffen mäßig begüterte Mittelbauern – wurden im tiefsten russischen Winter deportiert, ohne dass irgendwelche Vorbereitungen zur Aufnahme in den neuen Siedlungsgebieten getroffen worden waren, von denen, die als ‚Gegenrevolutionäre’ sofort liquidiert wurden, ganz zu schweigen.“ – „Jene Kulaken, die nicht zum ‚konterrevolutionären Kulakenaktiv’ gerechnet und sofort verhaftet wurden, unterlagen nach der Konfiszierung ihres Eigentums der Deportation, ‚gewisse Elemente’ unter ihnen, nämlich die wohlhabendsten, der Deportation in entlegene Teile der Sowjetunion, die übrigen der Deportation in Neulandgebiete des Kreises, d.h. in unfruchtbare Sumpfgegenden, in denen es weder Häuser noch sonst irgendwelche Gebäude irgendwelcher Art gab; die letztgenannte Gruppe war unter Androhung schwerer Strafen ab sofort verpflichtet, vom neuen Land die gesetzmäßigen Ablieferungsquoten zu leisten und wurde ausserdem zu öffentlichen Arbeiten, Straßenbau usw., herangezogen. Es hatte kaum eine der drei Gruppen Grund, die anderen um ihr Schicksal zu beneiden, Selbstmorde waren an der Tagesordnung.“
„Als ‚Ausserordentliche Kommission gegen Konterrevolution und Sabotage’ trat die sowjetische Staatsicherheitsorganisation (unter dem Namen Tscheka) im Dezember 1917 ins Leben. – 1926 war Stalin in der Lage, diese Staatspolizei durch willfährige Kreaturen ganz in den Dienst seiner persönlichen Diktatur zu stellen. Es war der dadurch ermöglichte rücksichtslose Terror, der den Gegnern von Stalins Alleinherrschaft das Rückgrat brach, lange bevor sie politisch und am Ende fysisch liquidiert worden. Die diabolische Systematik der Liquidierung wirklicher oder möglicher politischer Gegner, wie sie Stalin praktizierte, hat in der Weltgeschichte nicht ihresgleichen.“ Leider versäumt Stökl es hier, diese Systematik in aller Deutlichkeit vorzuführen, und aus einer anderen Quelle weiss ich, dass vor den Schauprozessen, in denen die Angeklagten die absurdesten Schulden bekannten, eine neue Methode der Folterung angewandt wurde, nämlich die der Angehörigen der Angeklagten, ihrer Frauen und ihrer Kinder vor ihren eigenen Augen, eine Methode die sich bestens bewährt hat und seither auch anderenorts mit Erfolg eingesetzt wird.
„Von diesem Zeitpunkt (November 1929) gab es in der Führung der kommunistischen Partei niemanden mehr, der es wagte, eine andere Meinung als Stalin zu haben, geschweige denn zu äussern; von einem Widerstand mit auch nur minimaler Aussicht auf Erfolg war schon Jahre vorher nicht mehr die Rede. Aber es genügte dem Tyrannen nicht, gesiegt zu haben, er wollte vernichten. Im Zuge der großen Tschistka, ‚Säuberung’, die von der, wie heute feststeht, durch Stalin selbst veranlassten Ermordung des Leningrader Parteichefs Kirow am 1. Dezember 1934 ausgelöst wurde, fanden sowohl Zinowjew und Kamenjew wie Bucharin und Rykow den Tod durch Erschießen. Und selbst im fernen Mexiko brachte Stalin 1940 die Ermordung seines Erzfeindes Trocki zustande. Die prominenten Namen waren aber jeweils nur öffentlich zur Schau gestellte Symbole für die Austilgung ihres gesamten wirklichen oder vermeintlichen Anhangs innerhalb und ausserhalb der Partei. Die Ausmaße diesen Massenterrors, der fasenweise schwoll und abebbte, aber für die ganze Zeit der Stalinschen Herrschaft charakteristisch war, gehen über jedes Begreifen. Zur Sicherung der unbeschränkten Alleinherrschaft waren sie nicht erforderlich, sie gehören in das Gebiet der Psychopathologie des Tyrannen und seiner Werkzeuge.“
Wenn Stökl mit diesen „Werkzeugen“ nicht nur die Hintermänner meint, auf die sich der Diktator im eigenen Land stützen konnte, sondern auch die auswärtigen Mächte, die sein System stabilisierten, kann ich ihm zustimmen, „das Gebiet der Psychopathalogie“ erweitert sich dann aber erheblich. Und Stalin selbst hat immer durch und durch vernünftig gehandelt und den Auftrag, den er zu erfüllen hatte, nämlich die Zerstörung der Identität des russischen Volkes und der Völker im Machtbereich der Sowjetunion, getreulich erfüllt. Für die Russen hatte er noch einen besonders präparierten Pfeil in seinem Köcher: „Unter der Führung M. N. Pokrowskis, der die Qualifikationen des Berufshistorikers und des bolschewistischen Revolutionärs in sich vereinigte, hatte eine ursprünglich kleine Gruppe marxistischer Historiker im Kampf mit den Resten der bürgerlichen Geschichtswissenschaft allmählich eine Monopolstellung erlangt, die russische Geschichte im Geist und in den Kategorien des orthodoxen Marxismus abgehandelt und das historische Interesse praktisch auf die Vorgeschichte und Geschichte der Partei, auf die ökonomischen Veränderungen und auf die Fakten des Klassenkampfes reduziert. Geschichtsunterricht im üblichen Sinne verschwand aus dem Lehrplan der Schulen, und im Jahr 1932 fanden an der Universität in Moskau keine historischen Vorlesungen mehr statt.“ Mit dem Beginn des „Großen Vaterländischen Krieges“ 1941 gegen Nazi-Deutschland änderte Stalin seine Haltung, ließ sich unter die Helden der russischen Geschiche einreihen und die Waffen segnen vom Metropoliten, der völlig von ihm abhängig war.
Wie Stalin mit der Kirche umsprang, erhellt aus den folgenden Zeilen: „Bei dem modus vivendi, auf den der Metropolit Sergej im April 1927 einging, bestand der Gewinn der Kirche lediglich darin, dass sie den noch bestehenden Rest ihrer Organisation nun legal aufrechterhalten konnte. Die Kirche musste dafür eine Vertrauenskrise unter den Gläubigen in Kauf nehmen, und sie musste ungeachtet der Abmachungen mit dem Staat in den folgenden Jahren eine von der Partei organisierte Großoffensive der 1925 gebildeten ‚Liga kämpferischer Gottloser’ überstehen. Es war ja gar nicht nötig, dass die Initiative zur Schließung von Kirchen und Klöstern vom Staate ausging, dasselbe ließ sich durch planmäßge Entfesselung des Volkszornes erreichen, von dem sich der Staat erforderlichenfalls sogar distanzieren konnte. Die Stalinsche Generallinie hieß also zunächst: Aggressive Religionsbekämpfung mit allen Mitteln unter Wahrung einer Scheinneutralität des Staates; und Objekt dieser Offensive waren nun auch alle übrigen Religionsgemeinschaften.“
Diese „Scheinneutralität“ diente vermutlich zur Beruhigung der Öffentlichkeit in den westlichen Ländern, aber niemand kann mir weismachen, dass die dortigen Entscheidungsträger nicht gewusst hätten, was sich im Reich ihres Bruders Stalin abspielte, wovon ich jetzt noch ein letztes Beispiel geben will. Stalin oder seine Berater hatten erkannt, dass auch das Gebiet der Literatur und der anderen Künste nicht ausser Acht gelassen werden durfte, Stalin nannte die Schriftsteller „die Ingeneure der menschlichen Seele“ und ließ den „Schriftstellerverband“ gründen, „auf dessen erstem Kongress im August 1934, den A. A. Schdanjow (mit stimmhaftem Sch), der stalinistische Totengräber der sowjetischen Kultur, eröffnete, nur das eine klar wurde, dass die Literatur in Zukunft ausschließlich und uneingeschränkt den Zwecken des kommunistischen Parteistaates zu dienen habe. Und das galt nicht nur für die Literatur, sondern ohne Ausnahme für alle Gebiete des Kultur- und Geisteslebens.“ Es ist völlig egal, ob ein derart beschaffenes System sich kommunistisch nennt oder den Tenno als Himmelssohn ansieht oder den Führer als Werkzeug der Vorsehung, die Titel sind nicht maßgebend, denn der Inhalt ist immer derselbe.
Die USA hatten sich mit der offiziellen Anerkennung der Sowjetunion bis 1933 zurückgehalten, was aber nicht bedeutet, dass es nicht schon zuvor Beziehungen gab. Seit wann die Weizenlieferungen von den USA in die Sow-jetunion gingen, ist aus dem mir vorliegenden Material nicht ersichtlich, aber dass sie bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion, deren offizielle Auflösung am 8. Dezember 1991 erfolgte, und noch darüber hinaus erfolgten, ist eindeutig belegt. Nach den Maßnahmen Stalins gegen die Kulaken und der Zwangskollektivierung konnte die Landwirtschaft nicht mehr gesunden, und dazu kam noch, was man dem „Schwarzerdegebiet“ angetan hatte, dessen reiche Ernten es dem Zarenreich ermöglicht hatten, eine lange Zeit hindurch Getreide zu exportieren. Schon „die brutale Russifizierung des okkupierten Galizien im Winter 1914/15 gipfelte in einer Verschleppung der nationalbewussten ukrainischen Intelligenz. – Das Vorhandensein einer ‚ukrainischen Frage’ und die Existenz eines ukrainischen Volkes wurde von den großrussischen Chauvinisten hartnäckiger denn je bestritten, und so weit die Macht reichte, wurde der Versuch unternommen, die dieser Vorstellung nicht entsprechende Wirklichkeit gewaltsam zu verändern.“ Dieselbe Linie wurde von Stalin fortgesetzt: „Pokrowski persönlich setzte sich dafür ein, die in den zwanziger Jahren aufgeblühte ukrainische Geschichtswissenschaft zu liquidieren, und zwar sowohl in ihren nicht-kommunistischen wie kommunistischen Vertretern.“
Die Sowjetunion konnte sich nicht mehr selber ernähren und wäre ohne Waffenhilfe und andere Subventionen schon längst zusammengebrochen, wenn es nicht auf der Seite der Alliierten gewichtige Gründe gegeben hätte, sie so lange am Leben zu halten. Der erste Grund war, zu demonstrieren, wie es einem Volke ergeht, das es wagt, gegen den Kapitalismus zu rebellieren: es wird alles noch viel schlimmer als vorher -- und damit sollten die „Arbeiter und Bauern“ weltweit entmutigt werden. Und das zweite Ziel war – wie ich schon ausgeführt habe – die Spaltung der Dritten Welt in Jahrzehnte lang anhaltenden Bürgerkriegen, an deren Ende sich alle Länder im Besitz der Weltbank befanden. Auf den Treffen der großen drei Sieger des Zweiten Weltkriegs entschieden Stalin, Churchill und Roosevelt das Schicksal der Länder und Völker, und indem die Vertreter von Großbritannien und den USA damit einverstanden waren, dass ganz Osteuropa in die Hände von Stalin fiel, enthüllten sie ihren zynischen Geist. Sie hatten aber für diese Entscheidung durchaus rationelle Gründe, und während sie sich sagten, dass eine solche Kur diesen Völkern nicht schaden könnte, berechneten sie die Bilanzen. Da sie der Produktionskraft der schon länger unterdrückten Völker in der Sowjetunion nicht mehr trauen konnten und um ihre eigenen Beutel zu schonen, wurde die Last der Stabilisierung der Sowjetunion auf die Schultern der Mitglieder des „Warschauer Paktes“ verteilt, besonders der ostdeutsche Teilstaat, die DDR, war davon betroffen. Und diese hatte ein eigenes Subventionierungssystem mit der BRD, dem westdeutschen Teilstaat, das sah so aus: „Republikflucht“ aus der DDR war dort strafbar, und wenn 1961 nicht die Berliner Mauer gebaut worden wäre und der „Eiserne Vorhang“ geschlossen, hätte sich die DDR völlig entvölkert. Folglich wurde ein Geschäft abgeschlossen, in dem die eingekerkerten „Republikflüchtlinge“ von der BRD freigekauft wurden, und zwar nicht gegen Geld, sondern gegen Ersatzteile, die dringend benötigt wurden, um den Motor noch so lange am Laufen zu halten, bis man ihn entbehren konnte.
Genauso wie die alte Autokratie zu ihrem eigenen Untergang beitrug (Stökl spricht sogar von ihrem Selbstmord) hat auch die sowjetische Diktatur zu ihrem Untergang selbst beigetragen, wofür die Kriege in Afghanistan und Tschetschenien sprechen. Zehn Jahre lang (von 1979 bis 89) hat die Sojwtunion in Afghanistan gekämpft, und zwar völkerrechtswidrig, was aber den Weizenlieferungen der USA keinen Abbruch antat, um dann wie geschlagene Hunde wieder abziehen zu müssen, geschlagen von Taliban-Kämpfern, die von den USA und seinem Verbündeteten Pakistan aufgebaut wurden. Mit diesem Krieg eröffnete die Sowjetunion unter Breschnjew das Feld für die neue Front nach dem Verschwinden der alten, den Krieg gegen den Islam, und auch damit bewies sie, dass sie der geheimen Strategie getreulich gehorchte. Denn noch war der Islam insgesamt nicht besiegt, der im Koran das Zinsverbot stehen hat, das er aus der Thorah übernahm. Aber während in der „zivilisierten Staatengemeinschaft“ das Bewusstsein vom Zins und seiner Auswirkung völlig verschwunden ist, lebt es in der muslimischen Welt immer noch, obwohl es genügend Schleichwege gibt, das Zinsverbot zu umgehen, offiziell ist es noch nicht gefallen, und das ist ein wesentlicher Grund, einer solchen Welt den Krieg zu erklären.
Zum Zerfall der Sowjetunion trug auch der Reaktorunfall in Tschernobyl bei, der 1986 ausgerechnet in der Ukraine stattfand und von dem ich mir durchaus vorstellen kann, dass er inszeniert war. Unzweifelhaft ist aber der leichtfertige Umgang mit den Informationen durch die zuständigen sowjetischen Stellen, die bewirkten, dass unzählige Helfer aus der Ukraine und Weissrussland, dessen Grenze nicht weit von Tschernobyl ist, unnötig lange und völlig ungeschützt der schädlichen Strahlung ausgesetzt wurden, wovon die Verantwortlichen Bescheid gewusst haben mussten. Im Zusammenhang mit dem Krieg in Tschetschenien, der auch nach dem Zerfall der Sowjetunion von Russland bis heute geführt wird, kam ans Tageslicht, dass es der russische Geheimdienst war, der den Massenterror an Zivilisten, den er selbst bis nach Moskau hinein inszenierte, den Tschetschenen in die Schuhe schob, um den weiteren Krieg zu rechtfertigen. Wenn wir uns fragen, warum Russland es verkraften konnte, dass Lettland, Estland, Litauen, Weissrussland, die Ukraine, Georgien, Armenien, Usbeki-stan, Kirgisistan, Turkmenistan und Kasachstan, die alle-samt zur Sowjetunion gehört hatten, aus seinem Herrschaftsgebiet herausgelöst wurden und der Einfluss auf Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Bulgarien und den Ostteil von Deutschland verloren ging, aber eines so winziges Land wie Tschteschenien nicht, dann kann die Antwort nur lauten: in Tschetschenien war es weder den Russen noch den Westmächten gelungen, einen geeigneten Kopf zu installieren, und dergleichen durfte niemals und nirgends geschehen. Der dortige Krieg ist dermaßen brutal, dass es gefährlich ist, von ihm zu berichten, trotz der abgestumpften Haltung gegenüber Gewalttätigkeiten, die das Klima beherrscht. Denken wir an die russische Journalistin Anna Politkowskaja, die vor einiger Zeit vor ihrer Wohnung in Moskau erschossen wurde, weil sie Material über Tschetschenien gesammelt hatte und es veröffentlichen wollte, und an den ehemaligen Sowjet-Spion Alexander Litwinenko, der die Seite gewechselt und in London Zuflucht gefunden hatte, aber trotz seiner britischen Staatsangehörigkeit mit radioaktivem Polonium vergiftet wurde, weil er Material über die vom russischen Geheimdienst durchgeführten und den Tschetschenen unterschobenen Attentate herausbringen wollte. Er selbst hat im Sterbebett Putin für seinen Tod verantwortlich gemacht, den das nicht anficht, weil er weiterhin im Kreis der Großen willkommen ist, wo man im Rahmen einer Wirtschafts- oder Sicherheitskonferenz unter sich ist und sich konziliant den jeweils nötigen Terror einräumt.

Bevor ich auf das Buch „Der Flug des Drachen – Mao Tse Tung und die chinesische Revolution“ von Han Suyin (deutsche Ausgabe Esslingen am Neckar, 1977) eingehe, möchte ich eine Episode aus meinem Leben erzählen. Nach meiner unglücklichen Kindheit und Jugend schloss ich mich mit dem Beginn meines Studiums der Studentenbewegung an, wo ich einigermaßen auflebte. Ein besonderes Hochgefühl vermittelte die Vorstellung, wir seien mit der aufbrechenden Jugend der ganzen Welt in Verbindung, und besonders die Kulturrevolution in China und der Kampf der Vietcong gegen die USA, wo die Proteste der eigenen Bevölkerung immer heftiger wurden, beflügelte uns. Bei den großen Demonstrationen schrieen wir im Laufschritt und in Reihen untergehakt die Parole: „Marx, Engels, Lenin, Mao Dse Dong“, wobei die letzten zwei Silben einem Triumfgeschrei glichen und unlogischerweise der Name Stalin wegfiel, obwohl er von den Rotchinesen in die Reihe der großen Fünf aufgenommen blieb. Dazu kam als veritabler Kampfruf noch „Ho-Ho-Ho Tschi Min, Ho-HoHo-Tschi Min“. Auf der letzten zentralen Demonstration gegen die „Notstandsgesetze“ lief die Bewegung ins Leere, die Polizei hatte die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland großräumig besetzt, und nur die Durchgangsstraßen zur Schlußkundgebung der genehmigten Veranstaltung waren offen gehalten. Die Bewohner verkrochen sich hinter ihren Gardinen, und durch die menschenleeren Straßen hallte das Echo. Das Ganze hatte sich „Stermarsch auf Bonn“ genannt, und danach zerfiel die Bewegung in drei Teile, in einen terroristischen, esoterischen und politischen, welchletzterer die Kommunistische Partei Deutschlands nach dem Vorbild von Lenin und Mao wieder aufbauen wollte und das Scheitern der Bewegung mit dem „kleinbürgerlichen“ Geist der Beteiligten erklärte. Ich ließ mich von einem der zahlreichen Komitees anwerben, das sich „SALZ“ nannte („Sozialstisches Arbeiter- und Lehrlingszentrum“) und sich nachher in „KPD/AO“ umtaufte („Komunistische Partei Deutschland, Aufbauorganisation). Einen Arbeiter habe ich dort nie gesehen, nur einen ehemaligen Lehrling. Ich ließ mich zum Kader des „KHB“ schulen („Kommunistischer Hochschulbund“), wo ich eine Untergruppe zu leiten hatte und damit beauftragt war, die Zeitungsmeldungen über die „Befreiungskriege in der Dritten Welt“ zu sammeln und zu archivieren. Bei den Treffen auf „Kaderebene“ war immer ein „Oberkader“ vom Zentrum dabei, damit die richtige Linie gewahrt und der „demokratische Zentralismus“ verwirklicht werden konnte.
Zu jener Zeit hatte ich einen sehr gut bezalten Job als Nachtwache im Gefängniskrankenhaus von Hamburg, das an das Untersuchungsgefängnis angeschlossen ist und in das alle Kranken aus den Haftanstalten im weiteren Umfeld eingeliefert werden, wenn sie einer stationären Behandlung bedürfen. Die meisten kamen deshalb, weil sie sich aus lauter Verzweiflung den Bauch aufgeschlitzt oder Messer, Gabeln und andere Gegenstände verschluckt hatten, um eine Operation zu erzwingen, es gab dort eine ganze Sammlung von solchen Sachen, die zur Schau gestellt wurden. Meine Aufgabe bestand darin, die vom Gefängnisarzt verordneteten Medikamente zusammenzustellen und zu verteilen, und wenn mein Rundgang abgeschlossen war, auf dem mich ein Wärter begleitete, kehrte bis auf die nicht sehr zahlreichen Fälle, in denen ein Untersuchungsgefangener randalierte, die Nachtruhe ein, und ich hatte viel Zeit zum Lesen. Mein Vorgesetzter war ein extrem flegmatischer und schweigsamer Krankenpfleger, der die ganze Zeit nichts anderes tat als Fernschach zu spielen, von dessen Existenz ich bis dahin nichts wusste; er hatte ein kleines Schachbrett vor sich und jede Menge Postkarten, auf die er einen Schachzug schrieb, um sich dann die nächste Spielsitutation aufzustellen, sodass er in einer einzigen Nacht bestimmt mit fünfzig Gegnern gespielt hat. Ich selbst las ausführlich Lenin und machte mir Exzerpte aus seinen Schriften, um in den Sitzungen Eindruck zu schinden, und dünkte mich dem glatzköpfigen Schachspieler weit überlegen; während er die Wirklichkeit floh, glaubte ich, mitten darinnen zu sein, und erkannte erst später, dass ich genauso realitätsfremd war wie er, nur auf eine andere Weise. Gespürt muss ich das vorher schon haben, denn eines Nachts wollte ich über einen bestimmten Gefangenen mehr erfahren und erbat mir den Zugang zu seiner Krankenakte, was mir gewährt wurde. Von da an las ich nur noch die Krankengeschichten aus dem Archiv und war schockiert von dem, was diese Meschen durchgemacht hatten. Sie hatten fast alle schon sehr früh den Kontakt zu ihren Familien verloren und waren in Heimen aufgewachsen, und ich begann, sie mit anderen Augen zu sehen. Sie gehörten nicht in ein Gefängnis, sondern benötigten eine Therapie, weil sie unter den Umständen, die sie miterlebt hatten, krank werden mussten. Aber das wurde dort nicht gesehen, und am meisten war ich von einer unterirdischen Kammer entsetzt, in die renitente Sträflinge kamen: völlig nackt und allein wurden sie in den total leeren Raum eingesperrt, in dem nur ein Loch im Boden als Kloake da war, und rund um die Uhr von mehreren Kameras überwacht. Und wenn die Überwacher einen Groll auf einen solchen Widerborstigen hatten, dann erlaubten sie sich, die Temperatur herauf oder herunter zu regeln, denn dieser Raum war voll klimatisiert und neben den Bildschirmen, die den Gefangenen von allen Seiten zeigten, war die Schalttastatur für die Klimaanlage. Auf meine Einwände erklärten mir die Überwacher, das alles diene nur dem Heil des Gefangenen, der vor sich sebst beschützt werden müsste.
Bei einer Sitzung auf „Kaderebene“ geschah es eines Tages, dass mich der „Oberkader“ mit einer seiner Ausführungen nicht überzeugte, ich meldete mich zu Wort und wagte es, ihn in Frage zu stellen. Worum es ging, habe ich nachher schnell vergessen, und es ist auch völlig unwichtig, denn die Diskussionen bewegten sich im luftleeren Raum und mit der gestelzten Sprache der großen Vorbilder. Aber mein Einwand war geistreich und nicht widerlegbar, sodass der „Oberkader“ in Verlegenheit kam und mehrere Kader von meiner Ebene Zustimmung für mich zu erkennen gaben. In der nächsten Sitzung war der Oberkader von einem der drei Mitglieder der Zentrale begleitet, und dieser Superkader machte mich ohne jeden Sachbezug mit hohlen Sprüchen total zur Schnecke, wobei sein Angriff in die Anklage mündete, mein Denken sei kleinbürgerlich, und ich müsste daher öffentlich Selbstkritik leisten. Da die Donnerrede des Genossen mich total isoliert hatte, es herrschte ein eisiges Schweigen und die ganze Runde war wie erstarrt, bequemte ich mich zur Buße und fühlte mich verarscht und beschissen.
Und nun ereignete sich das für mich mehr als Beschämende, das mich zur Umkehr zwang, um meine Selbstachtung wiederzugewinnen: bei der nächsten Sitzung der Gruppe, wo ich der Kader war, knöpfte ich mir einen vor, der irgendeine Bemerkung gemacht hatte, und kanzelte ihn als kleinbürgerlich ab, indem ich den Superkader mit glänzendem Erfolg imitierte – die „Selbstkritik“ des Ertappten war unvermeidlich. Es muss um dieselbe Zeit herum gewesen sein, dass ich meinen lukrativen Job im Knast ganz plötzlich verlor. Es wurde mir keine Begründung für meine fristlose Entlassung gegeben, und ich erfuhr erst aus der Zeitung, dass der Gefängnisarzt des Terrorismus verdächtigt und untergetaucht war. Dieser Arzt war ein Freiherr von Seckendorff, dessen Vornamen ich vergaß, weil er immer nur der „Secki“ genannt worden ist. Ich kannte ihn von den Gründungsversammlungen des KHB, hatte ihn dann aber aus den Augen verloren, es hieß, er sei zur DKP übergetreten und wir bedauerten seinen Verlust an den „Revisionismus“. Später sah ich ihn auf den Fahndungsplakaten, worauf die Angehörigen der „Baader-Meinhof-Clique“ abgebildet waren, was er verbrochen hat, wurde nirgends gesagt, und er wurde auch nie gefasst, das letzte, was ich von ihm hörte, war, dass er mit anderen Gesinnungsgenossen in der DDR eine neue Identität erhalten habe.
1972 fuhr ich in den Urlaub nach Marokko, woraus der zweite Band meiner gesammelten Werke hervorging, der sich noch sehr aktuell mit dem „Marxismus-Leninismus“ beschäftigt, und dort habe ich das bei den „Emm-Ellern“ Erlebte „Sandkastenspiele“ genannt, mit denen wir die Revolutionen in Russland und China nachgeahmt hatten. Ich habe daraus gelernt, dass es völlig egal ist, mit welchem Vokulabur sich die uralten Machtspiele tarnen, und nach meiner Rückkehr zusammen mit einem anderen kritischen Genossen einen Totalangriff auf den „KHB“ gestartet, an dem er zerbrach. Eine Nachwirkung gab es dann doch noch: als ich 1981 meine Zeit in Eichstätt beendete, bekam ich eine offizielle Mitteilung, aus der hervoorging, dass die jahrelange Abhöraktion gegen mich, die im Zug der Terroristenbekämpfung durchgeführt worden sei, nunmehr eingestellt werde. Das war damals noch Usus, heute dagegen erfährt kein Mensch mehr, der abgehört und überwacht wird, etwas davon, es sei denn er wird verhaftet.

Han Suyin, die Autorin des genannten Buches über Mao, ist laut Klappentext die in China geborene Tochter einer Belgierin und eines chinesischen Ingenieurs, hat ihre Kindheit in Peking verbracht, in Brüssel Medizin studiert und nach ihrer Rückkehr einen General aus der Armee von Dschiang Kai Schek geheiratet, dann begann sie, Bücher zu schreiben und „lebt heute als freie Schriftstellerin in der Schweiz“. Warum sie nicht in Rotchina lebt, wird nicht ersichtlich, denn sie gibt sich als glühende Verehrerin von Mao Dse Dong zu erkennen, den sie kein einziges Mal eines Fehlers bezichtigt, sie bescheinigt ihm im Gegenteil „ideologische Lauterkeit“ und preist ihn unter anderem mit den Worten: „Maos Beitrag für die Menschheit besteht darin, dass er den Massen Tür und Tor zum Selbstbewusstsein und zur Humanisierung geöffnet hat. Er kannte die Menschheit in ihrem frühen Kindesalter und tat das Seine, um ihr zur Reife zu verhelfen.“ Als Resümee ihres Buches, das den Zeitraum von 1949 bis zum Tod des „Großen Steuermanns“ im September 1976 behandelt, schreibt sie: „Mao ist tot, aber das Ferment des Protestes und der Revolte, der demokratische Prozess, den er in Gang gebracht und mit dem er die Vorstellung ‚Wie soll der Sozialismus sein?’ verändert hat – all das ist in China sehr lebendig und wird nicht aufhören.“
Damit hat sie sich als falsche Profetin erwiesen, denn der „demokratische Prozess“ im Sinn der permanenten Revolution von Mao ist spätestens 1989 mit dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking vor aller Augen zum Stillstand gekommen. Die Truppen der „Volksbefreiungs-Armee (VBA)“, die den friedlichen Protest gewaltsam niederzuschlagen hatten, mussten mehrmals ausgetauscht werden, denn sie fraternisierten mit den Demonstranten, und erst einer aus dem Hinterland herbeigeholten militärischen Einheit, der man weismachen konnte, die Feinde des Landes hätten sich zusammengerottet, gelang es, das Blutbad zu Ende zu führen. Seither bringt es in Rotchina nur der zu etwas, der reibungslos funktioniert im Getriebe des Staatskapitalismus und sich dabei bereichert, wie man es von ihm erwartet, und wer das nicht einsehen will, der wird eliminiert.
An der Darstellung von Han Suyin kann also etwas nicht stimmen, denn sonst wäre ihre Prognose nicht so gründlich daneben gegangen. Trotzdem enthält sie eine Reihe von wertvolen Informationen. Betrachten wir zunächst, was sie unter der „ideologischen Lauterkeit“ versteht, die nicht nur das Wesen des Großen Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Chinas so mustergültig erfüllte, sondern um deretwillen er auch die Kampagnen in Gang gesetzt hat, die das Antlitz des Landes gründlich verändert haben. Eines der Grundprinzipien von Mao heisst „Einigkeit, Kritik, Selbstkritik, Einigkeit auf neuer Grundlage“, und damit konnte er sich als Gegner der fysischen Gewalt und der willkürlichen Bestrafung profilieren, die deswegen jedoch keineswegs abgeschafft wurden, sondern als abschreckende Maßnahme für die völlig Verstockten weiterhin vollzogen wurden, allerdings unter einem scheinbar anderen Kommando als dem seinen. Das Prinzip verlangt die freie Meinungsäusserung aller Beteiligten bis hin zu „gegenseitigen Offenbarungen“, damit sich „alle guten und schlechten Ideen und Vorurteile zeigen, die in der Gesellschaft im Schwange sind, die wohlriechenden Blüten ebenso wie das giftige Unkraut“. – „Unweigerlich würden sich bei einer solchen Bewegung ‚Missgeburten und Ungeheuer’ vordrängen, und weil sie meinen, ihre Gelegenheit sei gekommen, werden sie sich enthüllen -- das ist ein Gesetz der Geschichte’.“
Und was ist nun „die proletarische Tugend“? Es ist „die unaufhörliche Arbeit an sich selbst“, die von jedem Partei- und Volksgenossen im Dienst des Kommunismus verlangt wird, ein typisches Freimaurerziel, und es wird hier nicht nur innerhalb eines Zirkels, sondern für ein Milliardenvolk angestrebt. „Mit der Parole ‚Von der VBA (Volksbefreiungsarmee) lernen’ wurden nacheifernswerte Vorbilder hervorgehoben. Das herausragendste war Le Feng, ein junger Soldat, der bei einem Zugunglück sein Leben opferte, um andere zu retten. Er fiel nur durch den bemerkenswerten Eifer auf, mit dem er die ganz gewöhnlichen Dinge tat; er tat sie bescheiden, gründlich und zurückhaltend. Doch dieser Antiheld war ein Volksheld, weil er so typisch für die ‚Massen’ war – der Sohn eines armen Bauern, der in seinem Leben nichts weiter sein wollte, als ‚eine rostfreie Schraube’, der dem Volk mit reinem Herzen dienen wollte. Er nähte Knöpfe für seine Kameraden an, kehrte Böden, die andere dreckig gemacht hatten, schickte Geld an den Vater eines Kameraden, ohne seinen Namen zu nennen. -- Immer war er froh, nie teilnahmslos, nichts langweilte ihn, und seine anspruchslosen und unauffälligen guten Eigenschaften machten ihn liebenswert, weil er andere mehr liebte als sich selbst.“ „Eine rostfreie Schraube“ im Getriebe des Machtapparates, das ist nichts anderes als eine Umschreibung für den „behauene Stein“, der sich überall einsetzen lässt.
Ein wahrer Heiliger müsste dieser Le Feng gewesen sein, wenn er echt wäre, doch der letzte Satz -- „Er liebte andere mehr als sich selbst“ -- entlarvt das Ganze als Heuchelei. Von den „1964 demobilisierten Offizieren und Mannschaften der VBA, die in den zivilen Überbau eingegliedert wurden, um die politische Erziehung in den Städten zu verstärken und bei den Säuberungen zu helfen“, schreibt die Autorin: „Sie waren wie Le Feng, mitreissend wie ein schnelles Wasser, unbewaffnet, angenehm, unaufdringlich – und sie beschämten etliche Bürokraten, denn Lauterkeit hat große Kraft.“ Des weiteren schreibt sie: „Das Konzept von der unwandelbaren menschlichen Natur wird vom Marxismus abgelehnt. Denn der Mensch ändert sich, er wird von dem System geformt, in dem er lebt. Zwar hat er 6000 Jahre Klassengesellschaft hinter sich, zwar kann es noch einige Jahrhunderte dauern, bis gewisse Eigenschaften ausgemerzt sind, die ihn in die barbarische, ausbeuterische Vergangenheit zurückziehen, aber der Mensch kann wählen, was er werden will, und das impliziert die willentliche, unablässige Bewusstheit seiner selbst, die ständige Gedankenreform. Revolutionen sind bewusste Veränderungen, und sie werden umso bewusster, je mehr die Völker der Welt ihr Bewusstsein erweitern. Zu diesem Willensakt von Millionen Menschen, die die Revolution wollen, gesellt sich ein Willensakt gegenüber dem Selbst, das sich ebenfalls verändern muss; und damit besteht die Zukunft des Menschen aus der Veränderung des Menschen, er soll bewusst die sogenannten ‚Triebe’ der Gier, des Egoismus, der Unmenschlichkeit gegenüber anderen ablegen.“
Dieses Konzept gleicht aufs Haar der pathologischen Gewissensprüfung, die von Wesley, dem Begründer der „Methodisten“, nicht nur von sich selbst verlangt wurde, sondern von allen Mitgliedern seiner „Freikirche“. Ich habe als Kind in einem der Heime dieser Organisation mehr als zwei Jahre zubringen müssen, und noch immer bin ich von der „Gehirnwäsche“, die dort betrieben wurde, schockiert; alle Kinder wurden gezwungen, ein Tagebuch zu schreiben und in der Gruppe laut zu beten, um seine Sünden zu beichten, wogegen ich mich gewehrt habe und dafür büßen musste. Diese öffentliche Beichte war auch in Rotchina üblich, wie aus der fogenden Stelle hervorgeht, die sich auf „die gegen die Konterrevolution gerichteten Bewegungen von 1952 und 1955“ bezieht: „Einige, die es nicht ertragen konnten, auf diese Weise belästigt zu werden oder vor Menschen ‚das Gesicht zu verlieren’, die sie als unterlegen betrachteten, begingen Selbstmord. Und obwohl ihre Behandlung milde war im Vergleich zu dem, was bei anderen Revolutionen in anderen Ländern geschah, reagierten die Intellektuellen im großen und ganzen sehr negativ auf die ständige Kontrolle, den Mangel an Ehrerbietung, die langen und ermüdenden Versammlungen, bei denen sie ihre Seelen und ihre Untaten offenbaren mussten.“
Von den Schriftstellern heisst es: Sie „wurden inkonsequent behandelt, einmal mit Härte, wenn es den Funktionären des Kulturministeriums nötig erschien, aktiv in einer Bewegung hervorzutreten, und dann, wenn die Bewegung abflaute, folgte wieder vollständiges Gewährenlassen. – ‚Uns war einmal heiss und einmal kalt, wir wurden verhätschelt oder beleidigt, aufgefordert, unsere Gedanken scharf zu kritisieren, oder bekamen enorme Honorare für minderwertige Stücke“, sagte ein Schriftsteller. Ein anderer schrieb, die Repräsentanten der Partei hätten sie behandelt, ‚wie Affen, die durch den Reifen springen sollen’.“ Auf die Zweigleisigkeit des Vorgehens, die sich insgesamt in den „Zwei Linien“ darstellt und sich in Mao Dse Dong auf der einen Seite und Liu Schao Dschi auf der anderen verkörpert haben, komme ich noch zurück.
Das Konzept der mit Hilfe eines veränderten Menschen neu zu erschaffenden Gesellschaft erinnert sehr stark an den „Gottesstaat“, den Calvin in Genf aufgebaut hat, nur die Kulissen sind etwas anderen Farben gehalten, aber die Methode ist ein und dieselbe. Und hier ist eine grundsätzliche Überlegung notwendig. Warum sollte sich die menschliche Natur in den vielleicht zehntausend Jahren, in der sie gezwungen ist, in Massengesellschaften zu leben, verändern? So kurzatmig ist die Natur nirgendwo, und was sich in Millionen von Jahren entwickelt und bewährt hat, wird nicht einer rasch vergehenden Mode zuliebe geopfert. Die menschliche Natur ist in der sehr langen Zeit geprägt worden, da die Menschen in überschaubaren Horden zusammenlebten als Jäger und Sammler und Schamanen. Die „bösen Triebe“ gab es dort nicht, denn sie wären sinnlos gewesen. Hätte einer zum Beispiel das Messer seines Nächsten gestohlen, dann hätte er damit garnichts anfangen können, denn wenn er es benutzt hätte, wäre er von dem Bestohlenen danach gefragt worden, und so hätte er es vergraben müssen -- doch wozu es dann stehlen? Dies ist mir klar gewordenauf einer Azoren-Insel, auf der ich mich 1980 aufhielt, denn dort gab es auf der ganzen Insel nur einen einzigen Polilzisten, und der hat sich tödlich gelangweilt, weil die Leute sich alle kannten. Nur in der Anonymität der Massengesellschaft, die mit den ersten Städten und Reichen entstand, hat die Kriminalität eine Chance.
Die Ansätze zu den „bösen Trieben“ finden wir schon bei den Affen, allerdings wurden sie dabei von Menschen provoziert und beobachtet; eine Forscherin legte ein Büschel Bananen an den Rand einer Affenhorde, und ein Affe war offenbar dazu fähig, einen falschen Alarmschrei auszustoßen, um sich in dem Moment, wo seine Genossen die Quelle der Gefahr ausfindig zu machen versuchten, mit dem Büschel Bananen aus dem Staube zu machen. Ein gewiefter Affe gewiss, und heute imitiert ihn die Mehrheit der Menschen, aber wenn wir uns die Situation in der Wildnis vor Augen halten, dann hätte ein solches Verhalten zur Zerstörung der Horde geführt, da der Alarmruf ausser Kraft gesetzt worden wäre. Auf längere Sicht führt jedes einseitig egoistische und unsolidarische Verhalten der Menschen zur Zersetzung ihrer Gemeinschaft, und nur aufgehalten wird der Zerfall durch die Techniken der Sozialmanipulation (Polizei, Psychiatrie und Sozialpsychologie), doch schreitet er unbeugsam fort, weil das Leben in einer Massengesellschaft nicht dem Menschen entspricht.
Ein bewusster und permanent geforderter Willensakt nützt da garnichts, er führt im Gegenteil zum geistlichen Terror und einer Verkrampfung, die noch schlimmere Resultate hervorbringt als es alle „Barbaren“ zusammen vermöchten, wofür das „Christentum“ mit seiner aussichtslosen Bekämpfung der menschlichen Natur in Gestalt des „Alten Adam“ der beste Beweis ist.
Die Kontinuität zwischen dem pervertierten Christentum und der Aufklärung, von der eine Spielart Marxismus heisst, ist erheblich, wird aber trotzdem übersehen. „Wieder wird Lenin zitiert‚ das sozialistische Prinzip ‚Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen’ ist bereits verwirklicht worden’.“ Aber die Autorin versäumt es, den Leser daraufhinzuweisen, dass dieses Prinzip von Paulus schon 2000 Jahre zuvor mit den selben Worten formuliert worden ist. Wie anders klingen Jesu Worte dagegen: „Sehet die Vögel des Himmels, sie säen nicht, sie ernten nicht und sie sammeln nicht in Scheuern, aber der himmlische Vater ernährt sie trotzdem.“ Er hing offensichtlich der Utopie an, dass die Arbeit ganz abzuschaffen wäre im Sinne der Naturmenschen, die diesen Begriff garnicht kennen, weil sie keine Tätigkeit aus dem Ganzen ihres Lebens herausabstrahieren und von sich selber und ihren Geistern entfremden.
Eine aufgezwungene und durch tägliche, ja ununterbrochene „Selbstschulung“ verkrampfte Haltung führt zur Verkrüppelung, eine natürliche Ethik ist dagegen relativ einfach durch die Rückbesinnung auf die eigene Instinktnatur zu erreichen, deren Grundcharakter vom Mitgefühl, von der Sympathie mit dem Nächsten bestimmt ist nach dem Motto „Deinen Nächsten liebst du wie dich selbst“, denn du bist auf ihn angewiesen. Einen Beweis für diese natürliche Sympathie sehe ich in der Notwendigkeit der Überwindung einer angeborenen Hemmung beim Töten eines anderen Menschen, aber auch schon beim ihn Betrügen. Sie verliert sich, wenn zu viele Menschen auf einen zu engen Raum zu lange zusammengepfercht sind, und auch dies ist schon bei anderen Herdentieren zu sehen; sie brauchen einen genügend großen Lebensraum, und wenn dieser ihnen nicht gewährt wird, z.B. in einem Zoo, reagieren sie aggressiv auf die eigenen Artgenossen wie nie in der freien Wildnis; inzwischen gibt es diese leider nirgends mehr, und auch in den „Natur-Reservaten“ herrscht längst der Stress der Eingeengten. So hat sich auch Jesus, um sich die Nächstenliebe bewahren zu können, immer wieder in die Einsamkeit zurückziehen müssen, und anders ist es niemandem möglich. Der durch eine Ideologie produzierte Altruist dagegen, der sich mit Vorliebe in Massen aufhält, ist ein Heuchler und gezwungen, ob er will oder nicht, sich für die erlittene Unterwerfung zu rächen.
Die Ähnlichkeit, ja Übereinstimmung zwischen dem pervertierten Christentum auf der einen und der Aufklärung mit dem Marxismus auf der anderen Seite ist in der Verleumdung und Bekämpfung der inneren und äusseren Natur sehr deutlich zu sehen; und von Rotchina ist zu hören: „Der ‚Große Sprung’ war ein Krieg gegen Selbstzufriedenheit, Aberglauben, Vorurteile, bürokratische Trägheit und ein Kampf gegen die Natur – zur Umgestaltung der chinesischen Erde, zur Neuschaffung des chinesischen Menschen. Es geschah zum ersten Mal, dass ein unterentwickeltes Land aus eigener Kraft und auf sein eigenes Volk gestellt seine Entwicklung beschleunigte, sich aus Faulheit, Unwissenheit, Unterwürfigkeit herausriss. ‚Wir werden die Sonne und den Mond lehren, ihren Platz zu tauschen, wir werden für den Menschen einen neuen Himmel und eine neue Erde erschaffen’.“ Hier sind kosmische Dimensionen erreicht, aber während noch niemand bisher auf die Idee kam, Sonne und Mond müssten ihre Stellen vertauschen, ist der zweite Satz wieder eine Anspielung auf die Bibel, nur dass es dort ein Gott ist, nun aber Menschen, die ein so unglaubliches Wunder vollbringen. Was aber sind das für Menschen, die in dem Zitat von sich selbst in der Wir-Form sprechen? Gewöhnliche können es nicht sein, denn für den gewöhnlichen Meschen tun sie es ja, also ist die Partei damit gemeint oder die revolutionäre Avantgarde, folglich höhere Menschen oder gar Götter.
Es wurden gigantische Projekte in Angriff genommen, und eines der eindrucksvollsten war „der Bau des Roten Kanals, der auf 1500 Kilometer Länge durch die Taihan-Berge gelegt wurde und bei dem fast 100 Millionen Bauern eingesetzt wurden.“ – „LEHRT DAS WASSER, AUF DIE BERGE UND IN DEN HIMMEL ZU STEIGEN, riefen die Parolen in den Dürregebieten.“ Die Antwort der Natur kam ziemlich prompt: „Das Jahr 1960 begann schlecht; mit einem eisenharten Winter ohne Schnee, danach zweihundert Tage Dürre. Der Gelbe Fluss schrumpfte auf einen Bleistiftstrich, im Sand verloren. Vierzig Millionen Hektar kultivierten Landes wurden betroffen. In Schantung pflanzten die Bauern fünfmal neues Getreide, Städter kamen zu Hilfe, Schulkinder auch, bildeten kange Ketten, um Wasser auf die Felder weiterzureichen. Der Süden wurde überschwemmt, gewaltige Fluten begruben die Ernten unter sich. Sommerhagel vernichtete den Weizen in Hopei und Honan.“ Natürlich sehen weder die Verantwortlichen noch die Autorin einen Zusammenhang zwischen den „1957/58 begonnenen Bewässerungs- und Regulierungsprojekten“ und den Naturkatastrofen, und volle 50 Seiten schiebt Han Suyin zwischen der einen und der anderen Mitteilung ein. Ihre gehässigen Hinweise auf Indien (die sie in Fußnoten gibt), wo es angeblich so viel schlechter als in China abläuft, hätte sie sich ersparen können, denn heute ist im Hinblick auf die Umweltverschmutzung und den ungebremsten Konsum von Waren, Dienstleistungen und Energie kein Unterschied mehr zwischen diesen beiden Ländern zu finden, was wiederum ein Beweis dafür ist, dass es nicht auf die äusseren Erscheinungen der Ideologien ankommt, sondern auf den Geist, der sich ihrer bedient.
Immerhin räumt Han Suyin ein, dass einige Probleme hausgemacht waren: „Zu den Naturkatastrofen kamen Bodenprobleme, hervorgerufen durch überhastete Bewässerungsprojekte und Insektenplagen. Sie wirkten sich auf einen großen Teil der Felder in Mittelchina verheerend aus. Das lag daran, dass man im Zug der ‚Fort mit allen Plagen’-Bewegung im Frühling 1958 neben den Ratten und Fliegen auch Spatzen und andere Vögel vernichtet hatte.“ Dies lässt sich sehr schön übertragen auf das innere Vorgehen, auf die Bekämpfung des „inneren Feindes“. Mao sagte: „Ihr müsst das Feuer der Großen Kulturrevolution gegen euch selbst lenken, ihr müsst die Flammen anfachen, damit sie gegen euch selbst züngeln. Einige Genossen verstehen es gut, erbittert gegen andere zu kämpfen, aber sie können nicht gegen sich selbst kämpfen.“ Und er stellt einen gewissen Lu Hsün als Vorbild hin, der gesagt hat: „Wenn ich mich selbst seziere, bin ich darin immer strenger als beim Sezieren von anderen.“ Des weiteren hören wir: „Wir dachten immer, dass der Feind der andere sei oder von aussen käme. Nun begreifen wir, dass der Feind kein Fremder, kein Aussenstehender war, sondern dass wir es waren, unsere Genossen, unsere Arbeitskollegen, oft Menschen, die wir seit Jahren kannten, vor allem aber wir selbst.“
Mao gelang es mit dialektischen Tricks, jeden gegen jeden zu hetzen und von sich selbst zu entfremden, zum Beispiel mit dem von den „antagonistischen (d.h. nur durch Gewalt lösbaren) und nicht antagonistischen (d.h. durch Argumentation und Überredung lösbaren) Widersprüchen“, die aber jederzeit ineinander umschlagen konnten, wodurch es einem passieren konnte, ganz unvermittelt auf der falschen Seite zu stehen. „Am wichtigsten ist es jetzt, Dreierverbindungen und große Bündnisse zu organisieren, schlechte Menschen, Geister und Ungeheuer (!) ans Tageslicht zu bringen und die Parteiorganisationen mit neuem Leben zu erfüllen.“ Die „Dreierorganisationen“ waren Komitees, die zu je einem Drittel aus Angehörigen der Partei, aus Angehörigen der Armee und aus Vertretern der „Massen“ zusammengesetzt waren, wodurch die mit der Armee verschmolzene Partei die Massen stets dominierte. Und genauso wie mit den Ratten und den Fliegen auch die Spatzen und andere Vögel ausgerottet wurden, geschah es den ehrlichen mit den „schlechten Menschen, den Geistern und Ungeheuern“ zusammen. „Viele misshandelte Kader arbeiten Seite an Seite mit denen, die sie misshandelt haben und empfinden keinen Groll dabei – ‚Wir kennen uns jetzt besser’“, schreibt die Autorin und scheint es wirklich zu glauben.
Der Ausdruck „Gehirnwäsche“ geht auf die Methoden zurück, die die Rotchinesen während de Koreakrieges an gefangenen Feinden anwandten, und auch sie müssen in einer langen Versuchsreihe erprobt worden sein, in der sich herausgestellt hatte, dass es im Vergleich zur klassischen Folter viel effektiver ist, den Folterer in zwei Personen zu spalten, in einen Guten und in einen Bösen. Der Böse greift zu den garstigen Mitteln, während der Gute sich das Vertrauen des Gefangenen erschleicht und ihm immer wieder beteuert, wie leid es ihm täte, dass der Böse zum Zug kommt, aber wenn der Gefangene doch endlich einsehen würde, wie wichtig seine konstruktive Mitarbeit sei, dann hätte dieser Spuk bald ein Ende. Dieselbe Aufspaltung haben die Meister von China in Bezug auf ihre Untertanen vollzogen, der Gute war Mao, der Böse war Liu. Maos Konzept, das von der zerbrochenen Einheit zu Kritik und Selbstkritik führt, woraus die neue Einheit hervorgeht, beruht auf der „Überredung“ (dieses Wort benützt die Autorin in diesem Zusammenhang sehr oft) des Irregeleiteten, der nach seiner Selbstkritik auch wieder die Gnade und einen Posten empfängt, für die Verstockten aber gab es die Peitsche oder „wohlüberlegte Hinrichtungen“. Für diese Maßnahmen wurde dann Liu Schao Dschi verantwortlich gemacht, der „chinesische Chrustschow“, wie er später genannt worden ist. Erst „im Oktober 1967 wurde Liu Schao Dschi aufgefordert, Selbstkritik zu üben“, und ein Jahr später „fand in Peking das erweiterte zwölfte Plenum des achten ZK (Zentralkomitee) statt. Es erledigte den Fall Liu Schao Dschi. Ein Bericht vom 18. Oktober 1968, den ein Sonderausschuss über den ‚Renegaten, Verräter und Streikbrecher’ Liu Schao Dschi zusammengestellt hatte, führte Lius zahlreiche Kapitulationen vor der Kuomintang auf, warf ihm vor, er habe die Parteiorganisation verraten, um sein Leben zu retten, und schloss ihn ‚für immer’ aus der Partei aus. Die Liste dieser Verbrechen endet jedoch mit dem Jahre 1929. Das erscheint seltsam, denn bei der Kritik der Massen an Lius Politik geht es um seine kapitalistische Richtung nach 1949.“
Dass sich die Autorin diese Seltsamkeit nicht erklären kann, liegt an ihrem Blickwinkel. Hätte sich die Untersuchung der Aktivitäten von Liu auf die Zeit nach 1949 erstreckt, dann wäre möglicherweise die Verstrickung von Mao in dieselben ans Licht gekommen, und das war um jeden Preis zu vermeiden. Damit korrespondiert ein anderes und nicht minder seltsames Faktum: „An einem milden Septembermorgen (1962) hielt Mao beim zehnten Plenum in Peking die mittlerweile berühmte, immer wieder zitierte, nach wie vor nicht veröffentlichte Rede, die die Kulturrevolution in Gang brachte.“ – „Am 20. Mai 1963 wurde Maos Entschließungsentwurf ‚Gewisse Fragen in der gegenwärtigen Arbeit auf dem Lande’ vom ZK verabschiedet. Dieser Entwurf, die sogenannten Früheren Zehn Punkte, wird als das erste Dokument der Kulturrevolution betrachtet.“ Und in einer Fußnote fügt die Autorin hinzu: „Es wird unter diesem Namen am 18. April 1966 in der Zeitung ‚Befreiung’ erwähnt. Das Dokument ist bis jetzt noch nicht veröffentlicht worden.“ Die Erklärung für diese Geheimnistuerei ist dieselbe wie die für die absurde Begrenzung der angeblichen Verbrechen von Liu auf das Jahr 1929 – es ist die Vermeidung der Gefahr, dass etwas an die Öffentlichkeit dringen könnte, was nicht herauskommen sollte.
Von Liu hören wir noch: „Bis zum Jahre 1973 wurden die verschiedenen Aspekte von Lius Buch in Millionen von Artikeln kritisiert, die von Volkskommunemitgliedern, Fabrikarbeitern, Intellektuellen stammten. Doch Liu war störrisch. ‚Ich bin mir ebenfalls nicht im klar darüber, warum ich während der Kulturrevolution für die bürgerlich-reaktio-näre Linie plädiert und sie propagiert habe. Ich habe auch keinen Aufsatz gelesen, der vollständig erklärt hätte, warum ich bezüglich der Linie Fehler gemacht habe. Nachdem das elfte Plenum meine Fehler kritisiert hatte, haben andere ähnliche Fehler begangen, doch auch sie wissen nicht warum.“ Das sind mehr als seltsame Worte, und man kann sie nur ironisch verstehen. Wenn kein Artikel die Fehler von Liu vollständig erklären konnte, dann lag dies daran, dass er in Wirklichkeit gar keine gemacht und seine Rolle vorzüglich gespielt hat, und so dumm, wie er sich hier stellt, konnte er unmöglich gewesen sein. Dass er seine Befehle treu erfüllt hat, zeigt sich auch darin, dass er sein Leben in einer „Volkskommune“ friedlich und ungestört beschließen durfte (im Gegensatz zu Lin Bao, auf den wir noch kommen). Liu blieb unbestraft, weil sich Mao für ihn eingesetzt und anlässlich von dessen Selbstkritik gesagt hatte: „Man sollte Liu Gelegenheit geben, sich zu reformieren und an der Kulturrevolution teilzunehmen. ‚Wenn Menschen Fehler gemacht haben, können sie sich immer noch ändern. Dann ist alles gut’.“
Welche „Fehler“ hat Liu gemacht? „Es formierte sich eine ultrarechte, fast faschistische Gruppe von jungen Leuten, die so genannte Lientung (vereinigte Aktionsgruppe). Ihre Prämisse war die Meinung, dass nur die ‚fünf guten Klassen’ Rotgardisten werden sollten; ihre Führer waren oft die Söhne und Töchter von hohen Kadern, und auf dieser elitären Gesinnung basierend begann der rechte Flügel die Lientung zu organisieren. Ihre Mitglieder hatten Geld im Überfluß, Fahrzeuge auch, traten immer gruppenweise auf und hatten weite seidene Ärmel statt der schmalen baum-wollenen Armbinden der Roten Garden. Sie begannen zu prügeln, zu entführen und sogar zu morden, sie schlugen Wandzeitungen an, die die für die Kulturrevolution verantwortliche Gruppe verdammten und unterstützten unverhohlen Liu Schao Dschi. Hundertneununddreissig von ihnen wurden Anfang 1967 verhaftet, die Lientung wurde zur konterrevolutionären Organisation erklärt. Der rechte Flügel organisierte ausserdem eine Rote Arbeiterarmee, die aus Arbeitern aus größeren Fabriken bestand und die Roten Garden schlagen und töten sollten. Andere ‚Armeen’ dieser Art, die sich aus Bauern aus vorstädtischen Volkskommunen zusammensetzten, wurden abkommandiert, um ‚die Partei zu schützen’ und entarteten zu plündernden Rotten. Damit nahmen Verwirrung und Gewalttätigkeit zu, die in Maos Namen gegen Maos Ziele eingesetzt werden konnten. Bei der Überfülle von Organisationen und Grüppchen war es sehr schwierig, die wahre Linke von der falschen Linken zu unterscheiden.“
Genau dies aber war das gemeinsam ausgeheckte Ziel, „Verwirrung und Gewalttätigkeit“ sollten so stark ansteigen, dass Mao, der stolz von sich selber behaupten konnte „Ich habe das Feuer entfacht“ (womit er die „Kulturrevolution“ meint), als der oberste Brandmeister dieses Feuer wieder austreten konnte. Und dies ist ein „revolutionäres Prinzip“, das als erster Mensch Dostojewski erkannte und in seinem Roman „Die Dämonen“ dargestellt hat; es läuft darauf hinaus, das Chaos anzuzetteln und so aufzuheizen, dass niemand mehr durchblickt als die Anzettler allein, sodass sie im geeignet erscheinenden Moment die „Neue Weltordnung“ ausrufen können. Bei Dostojewski geht die Sache schief, aber in Wirklichkeit hat sie von den unteren Ebenen bis hin zur internationalen beachtliche Erfolge erzielt.
Am Rande bemerkt, die Behauptung, China hätte sich als erstes Land dieser Erde aus eigenen Kräften von einem Entwicklungsland in den gigantischen industriell-militäri-schen Komplex verwandelt, den es uns heute darbietet, ist so nicht richtig. Zu Beginn unterstützten sowjetsche Spezialisten und sowjetische Kredite den Aufbau der chinesischen Industrie bis hin zur Beherrschung der Atomenergie, und als Anfang der sechziger Jahre das Schisma zwischen den beiden Großen Sozalistischen Brudernationen, der Sowjetunion und Rotchina, eintrat und die technische Unterstützung Chinas von seiten Russlands wegfiel, da sprangen die USA und die „Europäische Union“ sehr rasch in die Bresche. Was aber jenes Schisma betrifft, so muss ich meine frühere Darstellung von der Zerreibung der „Dritten Welt“ zwischen dem Ost- und dem Westblock bis zu ihrer Abhängigkeit von der „Weltbank“ erweitern. Die Ineffizienz des Sowjetsystems („60 Millionen Tonnen Getreidedefizit, ein Produktionsniveau wie 1917“) war offensichtlich so groß, dass es im Wettrüsten und in der „Weltraumfahrt“ nicht mehr mithalten konnte, wenn es Rotchina, Nordvietnam sowie Nordkorea und die Moskau treuen Parteien in den Bürgerkriegen der Dritten Welt weiterhin unterstützte. 1960 wurde ein Artikel von Mao mit dem Titel „Es lebe der Leninismus“ veröffentlicht, und die Autorin berichtet davon: „Er führte eine Rede Maos aus dem Jahr 1945 an, in der er gesagt hatte, es werde nicht zum Krieg zwischen der Sowjetunion und den USA kommen. ‚Diese Propaganda ist ein Täuschungsmanöver, mit dem die US-Reaktionäre die wahren Widersprüche verschleiern, die Widersprüche zwischen den US-Reaktionären und dem amerikanischen Volk, zwischen dem US-Imperialismus und anderen Ländern, kapitalistischen Ländern, kolonialen und halbkolonialen Ländern’. In dieser Zwischenzone würden die heimliche Zusammenarbeit und der Konkurrenzkampf der beiden Imperialismen sichtbar werden. ‚Der entscheidende Konflikt unserer Epoche ist die Gegenüberstellung der Imperialisten und der Völker von Asien, Afrika und Lateinamerika, die für ihre Befreiung kämpfen.“
Mao konnte es sich erlauben, die heimliche Zusammenarbeit der beiden Giganten des Kalten Krieges zu offenbaren und sich selbst als den wahren Mentor der für ihre Befreiung kämpfenden Völker hinstellen. Und diese Haltung nahm er auch 1971 noch ein, als der US-Aussenminister Rotchina besuchte und die Anerkennung durch die USA bevorstand. „Nach ‚intensiven und freimütigen’ Gesprächen gelangte man zu einem von der chinesischen und der US-Seite in Schanghai herausgegebenen Kommunique, dem ‚Schanghaier Kommunique’. Im chinesischen Teil des Kommuniques war das ausgedrückt, was Mao viele Male gesagt hatte: ‚Wo immer Unterdrückung herrscht, da gibt es Widerstand. Staaten wollen Unabhängigkeit, Nationen wollen Befreiung, Völker wollen Revolution, das ist die unaufhaltsame Strömung in der Geschichte geworden’… Die chinesische Seite brachte zum Ausdruck, dass sie alle unterdrückten Völker und Nationen in ihrem Kampf um Freiheit und Befreiung entschlossen unterstützt.“
Die USA können eine solche Drohung niemals ernst genommen haben, und sie war auch nie ernst gemeint, denn in Wirklichkeit ging es darum, wie der „unaufhaltsame Strom der Geschichte“ in die erwünschten Bahnen gelenkt werden konnte. Wie eng die heimliche Zusammenarbeit zwischen den USA und Rotchina bereits gediehen war, geht aus dem Umstand hervor, dass die Verhandlungen stattfanden während Nordvietnam von den USA mit Bomben übersät und in Kambodscha die US-Marionette Lon Nol installiert wurde, der nicht viel später von der rotchinesischen Marionette Pol Pot abgelöst wurde, zwei Millionen ermorderte Kambodschaner hat dieser Herr auf dem Gewissen. Der wahre Grund für das Schisma und die neue Kräftekonstellation ist meines Erachtens darin zu suchen, dass man vereinbart hatte, die Verwirrung noch zu vermehren. Vermutlich hatten die unterdrückten Völker gemerkt, dass sie zum Spielball der beiden Supermächte gemacht worden waren, oder sie waren dabei, es zu merken, und da wurde Rotchina, das sich als einen Teil der Dritten Welt präsentierte, obwohl es längst kein „Entwicklungsland“ mehr war, zum Popanz der wahren Befreiung. In Osteuropa bekannten sich Albanien und Rumänien zu China und wandten sich damit von der Sowjetunion ab, und Tschautschesku (Ceaucescu), der rumänische Diktator, sowie Enver Hodscha, der albanische, konnten ihre Völker aufs Schlimmste drangsalieren und sich gleichzeitig der Freundschaft mit Mao rühmen.
Kehren wir zum Inneren von Rotchina zurück. Dort war in der Chaos-Entfachung ein noch höherer Gang einzulegen, die bisherige Dosis war noch immer zu schwach, um das angestrebte Ziel zu erreichen. Als Mao gesagt hatte „Ich habe das Feuer entfacht“, da hatte er noch hinzugefügt: „Ich meine, dass es gut ist, die Menschen zu schockieren. Viele Jahre habe ich darüber nachgedacht, wie man den Revisionisten in der Partei einen Schock versetzen kann -- und schließlich habe ich mir das ausgedacht’. Der junge Mao hatte in den dreissiger Jahren gesagt, wenn ein Mensch politisch krank sei, aber diesen Zustand nicht wahrhaben wolle, müsse man ihn schockieren, indem man ihm laut ins Ohr schreit: ‚Du bist krank’.“ Ausserdem gehörte es sich, dass mit einer „Rechtsabweichung“ auch eine „Linksabweichung“ entstand, damit sich die „richtige Linie“ zeigen konnte und die Leute endlich genug von all diesem hatten, um in das postrevolutionäre China eingegliedert zu werden, wo es zwar immer noch eine „Kommunistische Partei“ gibt und diese sogar die einflussreichste Organisation ist, aber vom „Kommunismus“ schon längst keine Rede mehr ist.
Die zweite Fase der „Kulturrevolution“, die mit dem Auftauchen von Lin Biao einsetzte, geschah vor dem Hintergrund einer Drohkulisse, dem an die Wand gemalten koordinierten Angriff der Sowjetunion und der USA mit ihren Vasallen Indien und Japan auf Rotchina, und es wurden massenhaft Bunker gebaut, was dem Ganzen noch mehr Dynamik verlieh. Immer wieder tauchte Mao Dse Dong während dieser Zeit (wie auch schon in der ersten Fase) in Reisen durch die Provinzen ab, angeblich um Berichte über die Lage zu sammeln. Und selbst wenn er sich in der Zentrale Peking aufhält heisst es von ihm: „Er hüllte sich in ein selbst auferlegtes Schweigen“ oder „Er wartete ab“. Und Männer wie Lin Biao oder Dschen Bo Da können mit einer „ultralinken“ Clique die Macht übernehmen und entsprechende Maßnahmen einleiten. „Auch dieser Politik wohnte Dualität inne, denn ‚sie sind die Opposition und sind doch nicht die Oppostition’.“ Das sagt Han Suyin zwar von den „nicht kommunistischen Parteien“, die man belassen hatte, es gilt aber genauso von allen „Oppositionen“, denn eine wirkliche war ausgeschlossen.
„In dieser Geschichte der Verschwörung, Gegenverschwörung und Intrige, die Lin Biao während der Kulturrevolution ausspann, schwingt etwas von einem Thriller mit, auch etwas von den hieratischen Gesten der Peking-Oper.“ Das ist schön gesagt, doch trägt es zum Verständnis nichts bei. Der folgende Hinweis tut dies aber wohl: „Eine weitere Gruppe, die Gruppe des 16. Mai, die in ganz China berüchtigt wurde, formierte sich am 16. Mai 1966. Weil der Mai der fünfte Monat ist, nannte sie man auch die 516. Es handelte sich fast um eine Geheimgesellschaft mit Kennworten und Aufnahmeritualen. Sie wurde das Werkzeug, mit dem Lin Biao das Chaos schürte – doch niemand wusste das vor 1971. Die 516 war eine wahre Pest; sie breitete sich in den Städten aus, und obwohl sie verhältnismäßig wenige Mitglieder hatte, terrorisierte sie viele mit Vandalismus und Mord. – Die 516 propagierte einen abgöttischen Mao-Kult und griff jeden an, der sich nicht danach richtete. Der Kult nahm halb religiöse Formen an; ‚Vorsitzendem Mao treu sein’ – das war der Prüfstein. Lin Biao sagte: ‚Es kommt nicht darauf an, was jemand tut, solange er die richtige Orientierung hat’, und das war ein Freibrief, der der 516 alles erlaubte.“ Im September 1967 kehrte Mao von einer seiner Reisen durch das Land, in dem Arbeiter auf Arbeiter, Rotgardisten auf Rotgardisten, Bauern auf Bauern einschlugen und jeder jedem misstraute und bewaffnete Banden in seinem Namen den entsetzlichsten Terror ausübten, zurück in die Hauptstadt, um dort zu verkünden: „Die Lage der Großen Proletarischen Kulturrevolution ist nicht nur gut, sie ist hervorragend; nie zuvor ist eine so umfassende und alles durchdringende Massenbewegung in Gang gebracht worden’.“ Lin Biao, von dem Mao gewusst haben musste, dass er hinter dem Terror und dem Personenkult stand, „wurde auf dem neunten Parteitag im April 1969 offiziell zum Nachfolger Maos bestimmt, und diese Nachfolge wurde sogar im Parteistatut festgehalten. Danach ordnete Mao eine vollständige Untersuchung der Gruppe 16. Mai und ihrer Hintermänner an.“ Wäre diese Untersuchung eirklich vollständig durchgeführt worden, dann hätte sie Lin Biao enttarnen müssen, aber das war nicht erwünscht. Und mit den Terroristen und Mördern verfuhr man sehr sanft: „Die ‚wenigen niederträchtigen Füher’ würde man in Haft behalten, die ‚acht regionalen Armeen’ der 516 würde man umerziehen. Das geschah rasch. Die Bevölkerung half eifrig mit, die Extremisten auszuheben; in einigen Städten dauerte es nur drei Tage, bis ‚Ordnung gemacht’ war. Die jungen Leute wurden in staatliche Landwirtschaftsbetriebe geschickt und durch Arbeit reformiert, doch man befasste sich mit jedem Fall eingehend und detailliert. – Die Umerziehung sollte gründlich und durchgreifend erfolgen; doch lastete man den jungen Leuten keine Verantwortung an. Sie waren ‚irregeführt, verleitet’ worden. Die Verantwortung trugen diejenigen, die sie korrumpiert hatten.“
Dieses Verfahren bedeutet, dass Angehörige einer Killergruppe sich nach ihrer Verhaftung darauf berufen können, irregeleitet worden zu sein, um dann auf einem Landgut eine gewisse Zeit zu verbringen und ihre Rehabilitation zu erlangen. Ob „die wenigen niederträchtigen Führer“ wirklich in Haft gehalten wurden, kann kein Mensch überprüfen, sie können nach Bedarf auch mit einer neuen Identität ausgestattet worden sein, denn in der Irreführung von Menschen hatten sie sich bestens bewährt, und solche Fachleute braucht man. Schon sehr früh hatte Mao erkannt, dass „die ideologische Reform der Intelligenz eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Industrialisierung unseres Landes“ ist. „Später meinte Mao, die Ingenieure und Naturwissenschaftler täten sich leichter mit der Integration, Anpassung und Veränderung als diejenigen, die künstlerische, filosofische, historische und wirtschaftswissenschaftliche Fächer studiert hätten.“ Es ging ausdrücllich darum, „Ingenieure der menschlichen Seele“ heranzuzüchten, und das scheint weitgehend gelungen.
Mao hatte nun allen Grund, das von ihm angezettelte Chaos niederzuschlagen, denn es hatte sich darin eine für ihn selbst gefährliche Kraft herausgebildet, die sich sogar auf ihn stützen konnte. „Mao berief sich in seiner Polemik mit der Sowjetunion auf das Beispiel der Pariser Kommune, um zu beweisen, dass mit der revolutionären Machtergreifung der bürokratische und militärische Apparat der bisher machtausübenden Klasse zerschlagen werden muss. – Im März 1966 hatte die ‚Rote Fahne’ die Pariser Kommune als Beispiel für die ‚Machtübernahme’ erwähnt. ‚Es ist nötig, für die Wahl von Mitgliedern der Komitees und Gruppen der Kulturrevolution und von Delegierten zu den Kongressen der Kulturrevolution ähnlich wie bei der Pariser Kommune ein allgemeines Wahlsystem zu schaffen.’ Doch nun überlegte es sich Mao noch einmal.“ Und das Resultat seiner Überlegungen lautet: „Kommunen vom Pariser Typ sind zu schwach, wenn es darum geht, die Konterrevolution zu unterdrücken.“ Denn es waren Stimmen laut geworden die unter der Parole „Alle Macht dem Proletariat“ die Abschaffung der Partei forderten. Und das hatte sogar eine marxistische Logik, denn wenn es die Aufgabe der Partei war, die „Diktatur des Proletariats“ durchzusetzen, dann war dieses Proletariat auf dem Weg zum Kommunismus ab einem bestimmten Punkte berechtigt, die Hülle der Partei abzuwerfen und sich selbst zu organisieren.
Das ging Mao natürlich zu weit, und deswegen wurden die schon erwähnten „Dreierorganisationen“ gegründet und das Spektakel um Lin Biao aufgeführt, den man zum Haupt einer Verschwörung erklärte. „Die Verschwörer wurden gemäß dem Buschido-Eid, dem Eid der japanischen Samurai, zur Verschwiegenheit verpflichtet“. Sie sollen so blöde gewesen sein, dass sie in einem Manifest, das ihren Gegnern in die Hände fiel, unter anderem schrieben: „Wir müssen spezielle Mittel einsetzen, wie z.B. Giftgas, bakterielle Waffen, Bombardierungen, Autounfälle, Morde.“ Wie sich die Mittel doch gleichen! Mit der Erzeugung der Angst vor einer bakteriellen Kriegsführung der „islamistischen Terroristen“ hat George W. Bush es in den letzten Jahren erreicht, sein Volk zu überwachen und auszuspionieren sowie militärische Sondergerichtshöfe zu errichten, in denen die Angeklagten rechtlos sind und willkürlich verurteilt werden.
Wenn wir Äusserungen, die die Autorin von Lin Biao mitteilt, glauben dürfen, dann scheint sich in seinem Fall und im Gegensatz zu Liu Schao Dschi zuletzt eine echte Gegnerschaft zu Mao entwickelt zu haben. „Und das schrieb Lin über Mao: ‚Heute gebraucht er diese Kraft, um jene Kraft anzugreifen, morgen gebraucht er jene Kraft, um eine andere anzugreifen – die dicksten Freunde von heute sind morgen seine Gefangenen’.“ Das könnte sich auf Dschu Yang und Lu Ding Yi beziehen, „gegen die Mao im April 1966 seinen Bann schleuderte. Seine Worte waren wie Donnerschläge, wie ‚schreckliche Dämonen und Geister’. ‚Die Propagandaabteilung ist der Palast des Höllenkönigs. Nieder mit dem Höllenkönig!“ – „Säubert er jemanden , so hört er nicht auf, bis derjenige gründlich vernichtet ist“, sagte Lin über Mao, und in einem Brief an seinen Sohn schrieb er: „Der Himmel ändert sich nie, und auch der Mensch nicht.“ Damit hätte er der Idee von Mao, dass der Mensch, wenn man es nur raffiniert genug anstellt, in jeder gewünschten Richtung veränderbar ist, widersprochen. Und ich muss Lin Biao beipflichten, denn unter diesem Himmel kann sich der Mensch niemals ändern. Das wäre genauso irreal, wie wenn man von einem eingesperrten Tier, das womöglich künstlich besamt worden ist, verlangen würde, es möge sich bitte seines Nachwuchses annehmen, das gehörte sich so. Die Stimme der Natur sagt dem Tier aber deutlich, dass sie sich unter solchen Bedingungnen nicht mehr fortpflanzen will, und sie ist auch bei den Menschen die stärkste Kraft.
Von Lin Biaos Ende ist zu erfahren: „Mao kehrte mit dem Zug aus Schanghai zurück, und auf der Heimreise scheint Lin Biao am 11. September (1971) versucht zu haben, ihn zu ermorden. Da es viele Versionen von diesem Vorfall gibt, sind die Einzelheiten ungewiss. Tschu En Lai sprach von einem abenteuerlichen Versuch, den Vorsitzenden Mao zu ermorden. Der Versuch schlug fehl. Lin Biao und seine Frau Yä Dschin, sechs Mitverschwörer und sein Sohn beschlossen daraufhin, in die Sowjetunion zu fliehen. Sie organisierten ein Flugzeug und starteten, stürzten aber bei Undur Khan in der Äusseren Mongolei ab.“ – „Im Mai 1972 kamen die ersten halbamtlichen Verlautbarungen heraus, aber erst im Sommer nahm man öffentlich zu der Affäre Stellung. Inwischen hatte man eine große Säuberung sämtlicher Anhänger Lin Biaos und eine Umgruppierung in der VBA beinahe abgeschlossen.“
In all dieser absichtlich hergestellten Unklarheit kann ich nur erkennen, dass der Verschwörungsplan Lin Biaos mit viel größerer Wahrscheinlichkeit als eine Tatsache eine Erfindung gewesen ist und man ihn nur als Sündenbock nahm, um die eigene Schuld auf ihn abzuwälzen. Das Flugzeug war mit Sicherheit präpariert. Und nachdem auf diese Weise die Einigkeit wiederhergestellt worden war, gab man das Startsignal für eine „Korrekturbewegung gegen Apriorismus, Arroganz und metafysische Ideen in der Partei“, wobei unter „Apriorismus“ (diesem Wortungetüm, das von der Autorin nicht erklärt wird) wohl die Anerkennung dessen, was a priori, also von vornherein und grundlegend vorausgesetzt ist, zu verstehen ist. Denn in der Auffassung Maos durfte es sowas nicht geben, und hier zeigt er sich erneut als der Erbe der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts, in der ein neugeborener Mensch als Tabula rasa gesehen wurde, als eine leere Tafel, die mit beliebigen Texten beschmiert werden kann.
Hand in Hand damit lief „die Kampagne gegen den Konfuzianismus“, und auch ihr diente Lin Biao als Aufhänger. „Die Vorstellung von intuitivem Wissen und Verstehen ohne Praxis sei Metafysik“ – aber „Praxis“ bedeutet Zwangsarbeit im Kollektiv und die Untewerfung unter die 1968 von Mao geprägte Parole „Den Egoismus bekämpfen und den Revisionismus kritisieren“. – „Die Ethik der Gewissenserforschung, des altruistischen Dienens – das war die proletarische Weltanschauung“, von der die Autorin ein schönes Beispiel gibt: „Sämtliche Mittelschulen öffneten wieder ihre Pforten, und überall konnte man lange, von VBA-Soldaten umrahmte Kolonnen von Kindern sehen, die singend ihres Wegs marschierten und nützliche Aufgaben verrichteten, Straßen fegten, Bahnhöfe sauber machten, an politischen Schulungen teilnahmen, den Volkskommunen bei der Ernte halfen.“ Die Voraussetzung der intuitiven Erkenntnis ist aber die Muße, die Zeit ohne Nutzen, die Freiheit des Spieles der Fantasie, die Kontemplation, und genau das wird diffamiert. Die Niederschlagung des Aufstands in Tibet 1959 und die brutale Zerschlagung der dortigen so reich differenzierten Kultur wird von der Autorin nur am Rande zur Kenntnis gebracht und auf einen vom CIA inszenierten und von indischem Boden ausgehenden Putschversuch reduziert. Möglicherweise war sie nicht informiert über die Greuel, die in Tibet stattfanden, denn sie gingen von der Weltöffentlichkeit ignoriert und im Geheimen vonstatten, und erst viele Jahre später kamen sie allmählich ans Licht.
Von der so genannten „Viererbande“, zu der auch die Gemahlin von Mao gehörte, will ich hier nicht weiter reden, sie wurde einen Monat nach dem Tod des Meisters zerschlagen, und danach kehrte Ruhe ein im Staats- und Parteiapparat. Wie weit Zeitungsberichten zu trauen ist, nach denen Mao einen ungeheuren Konsum von Rotgardistinnen hatte, die ihm von seiner Umgebung zugeführt wurden, bleibt fraglich, aber vorstellbar ist es schon als Kompensation für seinen „übermenschlichen Arbeitseisatz“ – dass aber seiner Gattin Rotgardisten zugeführt wurden, um sie über die häufige Abwesenheit ihres Mannes zu trösten, ist dagegen nicht anzunehmen.

Noch weit unbekannter als die Zerschlagung des Alten Tibet und bis heute von der Weltöffentlichkeit ignoriert ging und geht die Unterdrückung der Uiguren vonstatten, einem Turkvolk im Westen von China, das dem Islam angehört. Vor einigen Jahren hörte ich eine Radiosendung über einen uigurischen Flüchtling, der in Nürnberg eine Website im Internet unterhält, wo er über sein Volk und dessen Leiden berichtet und es immer wieder hinnehmen muss, dass seine Dokumentation von den Rotchinesen zerstört wird. Und in diesem Bericht war zu erfahren, dass die Uiguren inzwischen eine Minderheit in ihrem eigenen Land sind (durch Massenansiedlungen von Chinesen in ihrem Gebiet, nach derselben Methode wie auch in Tibet), dass es ihnen verboten ist, ihre eigene Sprache zu sprechen und dass ihnen ihre Kinder weggenommen werden, wenn sie sie im Koran unterrichten.
Nie aber wurde dieses Volk zum Thema für die „Vereinten Nationen“, und nie habe ich etwas von ihm in der Zeitung gelesen – bis auf neulich, als im Zusammenhang mit der Freilassung von völlig unschuldigen Opfern der Kopfgeldaktion, welche die USA in Afghanistan und Pakistan nach ihrem Sieg über die Taliban durchgeführt hatten, von acht uigurischen Männern berichtet wurde, für deren Denunziation 500 Dollar bezahlt worden sind und die sich so wie manch andere als völlig unbeteiligt erwiesen. Die Uiguren waren wegen der brutalen Unterdrückungsmaßnahmen aus ihrer Heimat nach Pakistan geflohen, nach ihrer Freilassung wären sie in China wegen „Separatismus“ verhaftet worden, und Albanien war das einzige Land, das sie aufnahm. In dem sehr knappen Zeitungsartikel fehlte jeder Hinweis auf die Verhältnisse in Uigurien; und die Rotchinesen rechtfertigen ihr Verhalten inzwischen mit „Terrorismusbekämpfung“; das ist den Russen in Bezug auf die Tschetschenen schon zugestanden worden und wird den Chinesen mit Sicherheit auch bald gelingen, die stillschweigende Duldung und damit die Anerkennung ihrer Handlungsweise haben sie jetzt schon.
Die „Geschichte Chinas“ von Gustav Adolf Wolter, München 1987, gibt einen guten Überblick auf deren Verlauf. (Ich erlaube mir, im folgenden eine andere Umschreibung der chinesischen Eigennamen als die des Autors zu verwenden, und so heisst Tung bei mir Dong, Tchou heisst Tschu und Ging Dsching.) Bereits zu Beginn der historisch fassbaren Geschichte stellte sich die Problematik des Staates, der sich ab einer bestimmten Zunahme der Bevölkerungsmasse weltweit und gleichsam naturwüchsig herausbildete, für den aber der Mensch mit seiner Instinktnatur nicht geschaffen ist, in China verkörpert in zwei polaren Gestalten, in der des Kung Fu Dse (Konfuzius) und in der Lao Dse. Der erstere versuchte, den Widerspruch dadurch zu lösen, dass er dem einzelnen Menschen seine Stellung im Ganzen vorschrieb und ihn zu einem Glied in der Kette Familie, Staat und Herrscher machte. „Wichtiges Erziehungsmittel ist das Zeremoniell, das sich aus der Gesamtheit der Bräuche und Riten zusammensetzt. Ihre ständige Beachtung formt den Charakter, sie sind auch die Hauptschutzwehr gegen Verwilderung und Ausuferung der Leidenschaften.“ Und Wolter zitiert Kung Fu: „Wer glaubt, dass ein solcher Schutzwall nutzlos sei, kann sicher sein, dass er unter dem Chaos der hereinbrechenden Flut zu leiden haben wird, wenn er nicht gar weggeschwemmt wird.“ Bei Kung Fu fehlt ein transzendentaler Bezug, und „religiösen Fragen ist er stets ausgewichen, wie solche Aussprüche schließen lassen: ‚Wenn man noch nicht das Leben kennt, wie sollte man den Tod kennen?’ oder ‚Wenn man noch nicht den Menschen dienen kann, wie sollte man den Geistern dienen können?’ Auf die Frage, was Weisheit sei, gab er die Antwort: ‚Seine Pflicht gegen die Mitmenschen erfüllen, Dämonen und Götter ehren, aber ihnen fern bleiben, das kann man Weisheit nennen’.“
Sein Gegenspieler Lao Dse lehnte den Staat und die Gesetze ab, indem er sagte: „Je mehr Dinge es gibt, die verboten sind, desto mehr verkümmert das Volk. Je mehr die Menschen die Klugheit pflegen, desto mehr kommen List und Betrug. Je mehr Gesetze und Befehle erlassen werden, desto mehr Diebe und Räuber gibt es.“ Hier scheint er die Beziehung von Ursache und Wirkung zu verdrehen, er war aber der Auffassung, „dass die von den Konfuzianern geforderten gesellschaftlichen und staatlichen Tugenden keine Tugenden seien, vielmehr müsse man sie als Abfall von der ursprünglichen Vollkommenheit sehen. Die Menschen täten gut daran, in den Urzustand zurückzukehren.“ Was war dieser „paradiesische Urzustand“ anderes als die Zeit vor der Gründung des Staates, die längste Zeit, die die Menschen miteinander erlebten und in der sie in überschaubaren Gruppen zusammen und noch nicht sesshaft waren? In jener Zeit war der Konsens noch auf ganz andere Weise zu finden als in den Verordnungen und Dekreten der Herrscher.
Ich zitiere aus einem meiner Entwürfe: „Seit ich als Kind zum ersten Mal davon hörte, ist mir die Beratung der Indianer ein Vorbild gewesen, das mir bei meiner eigenen inneren Besinnung hervorragend half und immer noch hilft. Ob etwa ein Krieg geführt werden soll oder nicht, dazu müssen die erfahrensten und erprobtesten Männer sich zum Kriegsrat versammeln und zunächst einmal schweigen, um die Situation zu erfassen. Dann erhebt einer die Stimme und spricht, ungestört und ermutigt durch die Aufmerksamkeit der still lauschenden anderen entwickelt er seinen Gedanken, um mit einem tief aus der Brust ertönenden „Hou, ich habe gesprochen“ zu enden. Schweigend wird sein Beitrag erwogen, bevor ein zweiter das Wort nimmt und dann ein dritter und vierter, solange bis alle zu einer Einigkeit kommen, müssen sie sich beraten. Denn wenn sie uneinig sind, haben sie den Krieg schon verloren, und das wissen sie noch genauso wie frei schweifende Herden von Rindern und Wölfen und Affen es wissen -- im Moment der Gefahr sind sie sich einig ohne zu zögern.“
Von einer anderen Methode, zu einem Konsens zu gelangen, hörte ich vor Jahren in einem Radiobericht, den ein Ethnologe von Ureinwohnern im Amazonasgebiet erstattet hat. Wenn es dort eine alle betreffende Frage zu klären gab, dann versammelten sich alle, so Männer wie Frauen, und schrieen wie wild durcheinander, sodass der Forscher schon daran zweifelte, wie dabei etwas Vernünftiges her-auskommen sollte. Das Geschrei verlief in an- und abschwellenden Wellen und dauerte so lange, bis es sich erschöpft hatte, dann trat tiefes Schweigen ein, und schließlich erhob einer die Stimme und verkündete den Entschluss, dem alle zustimmten. Es gab vermutlich noch andere Wege zum selben Ziel, das Wesentliche ist jedoch, dass sich die Beteiligten kannten und niemand in die Position der überstimmten Minderheit abgedrängt wurde, wie es in den „parlamentarischen Demokratien“ der Fall ist, wo sich „Parteien“ gegenseitig beschimpfen und keine das „Allgemeinwohl“ vertritt wie beansprucht, da „Partei“ ja von Pars, Partis kommt, das heisst „Teil“. So weit die Minderheit im Parlament vertreten ist, muss sie sich der Mehrheit beugen, was schon eine Spaltung der Gesellschaft bedeutet, von den verpönten Gruppen, die in den Untergrund gezwungen werden, garnicht zu reden.
Die Alternative davor war das naturwüchsige ältere Herrschaftssystem, repräsentiert durch die Fürsten, Könige oder Kaiser, die den einheitlichen Willen des Volkes verkörpern, aber nur in den Sagen von den guten und heiligen Herrschern, die dem Volk ihr Ohr liehen. In Wirklichkeit war die Distanz zwischen oben und unten viel zu groß geworden, um anders als durch Gewalt überbrückt werden zu können. „Die Menschen sind nur durch Drohung und Strafe zu lenken“, sagte Schang Yang, der im vierten Jahrhundert vor Christus in China lebte und als der erste Vertreter des so genannten „Legalismus“ gilt. „Die für die Organisation und für die Straffung des Staates erforderliche Disziplin sei nicht durch Erziehung oder moralische Qualitäten wie Menschlichkeit oder Gerechtigkeit zu erreichen, sondern nur durch Befehl und absoluten, wenn nötig erzwungenen Gehorsam.“ Der „Legalismus“ wurde später mit dem „Konfuzionismus“ zu einer „orthodoxen Staatslehre“ verschmolzen, was sich als praktikabel erwies, denn Kung Fu hatte Gewalt abgelehnt und allein auf die „Veredelung“ des triebgesteuerten Menschen gesetzt. Die Kombination von „Überredung“, das ist die sanfte Gewalt, und brutaler Bestrafung, das ist die nackte Gewalt, für den Fall, dass es im Guten nicht ging, war also schon längst vorgegeben, bevor sie Mao Dse Dong auf seine Art übernahm.
Ein bei den Legalisten „hochangesehenes Buch“ war das „Traktat vom Krieg“ des Sun Dsu aus dem fünften oder vierten Jahrhundert vor Christus, „Napoleon hat das Werk sorgfältig studiert, ebenso Mao Dse Dong“. -- „Die Hinweise zur geistigen Unterwanderung des Gegners und seiner moralischen Aushöhlung klingen absolut modern. Einige Regeln aus dem Werk lauten: ‚Die höchste Kunst besteht in der Brechung des feindlichen Widerstands schon vor Ausbruch des Krieges’. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es bewährte Methoden: ‚Zersetzt alles, was im Lande des Gegners gut ist. Unterhöhlt das Ansehen der herausragenden Vertreter der führenden Schicht. Bedient euch dabei der Mitarbeit auch der niedrigsten und abscheulichsten Menschen. Stachelt die Jugend gegen das Alter auf. Beeinträchtigt den Willen der Waffen tragenden Mannschaft durch sinnlose Lieder. Entwertet alle Tradition und alle Götter der Feinde. Spart nicht mit Versprechungen für die Zukunft, sie bringen reiche Zinsen. Sabotiert und verwirrt durch gekaufte Elemente die Ausrüstung, Versorgung und Ordnung der gegnerischen Steitkräfte’. Am Schluss wird gesagt: ‚Der Besitz der Fähigkeiten zu solchen Unternehmungen und zugleich die Gabe, sein Volk vor ähnlichen Machenschaften des Gegners zu schützen, ist ein Maßstab zur Beurteilung eines Staatsmanns’.“
Lao Dse seinerseits war nicht so naiv, anzunehmen, die Rückkehr zum Urzustand sei durch eine „Revolution“ herzustellen oder der Staat würde sich von selber auflösen. Deswegen gab er den Hinweis: „Das Geheimnis der Lebenskunst ist weder Zustimmung noch Kritik, sondern das schlaue Hindurchschlüpfen durch Öffnungen, die überall vorhanden sind.“ Darin sehe ich eine Parallele zu den „Kairoi“ der Griechen, die im Unterschied zu der unaufhaltsam immer nur in einer Richtung ablaufenden Zeit die Poren bezeichnen, die den Zugang zur Ewigkeit öffnen. Das schwer zu übersetzende Wort Dao, zu dessen Sprecher Lao Dse wurde, bedeutet soviel wie den Urgrund aller Dinge, die unsichtbare Einheit der Vielheit, das Ewige in allem Wandel, und einen Weg dorthin zu finden, ist seiner Auffassung nach das Wichtigste in jedem menschlichen Leben.
Eine bemerkenswerte Lehre stammt von Mo Ti, der um die Wende des fünften zum vierten Jahrhundert vor Christus gelebt hat. Er versteht das Dao als den „Weg der allgemeinen Liebe und der gegenseitigen Unterstützung“ und erklärt ihn näher: „Dieser Weg besteht darin, dass man den Staat anderer wie seinen eigenen betrachtet, dass man das Haus anderer wie sein eigenes betrachtet, dass man die Person anderer wie seine eigene betrachtet. Wenn die Fürsten einander lieben, gibt es keine Kriege, wenn die Familienhäupter einander lieben, gibt es keine Übervorteilung, und wenn die Einzelmenschen einander lieben, gibt es kein Unrecht. Wenn alle Menschen sich gegenseitig lieben, dann werden die Starken nicht die Schwachen überwältigen, die Reichen nicht der Armen spotten, die Hochstehenden nicht die Niedrigstehenden missachten und die Klugen nicht die Einfältigen übervorteilen.“
Das klingt sehr idealistisch, doch Mo Ti war Realist genug, was Wolter bestätigt: „Aber nicht immer sind die Menschen zur allumfassenden Liebe bereit. Daher gibt es eine Geisterwelt, deren Aufgabe in der Überwachung des menschlichen Tuns besteht. Es gibt keinen Ort, an dem sich der Mensch ihrer Aufsicht entziehen könnte, und vor allen Dingen: hohe Stellung, Macht und Reichtum können nicht vor ihrer Strafe schützen.“ Es gibt deswegen keinen Ort, wohin sich der Übeltäter vor ihnen zurückziehen könnte, weil diese „Geisterwelt“ im Inneren eines jeden Menschen lebt und er sie überallhin mit sich nimmt. Eine schöne Illustration dafür ist das Drama „Macbeth“ von Shakespeare, wo die Geister der von dem Tyrannen ermordeten Opfer ihm immer wieder erscheinen und, obwohl er sie zu verscheuchen bemüht ist, ihn am Ende einholen. Die Basis dieser Auffassung ist die Tatsache, dass alles das, was ein Mensch einem anderen Menschen oder Lebewesen antut, sich auch selber zufügt, ja dass er es, bevor er es dem anderen antun kann, zuvor sich selber angetan haben muss. So kann zum Beispiel kein Bauer sein Vieh für immer in den Stall sperren und ihm die Bewegung unter dem freien Himmel versagen, wenn er sich selbst nicht zuvor schon in Ketten gelegt und sich dem Himmel verschlossen hat.

Von den Eunuchen, die in der Geschichte Chinas eine ähnlich verhängnisvolle Rolle spielten wie bei den Osmanen, heisst es in einer chinesichen Quelle: „Die Zahl derer, die von den Eunuchen umgebracht wurden, geht ins Astronomische. Ihre verbrecherische Tätigkeit hatte nur das eine Ziel, die Erhaltung der Macht.“ Ursprünglich als Wächter des Harems eingesetzt benutzten sie ihren Einfluss über die Nebenfrauen des Kaisers , um diesen zu steuern, was ihnen umso besser gelang, je mehr er sich von seinen Untertanen abschirmen musste, siehe die „Verbotene Stadt“, wo er residierte und wo sie ihn nur mit den Informationen versorgten, die ihnen nützlich erschienen. Von da aus kann man auch umgekehrt sagen, dass die Machtgier immer ein Zeichen von Impotenz ist, und der Wunsch, anderen Wesen seinen Willen aufzuzwingen, eine erbärmliche Kompensation für die eigene Liebesunfähigkeit darstellt – im Kleinen genauso wie im Großen.
Trotzdem ist vom Alten China zu sagen, dass es dort nie als ein erstrebenswertes Ziel galt, die Natur zu beherrschen. „Die Chinesen haben die Menschen nie als Herren der Natur betrachtet, sondern stets nur als einen Teil des Ganzen“, was auch in der Malerei zum Ausdruck kommt. Wolter zitiert chinesische Künstler, und zwei Äusserungen will ich hier wiedergeben: „Es gibt Maler, die die äussere Gestalt mit großer Genauigkeit getroffen haben, aber es fehlt die rhythmische Vitalität des Bildes. Den rechten Zugang gewinnt man nur, wenn man sich um die Darstellung der rhythmischen Vitalität bemüht, die für die tatsächliche Ähnlichkeit bestimmend ist.“ – „Je mehr sich ein Maler um die Genauigkeit der äusseren Gestalt bemüht, desto mehr entfernt er sich vom Geist der Dinge.“
Dieselbe Haltung macht sich auch in anderen Bereichen bemerkbar, wo es galt, in Einklang mit dem Ganzen zu bleiben und sich nicht zu überheben. Die Chinesen haben bedeutende Erfindungen lange vor den Europäern gemacht, so zum Beispiel die Tusche, das Porzellan, das Zahnrad, den Buchdruck, den Magneten, die Kohle- und Erdölverwertung, das Schießpulver und sogar die Impfung. Von der letzteren heisst es: „Während der Tang-Zeit (618 bis 906 nach Christus) war schon die Impfung gegen Pocken bekannt, sie fand jedoch kaum Anwendung. Man sah darin einen unzulässigen Eingriff in das Gesetz des Kosmos; auch bestand der Verdacht, dass das Übel, das zwar für den Augenblick gebannt war, an anderer Stelle wieder hervorbrechen würde.“ Wie recht sie damit hatten, wird uns erst heute bewusst, wo die Massenimpfungen schon im Säuglingsalter das Immunsystem dermaßen verwirren, dass es (mit anderen Faktoren zusammen) in Allergien und Auto-Aggressionen durchdreht; bei den ersteren werden völlig harmlose Substanzen wie etwa Äpfel oder Nüsse oder Getreide als bösartige Eindringlinge behandelt, und bei den letzteren werden körpereigene Gewebe nicht mehr als eigene, sondern als fremde angesehen und angegriffen, so zum Beispiel bei der Multiplen Sklerose die Hüllen der Nerven, bei der chronischen Polyarthritis die Gelenkknorpel, beim Diabetes mellitus vom Typ zwo die Inselzellen im Pankreas und bei der chronischen Glomerulonefritis die Filterorgane der Nieren.
Was das Schießpulver betrifft, so ist es nach meinem bisherigen Kenntnisstand nur für Feuerwerke verwendet worden, nun musste ich aber bei Wolter lesen: „Im siebten Jahrhundert hatten die Chinesen herausgefunden, wie aus der richtigen Mischung von Holzkohle, Schwefel und Salpeter ein Explosionsstoff entsteht. Anfangs diente das Pulver als Feuerwerk zur Verschönerung von Festen; durch Hinzufügung von Metalloxiden erzielte man überraschende Farbwirkungen. Soweit wir wissen fand das Pulver als Schießpulver, und zwar in Form von Brandgeschossen, zum ersten Mal um das Jahr 1000 als ‚fliegendes Feuer’
Verwendung. Danach entwickelten die Chinesen Handgranaten, im zwölften Jahrhundert Raketen mit einer Reichweite von achtzig Metern und Kanonen aus Bambusrohren, später aus Metall. Um diese Zeit kamen Gewehre in Gebrauch, sie hießen ‚feuerspeiende Lanzen’; für Verteidigungszwecke gab es Landminen.“ Aber diese Errungenschaften können, wie aus der folgenden Geschichte hervorgeht, wenn überhaupt, dann nur so geringfügig angewandt worden sein wie die Impfung.
„Als der gefährlichste Feind hatte sich das Volk der Khitan erwiesen; in der südlichen Mandschurei hatte es einen Staat gegründet; die Innere Mongolei und Teile der Äusseren waren von ihm erobert worden. Mit dieser Machtkonzentration hatte es mehrfach in die Herrschaft der Norddynastie eingegriffen (China war seinerzeit in mehrer Teile zersplittert). 936 hatte es große Landesteile um das heutige Peking in Besitz genommen. – Die Khitan verhielten sich (nach der Wiedervereingung des chinesischen Reiches) anfangs ruhig; erst nach dem Tod des Kaisers (Dschao Kuang Yin) übten sie erneuten Druck auf die chinesische Grenze aus. Die Abwehrkämpfe der Chinesen konnten wegen der Vernachlässigung des Heeres nur schwach sein. Das ermutigte die Khitan zu einem großen Invasionsschlag. Bevor er ausgeführt wurde, schloss der damalige Kaiser Dschen Tsung 1004 einen Frieden mit ihnen. In ihm verpflichtete sich China zu jährlichen Tributzahlungen; zugleich versprach der Kaiser, dass er und seine Nachfolger keinen Anspruch auf die verlorenen Gebiete erheben würden. Es blieb nicht aus, dass in Abständen die Khitan ihre Forderungen verstärkten. Aus dem Jahr 1042 sind zwei Zahlen bekannt, die ein Bild von dem Umfang der Tributzahlungen vermitteln. Jährlich waren es 200 000 Ta´el Silber und 300 000 Ballen Seide (ein Ta´el entspricht in etwa 40 Gramm).“
Des weiteren vernehmen wir: „Die Ju-dschen (oder Yüe-Dschin) waren in der östlichen Mandschurei ein nomadisierendes Hirten- und Jägervolk von roher Wildheit; lange Zeit waren sie den Khitan tributpflichtig gewesen. Um 1100 hatten sie sich, als das Khitan-Reich Anzeichen innerer Schwäche zeigte, aus dem Tributverhältnis gelöst; sie hatten sich zu einem Staat organisiert. Als die Khitan die Tribute von ihnen eintreiben wollten, kam es zu kriegerischen Zusammenstößen. Dieser Augenblick schien dem chinesischen Hof günstig, sich selbst aus seiner Tributabhängigkeit gegenüber den Khitan zu befreien. 1118 schlossen Chinesen und Ju-dschen ein Bündnis mit dem Ziel, gemeinsam die Khitan so zu schwächen, dass diese keine Forderungen mehr erheben würden. Der chinesische Hof hatte darüber hinausgehend den Plan, die alten chinesischen Gebiete, die die Khitan besetzt hatten, zurückzugewinnen. Gleichzeitige Angriffe von Süden und Norden her wurden verabredet. In dem 1123 ausbrechenden Krieg hatten die Khitan an zwei Fronten zu kämpfen mit dem Ergebnis, dass sie sich zwar an der Südgrenze gegen die unfähigen chinesischen Heere behaupten konnten, ihre Nordfront gegen die Ju-dschen aber in kurzer Zeit so völlig zusammenbrach, dass diese das ganze Khitan-Reich besetzen konnten. Anstatt nun, wie verabredet, in der Weise das Khitangebiet aufzuteilen, dass die Chinesen ihre ehemaligen Gebiete zurückerhielten, verleibten die Ju-dschen das gesamte eroberte Gebiet ihrem Reich ein. Sie drangen sogar weit in das Gebiet ihres Bundesgenossen ein; nirgends trafen sie auf nennenswerten Widerstand. Die Hauptstadt der Sung-Dynastie wurde von ihnen erobert, der Kaiser wurde gefangengenommen, ebenso sein Sohn mit vielen Dynastieangehörigen. – Weiter als bis zum Huai drangen die Ju-dschen trotz ihrer militärischen Überlegenheit nicht vor, aber sie diktierten dem Sung-Reich einen ausserordentlichen harten Vertrag. Nicht nur mussten die Sung die Abtretung der Nordgebiete anerkennen, sie mussten auch hohe Kriegsentschädigungen zahlen. Es wird von fünf Millionen Ta´el Gold und fünfzig Millionen Silber berichtet, dazu kamen erhebliche Mengen an Seide, Porzellan und an Pferden. Ausserdem mussten sich die Sung zu jährlichen Tributen verpflichten, die weit über denen lagen, die die Khitan erhoben hatten.“
Offensichtlich haben die Chinesen ihre Feuerwaffen nie zum Einsatz gebracht, denn sonst wären sie nicht so hoffnungslos unterlegen gewesen. Und das wiederholt sich noch einmal bei der Eroberung Chinas durch die Mongolen: „Von Peking aus leitete Kublai-Khan die Angriffe zur Eroberung von ganz China. Die Kämpfe waren langwierig; erst mit dem Einsatz einer neuen Waffe, der Feuerwaffe in Form einer Kanone, wurden die chinesischen Städte genommen. 1276 fiel die Hauptstadt Hang Dschu; bald darauf war der ganze Süden in mongolischer Hand.“ Das passt nicht damit zusammen, dass die Chinesen bereits im 12. Jahrhundert im Besitz von Kanonen gewesen sein sollen. Und wenn sie es waren, dann hatten sie diese neuen Waffen entweder nicht ausgebaut oder sie sogar schon wieder vergessen. Anders ist es auch nicht zu erklären, wenn Wolter schreibt: „Jesuiten, von denen in erster Linie der Kölner Johann Adam Schall von Bell und der Flame Ferdinand Verbiest zu nennen sind – ihr Wirken reicht schon in die Mandschu-Zeit hinein (1644 bis 1911) – verbesserten an der nördlichen Grenze und an den Küsten die Befestigungsanlagen und unterwiesen die Chinesen in der Herstellung von Kanonenrohren.“

Die Geheimbünde im Alten China waren etwas grundsätzlich anderes als die in Europa, wo großangelegte Strategien verfolgt wurden und sie in den von ihnen selbst inaugurierten „Demokratien“ den Gesamtwillen verkörperten, der von den zersplitterten Parteien nicht zusammengefasst werden konnte; um ihn zu realisieren, hatten die Logen ihre Leute in allen relevanten Parteien und gesellschaftlichen Gruppierungen untergebracht, wofür das sprechendste Beispiel das von mir schon öfters angeführte von Bush junior und seinem „Herausforderer“ Kerry ist, die beide demselben Club angehören, nämlich dem „Skull-and-Bones-Club“. Von den chinesischen Verhältnissen ist bei Wolter zu lesen: „Damals (in der Regierungszeit des Kaisers Wu Di, die von 141 bis 87 vor Christus dauerte) traten die ersten Geheimgesellschaften auf, die ebenso wie die Bauernerhebungen eine Dauereinrichtung in der chinesischen Geschichte geworden sind. Für die Bauern waren sie die einzige Möglichkeit, politisch ihr Anliegen zu vertreten.“ – „Als Führer und Sprecher der Unzufriedenen trat zum ersten Mal eine Geheimgesellschaft in Erscheinung; sie nannte sich die ‚Roten Augenbrauen’ wegen der Rotfärbung der Augenbrauen ihrer Mitglieder.“ Das bezieht sich auf die Zeit des „Usurpators“ Wang Ming, der von 9 bis 23 nach Christus auf dem Kaiserthron saß (und hinsichtlich der Wendung „zum ersten Mal“ im Widerspruch zu dem vorigen Zitat steht). – „Wie sehr der Staat und die Regierungsgewalt ausgehöhlt waren und wie unaufhaltsam das Han-Reich dem Ende zuging, zeigte der Aufstand der ‚Gelben Turbane’. Er brach 184 nach Christus los. Die ‚Gelben Turbane’ waren ein geheimer Zusammenschluss von verzweifelten Bauern. Ihr Symbol waren Kopftücher in gelber Farbe als Zeichen der Verehrung für den Gelben Kaiser der mythischen Vorzeit.“
Die Frage, wie sich die Rotfärbung der Augenbrauen und das Tragen von gelben Turbanen mit der Geheimhaltung vereinbaren lässt, wird vom Autor weder gestellt noch beantwortet, und es wäre interessant, eine Geschichte dieser Bünde zu lesen, wenn es sie gäbe. In dem mir vorliegenden Buch ist von ihnen erst mehr als 1000 Jahre später wieder die Rede: „Sobald der Druck der Mongolen nachließ, kam es zu Aufständen. Ausgangspunkt war meistens Südchina, wo wegen der Rassengesetze die Verhältnisse am drückendsten empfunden wurden. Führer waren Mitglieder der Geheimgesellschaften, deren wichtigste der ‚Weisse Lotus’ war. Der Name allein sollte die Sehnsucht nach Verwirklichung einer besseren, reinen Welt wachhalten. Die Gesellschaft war teils sozial, teils religiös, teils national beeinflusst wie die meisten der später noch auftretenden Geheimbünde. Welche Kraft in dem ‚Weissen Lotus’ steckte, beweist die Tatsache, dass der Bund noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Boxeraufstand der Hauptträger der Bewegung war.“ Aber auch hier bleibt es unklar, ob diese Gruppe wirklich über sieben Jahrhunderte existiert hat oder sich ein späterer Zusammenschluss nur diesen Namen zulegte, um sich auf die Tradition zu berufen, wie es in China sogar unter den Kommunisten der Brauch war.
Hier möchte ich einen Hinweis auf die Entstehung des chinesischen „Kampfsports“ einschieben, der von Wolter nicht erwähnt wird und von dem ich aus anderen Quellen erfuhr. Berühmt geworden ist Schao Lin, das Kloster versteckt in den unzugänglichsten Bergen, wo die Kunst, den Feind waffenlos zu besiegen, ihren Ursprung gehabt haben soll. Der Antrieb hierfür war ein besonders brutales Regime, das dem Volk das Tragen von Waffen verbot, und einzelne seiner Vertreter sich damit belustigten, wehrlose Bauern zu quälen. Ich habe den Grundgedanken dieser Bewegung, der übrigens derselbe ist wie bei dem Capoeira genannten Kampfsport der brasilianischen Sklaven, immer bewundert, obwohl ich ihn nie körperlich ausgeübt, aber auf geistliche Ebene übertragen habe – den angreifenden Feind mit seiner eigenen Energie zu Fall zu bringen durch einen winzigen Eingriff, das ist faszinierend.

Im Zusammenhang mit dem „Friedensvertrag von Nanking“, der im August 1842 geschlossen wurde und den ersten Opiumkrieg beendete, ist zu hören: „Reformbewegungen, getragen von der Absicht, China vor weiterer Misere zu bewahren, tauchten auf. Geheimgesellschaften erhielten wieder Auftrieb; sie wurden das Sammelbecken der vielen Unzufriedenen und Enttäuschten“. Die beiden Opiumkriege zwischen England und China sind ein besonderes Ruhmesblatt in der Geschichte des britischen „Commonwealth“, und wir lesen: „Die Pekinger Regierung, die die schädliche Wirkung von Opium kannte, hatte den Genuss verboten und Bestimmungen gegen die Einfuhr erlassen. Auf Schmugglerwegen und durch Bestechung chinesischer Beamter wurden die Verbote umgangen. Der Opiumhandel wurde ein großes Geschäft für England. 1823 waren in Kanton 6000 Kisten Opium an Land gebracht worden, zehn Jahre später waren es schon 30 000. Verladehafen war Kalkutta in Indien. Opium war schon während der Tang-Zeit (618 bis 906) als Medizin verwendet. Weshalb im 18. und 19. Jahrhundert ihm so viele Menschen verfielen, wird kaum eindeutig zu klären sein. Im 19. Jahrhundert war zum Teil die Flucht aus einer elenden Gegenwart der Grund. – Als sich die Pekinger Regierung endlich entschloss, mit rigorosen Maßnahmen vorzugehen, kam es zwischen englischen Kaufleuten und chinesischen Beamten zu Reibereien. 1839 hatte der Gouverneur der Südprovinz 19 179 Kisten und 2119 Säcke mit Opium, die im Kantoner Hafen zum Abtransport ins Landesinnere lagerten, verbrennen lassen. Alle Engländer mussten die Stadt verlassen. Ein Zusammenstoß war unausbleiblich, wenn die Engländer nicht auf den gewinnbringenden Opiumabsatz verzichten wollten. Ohne sich auf Verhandlungen einzulassen, eröffneten englische Kriegsschiffe das Feuer auf chinesische Dschunken, die in den Gewässern von Kanton im Auftrag der Regierung zur Jagd auf Opiumschiffe patroullierten.“
„Berichte über Landungsunternehmungen und Küstenbeschießungen durch englische Kriegsschiffe bewogen schließlich den Hof, sein Urteil über England zu ändern und nachzugeben. Auch hatten englische Soldaten den Kaiser-Kanal, den Hauptverkehrsweg für die Lebensmittelzufuhr nach Peking, in ihre Hand bekommen. In der Hauptstadt machten sich Auswirkungen einer Hungerblockade bemerkbar. – China musste Hongkong abtreten und neben Kanton auch die Häfen Amoy, Fu Dschu, Ning Po und Schanghai für den englischen Handel öffnen. In diesen Häfen durften auch Niederlassungen errichtet werden, die mit besonderen Rechten ausgestattet waren. Ausserdem hatte China eine ausserordentlich hohe Kriegsentschädigung zu zahlen. Von Opium war bei den Verhandlungen nicht die Rede. Der Nankinger Vertrag gilt in der chinesischen Geschichtsschreibung als der erste ‚ungleiche Vertrag’, da er aufgezwungen wurde. Andere sollten bald folgen. Die englischen Soldaten waren wie Banditen aufgetreten. Sie hatten gemordet, geplündert, gebranddschatzt und vergewaltigt. Kostbare Kulturgüter wurden vernichtet. – Die Geschichte der nächsten Jahrzehnte kann zusammenfassend als eine Aneinderreihung von Landraub durch die damaligen Großmächte, von wirtschaftlichen Erpressungen, verbunden mit der Beschneidung der chinesischen Souveränität, und von Demütigungen durch ständige Einmischung des Auslandes in innerchinesische Verhältnisse gesehen werden. – Der Nankinger Vertrag ermunterte andere Mächte, ähnliche Vorrechte zu erlangen. Verträge mit Frankreich, Belgien, Schweden, Norwegen, Portugal und den USA folgten. Der Wettlauf um ein möglichst großes Stück aus dem Kuchen China begann. Die USA konnten sich als erste das Recht der Exterritorialität sichern, wonach amerikanische Staatsbürger bei Verstößen gegen chinesische Gesetze der chinesischen Gerichtsbarkeit entzogen waren und nur dem Gericht ihres eigenen Landes, vertreten durch ihren Konsul, unterstanden. Andere Mächte erwarben bald danach das gleiche Recht.“
„Wenige Jahre später folgte der zweite Opiumkrieg. Der Anlass war an den Haaren herbeigezogen. Eine chinesische Patrouille hatte auf einem unter englischer Flagge segelnden Schiff einige Besatzungsmitglieder, die unter dem Verdacht des Schmuggelns standen, verhaftet. Dabei war die englische Flagge heruntergeholt worden. England sah in diesem chinesischen Vorgehen einen gewünschten Anlass, den Krieg gegen China erneut zu eröffnen. Der Krieg brach 1857 aus. – Aus Furcht, England zu viele Vorteile in China überlassen zu müssen, schloss sich Frankreich dem englischen Vorgehen an. Kanton und Tientsin litten schwer unter den Bombardements von See her. Englische und französische Landungskorps marschierten auf Peking. Die Stadt wurde genommen, der Kaiser floh nach Dschehol. In Peking hausten die Besatzer wie die Barbaren. – China musste sich zu weiteren Konzessionen bereit erklären. Fixiert wurden sie 1860 in dem Vertrag von Peking. Elf weitere Häfen wurden für den Handel mit dem Ausland geöffnet; Schiffe ausländischer Mächte durften den Yang Dse befahren, diese Bestimmung wurde später auf alle Flüsse ausgeweitet. – China zahlte hohe Kriegsentschädigungen, die zu gleichen Teilen an England und Frankreich gingen; auf ausländische Textilien durfte kein Zoll erhoben werden, was hautpsächlich der englischen Baumwollindustrie zugute kam. Die barbarischste Friedensbedingung, die China hinnehmen musste, war die Duldung des unbeschränkten Opiumhandels. Millionen von Chinesen wurden zu Süchtigen.“
Wir sehen also, dass „die internationale Staatengemeinschaft“, wie sie sich heute so gerne nennt, über ein großes Arsenal an Methoden verfügte, um den Willen der Völker zu brechen und ihre Identität zu zerstören, und so hatte man auch keinerlei Skrupel, zum Drogen-Dealer zu werden. Die Opiumkriege hatten eine Verelendung des Landes zur Folge: „Die Bauern hatten noch größere Lasten zu tragen, die Handwerker wurden durch die Billigwarenimporte aus Europa erdrückt. Durch den ständigen Silberabfluss, bedingt durch hohe Kriegsentschädigungen und auch durch die Ausgaben für den Import für Opium, war die Staatskasse leer. Vieles blieb liegen und verkam, was früher Aufgabe des Staates gewesen war, vor allem unterblieben die Instandsetzungsarbeiten an den Deichen und Bewässerungsanlagen, Überschwemmungen waren die Folge, innere Unruhen traten auf.“
Tai Ping heisst auf deutsch „Großer Friede“, und so wurde der Aufstand genannt, der das Land von 1851 bis 1864 erschütterte und zersetzte. „Die geistige Ausrichtung war religiös. Sie ging von dem Oberhaupt der Aufständischen Hung Siu Dschüan aus. Hung hatte eine christliche Missionsschule besucht, er verkündete, Visionen zu haben, in denen er als ein jüngerer Bruder Jesu dazu berufen sei, alle bösen Geister auf Erden zu bekämpfen und ein Reich des ‚Großen Friedens’ zu errichten. In einer seiner Proklamationen ließ er verlauten: ‚Fürwahr, der Himmlische Vater und mein älterer Bruder Jesus haben mich ausgesandt, um alle Gebilde, ob im Himmel, ob auf der Erde oder in der Welt der Menschen, zusammenzuführen, damit eine einzige große Dynastie für alle Zeiten und alle Gegenden der Welt werde.“
Der Aufstand richtete sich gegen die Mandschu-Dynastie, die im Jahr 1644 die Ming-Dynastie abgelöst hatte. „Die Mandschu waren die Nachkommen der Ju-dschen, des nomadischen Volkes, das während der Sung-Dynastie dem Reich zeitweilig so gefährlich geworden war. Die Mongolen hatten sie in die unwirtlichen Steppen des Nordens getrieben. Nach 400 Jahren, traten sie politisch wieder in Erscheinung, und zwar im südöstlichen Teil der Mandschurei.“ Die Ming-Dynastie war durch Aufstände hinweggefegt worden, der letzte ihrer Kaiser war tot, und „der kaiserliche General Wu San Kuei, der noch über die meisten intakten Truppen verfügte, sah in dem allgemeinen Chaos die Möglichkeit, sich selbst zum Kaiser zu machen“. Er rief die Mandschu zu Hilfe und versprach, „ihnen einige nördliche Gebiete Chinas zu überlassen. Die Mandschu gingen auf das Angebot ein, vereint wurden die Aufständischen niedergeschlagen, aber es kam, wie es schon einmal während der Sung-Dynastie mit den Ju-dschen geschehen war, ihre Nachkommen hatten es offenbar nicht vergessen. Die Mandschu dachten nicht daran, den Vertrag zu halten, die Gelegenheit war für sie, da sie schon weit in chinesischem Gebiet standen, günstig, und sie nahmen den chinesischen Kaiserthron selbst in Besitz.“
Das ist der Hintergrund dafür, dass sich der Zorn des Volkes jetzt gegen die Mandschu richtete, die man für das Desaster der Opiumkriege und die Schwäche Chinas gegenüber den Westmächten verantwortlich machte. Das ist noch zu verstehen, aber dass „das Oberhaupt der Aufständischen“, der bereits genannte und offenbar verrückte Hung sich auf Jesus berief und vom Volk als Führer anerkannt worden sei, ist völlig unglaubhaft. Dazu müssen wir das Verhältnis der Chinesen zum Christentum in Betracht ziehen. „1517 waren die ersten portugiesischen Schiffe an der Südküste von China erschienen“ – und wenn sie nur halb so schlimm aufgetreten sind wie in Indien, wo sie die Einwohner der eroberten Stützpunkte nicht nur massakriert, sondern zur Abschreckung auch bei lebendigem Leib grausam verstümmelt hatten, erwarben sie sich bestimmt keinerlei Sympathien. „Ihnen folgten Spanier, danach Holländer und Engländer. Die Erfahrungen, die die Chinesen bei diesen Begegnungen machten, waren derart, dass sie die Bezeichnungen ‚Seeräuber, fremde Teufel und Banditen’ für alle Europäer anwandten. Es hatte sich oft gezeigt, dass deren Wunsch nach Anknüpfung von Handelsverbindungen nur ein Vorwand für Raub und Plünderung war. Die portugiesischen und spanischen Bekehrungsversuche zum Christentum als zu der allein gültigen Religion empfanden die Chinesen als anmaßend und barbarisch. Einen Absolutheitsanspruch einer Religion hatte es in China nie gegeben.“ – „Das Christentum wurde mit Skepsis betrachtet. Eine Denkschrift des Ministeriums für Riten (vom Ende des 16. Jahrhunderts) enthält das Urteil: ‚Die Bilder ihres Himmelsherrn und einer Jungfrau, die (der Jesuit) Ricci als Tributgabe mitgebracht hat, sind für uns ohne Wert. Und wenn er sagt, dass sich in einem der mitgebrachten Behälter Knochen eines Unsterblichen befinden (offenbar Reliquien eines katholischen Heiligen), so müssen wir fragen, ob solche Unsterblichen ihre Knochen nicht mitnehmen würden, wenn sie zum Himmel fahren sollten. Derartige Gegenstände gehören nicht in den kaiserlichen Palast, da sie Unglück bringen. Man sollte deshalb diese Gaben nicht annehmen und Ricci des Landes verweisen.“
Weil aber Ricci nicht nur ein Ordensmann war, sondern „auch Mathematiker und Astronom, der über sehr viel genauere Kenntnisse und Berechnungen der Himmelskörper verfügte, als chinesische Gelehrte sie vorweisen konnten“, beeindruckte er den Kaiser so sehr, dass er dem Ratschlag seines Ministeriums nicht folgte, „da er als Sohn des Him-mels über alle Erscheinungen am Himmel Kenntnis besitzen musste.“ Die günstige Position, die sich die Jesuiten am Hof der chinesischen Kaiser erworben hatten, wurde dann aber von ihrem Oberherrn, dem Papst, selber zerstört: „Unter Kang Si (der von 1662 bis 1722 regierte) genossen sie (die Jesuiten) wegen ihrer Gelehrsamkeit hohes Ansehen. Der Kaiser pflegte häufigen Umgang mit ihnen. Ungehindert konnten sie ihre missionarische Tätigkeit entfalten. Das änderte sich, als Franziskaner und Dominikaner nach China kamen. Es kam zu einem Streit über die missionarischen Methoden. Die Jesuiten hatten in der Erkenntnis, wie tief Ahnenkult und Konfuzius-Verehrung im chinesischen Volk verankert waren, an den alten Bräuchen keinen Anstoß genommen. Franziskaner und Dominikaner sahen darin eine Konzession an das Heidentum. Sie riefen zur Entscheidung den Papst an. Benedikt XIV. entschied gegen die Jesuiten. Die päpstliche Stellungnahme wurde dem Kaiser, dessen jesuitenfreundliche Haltung in Rom bekannt sein musste, übermittelt.“ (Das geschah im Rahmen der Unterdrückung dieses Ordens, die bis zu seinem Verbot geführt hat, was ihrer Konkurrenz, den Freimaurern, den Weg zur Vorherrschaft frei gemacht hat.) „Der Kaiser war empört über die Einmischung einer ausländischen Instanz in chinesische Verhältnisse und auch über die Anzweiflung seiner Autorität.“
Nachdem mit den „holländischen und englischen Kaufleuten, die allmählich die Portugiesen und Spanier aus dem Handel verdrängten, die Intrigen der Missionare untereinander“ zunahmen, kam es zu einem weiteren Verlust des Ansehens der Christen. „Die Chinesen sahen verächtlich auf diese (Konfessions)Streitigkeiten herab, eine christenfeindliche Stimmung entstand. Man sah jetzt in den Predigern des Christentums, da man ihnen nicht mehr glaubte, dass sie aus Idealismus ihre Religion verbreiteten, Spione und Agenten, die möglicherweise Aufstände im Reich anzetteln wollten. Kaiser Yung Dschen (der Sohn von Kang Si, der von 1723 bis 1735 regierte) ließ alle christlichen Missionsstationen schließen, die Missionare wurden des Landes verwiesen.“ In dem schon erwähnten Vertrag von Peking, der 1860 den zweiten Opiumkrieg beendete, „musste China im ganzen Land protestantische und katholische Missionen erlauben. – Jetzt schlug den Missionaren Hass und Verachtung entgegen. Einige der ‚ungleichen Verträge’ enthielten Bestimmungen, nach denen den Missionaren ungewöhnliche Rechte eingeräumt wurden. So durften sie unbehindert Land erwerben, was sonst keinem Fremden ausserhalb der Niederlassungen erlaubt war. Die Missionare besaßen Exterritorialrechte; das verbitterte die Chinesen. Am schlimmsten aber war für das Ansehen der christlichen Mission, dass viele Missionare mit Opium-Schiffen oder gar mit Kriegsschiffen ins Land gekommen waren. Die Chinesen setzten die Tätigkeit der Missionare mit der imperialistischen Politik der Großmächte gleich. Das Christentum war in ihren Augen nun nicht mehr eine Religion wie der Buddhismus oder der Islam, sondern ein Instrument zur Ausbreitung fremder Machtpolitik. Die Verquickung von Christentum und Politik ist der Hauptgrund für die äusserst geringe Ausbreitung des Christentums gewesen, über 0,8 bis 1% an der Gesamtbevölkerung ist der christliche Anteil nie hinausgekommen. Die zum Christentum übergetretenen Chinesen galten als Chinesen zweiter Klasse, sie wurden auch ‚Reis-Christen’ genannt, was andeuten sollte, dass sie nur um äusserer Vorteile willen zum Christentum übergetreten seien.“
Dieser Exkurs war notwendig, um meine Behauptung zu untermauern, dass der sich auf Jesus berufende Hung niemals der anerkannte Anführer des großen Aufstandes nach den Opiumkriegen gewesen sein kann; seine Lehre vom „Großen Frieden“ unter einer universalen Regierung deckte sich zwar mit dem Fernziel der Verschwörer, die Berufung auf Jesus hätte ihm die Führung jedoch niemals erlaubt. Er war offenbar einer jener vom Ausland instruierten Agenten mit dem Auftrag, Verwirrung zu stiften, und vermutlich zuerst als Sozialrevolutionär und dann als Narr Gottes in Erscheinung getreten. „1860 trat die entscheidende Wende ein, die zum Zusammenbruch des Aufstandes führte. England und Frankreich liehen jetzt den Mandschu ihre Hilfe. Beide Mächte waren keineswegs mit dem Sturz der Dynastie einverstanden. Im Gegenteil, um ihre Rechte aus den Verträgen nicht zu gefährden, lag ihnen an dem weiteren Bestand der Dynastie. Die Tai-Ping-Leute waren militant, revolutionär und sozialistisch, die Mandschu waren dekadent, schwach und nachgiebig, von ihnen waren mehr Vorteile zu gewinnen. Die Regierungstruppen erhielten Waffen und Munition, während sie den Tai-Ping verwehrt wurden. Westliche Offiziere wurden zur Führung der Regierungstruppen abgestellt. Inzwischen hatten sich die Verhältnisse im Tai-Ping-Reich (die Aufständischen hatten Nanking erobert und zur Hauptstadt des ‚Reiches des Himmlischen Friedens’ gemacht) erheblich geändert. Hung Siu Dschüan hatte, bedrängt von Halluzinationen, den Sinn für die Wirklichkeit verloren. Die tatsächliche Führung war völlig an die Unterführer übergegangen. Diese aber standen in einem ständigen Machtkampf miteinander. Auch war die bisher vorbildliche Moral der Truppe zerfallen; bald unterschied sie sich nicht mehr von mordenden, plündernden und vergewaltigenden Räuberbanden. Den Regierungstruppen wurde es so ein leichtes, die aufständischen Gebiete zurückzuerobern. Mit dem Fall von Nanking 1864 war der Aufstand zu Ende.“
Wenn man, wie ich es immer wieder empfehle, die Texte auch zwischen den Zeilen liest, wird erkennbar, dass die Aufständischen bis zum Wendepunkt von 1860 Waffen von den Westmächten erhielten und ihnen dann der Nachschub gesperrt worden ist, dass es gelang, die Kampfkraft der Rebellen mit Hilfe eingeschleuster Agenten auch moralisch zu zersetzen, und dass das geplante Ziel erreicht wurde, nämlich das ganze Land China für den Untergang vorzubereiten. „Die Auswirkungen des Aufstandes waren verheerend. Zwölf Provinzen waren in Mitleidenschaft gezogen, 600 Städte waren verwüstet, zwanzig Millionen Menschen, nach anderen Meldungen vierzig Millionen, waren umgekommen. Das Volk hatte jegliches Vertrauen zur Dynastie verloren.“

Bis es aber so weit war, dass China einen Ehrenplatz in der internationalen Gemeinschaft erhielt, nämlich einen ständigen Sitz im „Sicherheitsrat der Vereinten Nationen“, bedurfte es noch mehrerer gewaltiger Schläge. Der nächste war die Niederlage Chinas gegen Japan, das den Krieg von 1894 bis 95 vom Zaun brach, und dann kam der dadurch ausgelöste „Boxeraufstand“ von 1900 bis 1901. Die Führung hatte eine „Geheimgesellschaft“ mit dem schönen Namen „Faustkämpfer für Recht und Freiheit“, und diese wurden von den Engländern „Boxer“ genannt. Im Unterschied zum Tai-Ping-Aufstand schlossen sich diesmal die Regierungstruppen den Aufständischen an, um aber dann umzuschwenken und mit den Ausländern gemeinsame Sache zu machen. Dahinter sollen die Intrigen der Kaiserinwitwe Dsu-Si gestanden haben, die aber bestimmt nicht allein verantwortlich zu machen ist. Nachdem die Westmächte Peking eingenommen hatten und die Stadt eine „dreitägige, barbarische Plünderung“ erlitten hatte, wurden die „Boxerprotokolle“ diktiert: „Alle fremdenfeindlichen Aktionen waren schwer zu bestrafen. China hatte demütigende Sühnegesandtschaften an die Höfe der Siegermächte zu senden. Eine ungeheure Summe von Kriegs-entschädigung war zu zahlen; sie musste aus den Zöllen und aus der Salzsteuer genommen werden. Die Zahlungen sollten bis 1940 laufen. Um diesen nachkommen zu können, war die Regierung zur Aufnahme von Auslandsanleihen gezwungen. Diese aber wurden nur gewährt, wenn China sich zu weiteren Konzessionen bereit erklärte, wie die Übertragung des Eisenbahbaus an die Fremden oder weiteres Entgegenkommen bei der Handhabung der Zölle. Die wirtschaftliche Abhängigkeit und Ausbeutung wurde durch Banken-, Fabrik und Bergwerksgründungen mit fremdem Kapital noch größer. Die Arbeitskräfte, die sich nicht wehren konnten und vom Staat keinen Schutz erhielten, wurden rigoros ausgenutzt.“
Inzwischen war eine neue Generation von chinesischen Intellektuellen, die in westlichen Ländern studiert hatten, herangewachsen, und was sie für Ideen in ihre Heimat mitbrachten, dafür gibt Wolter ein schönes Beispiel. Wei Yüan, einer der „drei ersten miteinander befreundeten Chinesen in namhafter Stellung, von denen bekannt ist, dass sie die Schritte in Richtung auf ein zeitgerechtes Denken taten“, gab kund: „Westliche Geschichtsschreiber sehen in Peter dem Großen einen klugen Monarchen. Weil die Technik seines Landes der des Westens unterlegen war, verkleidete er sich und reiste unerkannt durch viele westliche Länder, wo er vor allem den Bau von Waffen und Schiffen erlernte. Als er in seine Heimat zurückkehrte, unterrichtete er sein Volk. Das konnte daraufhin bald bessere Waffen herstellen, als der Westen sie hatte. Demzufolge wurde Russland der mächtigste Staat in Europa.“
Die Verehrung des Großen Peter weist diesen Denker als Logenbruder aus, und in seiner Darstellung ist zweierlei falsch. Dass Peter incognito reiste, war mehr als Show gedacht und als Baustein für das Bild des Nationalhelden, den er abgeben wollte, gleichsam als das Symbol des „Neuen Russland“. Und in der „Geschichte Russlands“, aus der ich schon zitiert habe, ist zu erfahren, dass nur die Schweden das Maskenspiel Peters ernst nahmen und ihn nicht mit der ihm als Zar gebührenden Hochachtung behandelten, woraufhin er wütend wurde. Und zweitens ist Russland niemals der mächtigste Staat in Europa gewesen, das war zuerst Frankreich und dann England, der Mythos des Zar Alexander, der Napoleon besiegte, hat also auf Wei Yüan abgefärbt; dieser Sieg war aber nicht dem Zar zu verdanken, sondern der Weite seines Landes und dem Umstand, dass Napoleon ganz bewusst ins Leere lief. Mit seiner Vetternwirtschaft hatte er ganz Europa überzogen, und es musste ihm klar gewesen sein, dass ein napoleonischer Familienbetrieb auf die Dauer nicht funktioniert, aber er hatte das Feld gut bestellt, seinen Auftrag erfüllt und sogar noch seinen Abgang grandios hingelegt. Als ihm später von Franzosen der Vorwurf gemacht worden ist, auf seinem Russlandfeldzug seien zu viele Soldaten der „Grande Armee“ ums Leben gekommen, da hat er geantwortet: „Wieso? Das waren doch meistens nur Deutsche“.
Durch die brutale Umerziehung seines Volkes, um es auf den westlichen Standard zu heben, hat Peter es in Wahrheit geschwächt, und nie konnten seine Nachfolger die furchtbare Kluft zwischen den Herrschenden und den Beherrschten mehr überbrücken. Das war auch der innere Grund, warum Russland im Krieg von 1904 bis 05 gegen Japan eine schwere Niederlage hinnehmen musste.
In China hatte der Druck und die Zersetzungsarbeit, die von den Westmächten gemeinsam ausgeübt wurden, 1911 schließlich dazu geführt, dass die Mandschu-Dynastie, oder das was noch von ihr übrig geblieben war, in einem Handstreich hinweggefegt wurde. Die Kaiserin-Witwe hatte zuvor den Kaiser, für den sie, bis er mündig war, regiert hatte, gefangengesetzt und alle „Reformer“, so weit sie sich nicht absetzen konnten, vom Leben zum Tode befördert. Sie hatten mit dem jungen Kaiser zusammengearbeitet, der ihnen aufgeschlossen gegenüberstand, und so wäre auch ein weniger einschneidender Übergang als die Ausrufung der Republik möglich gewesen. Einer der Reformer, die der Kaiserin-Witwe entkommen konnten, war Kang Yü Wei, der „seine Grundgedanken mit den folgenden Worten dargelegt“ hat: „Wenn sich die Welt zum Gemeinsinn entschlossen hat, dann werden die Weisesten und Tüchtigsten die Welt regieren, sie werden von den geeinten Massen gewählt werden. Die Produktionsmittel werden in die gemeinsame Produktion überführt. Die Alten können dann ohne Ansehen der Person gepflegt werden, die Jugend erzogen, die Armen mit Güte behandelt und die Kranken geheilt werden. Leid aus Alter, Krankheit, Armut und Alleinsein wird nicht mehr aufkommen. – Das ist der Weg der Großen Gleichheit, der in dem Zeitalter des Höchsten Friedens von allen Menschen gegangen wird. Sie werden gemeinsam und friedlich sein und deshalb bereit und fähig zur Großen Gleichheit.“
Damit kann er sich auf die „von Konfuzius verkündete Zukunftsvision“ berufen, die Wolters so wiedergibt: „Wenn die Große Wahrheit siegt, dann wird die Erde Eigentum für alle werden. Man wird die weisesten und tüchtigsten Männer wählen, um Frieden und Eintracht zu haben. Die Menschen werden dann nicht nur ihre Familienangehörigen lieben und nicht nur für ihre eigenen Kinder sorgen, alle Alten werden dann ein friedliches Ende haben können, alle Kräfte werden nützliche Arbeit leisten, alle jungen Menschen in ihrem Wachstum gefördert werden, Witwer, Witwen und Waisen, Einsame, Schwache und Kranke ihre Fürsorge finden.“ Vom Paradies auf Erden träumen sie beide, und doch unterscheiden sich die Aussagen an zwei entscheidenden Punkten: Kung Fu spricht nicht von der Großen Gleichheit, sondern von der Großen Wahrheit, was ein gewaltiger Unterschied ist, und dann ist bei ihm auch nicht von der Erziehung der Jugend die Rede, sondern von der Förderung ihres Wachstums. Und weil die Große Gleichheit nicht mit der Großen Wahrheit zu vereinbaren ist, da es in Wahrheit in dieser Welt nichts Gleiches gibt, sogar jedes Blatt am Baum ist verschieden, darum sind die weisesten und tüchtigsten Männer bei Kung Fu auch etwas ganz anderes als bei Kang Yü, wo es die „Mitglieder der ehrenhaften Gesellschaft“ sind, der er selbst angehört. Und darum ist sein Gesellschaftsprogramm auch haargenau so, wie er es verkündet hatte, von Mao Dse Dong und seinen Nachfolgern umgesetzt worden, bis auf das unhaltbare Versprechen natürlich, das Leiden abschaffen zu können.
Das mir vorliegende Material ist zu knapp, um den kometenhaften Aufstieg von Mao Dse Dong im einzelnen zu erklären, aber in groben Umrissen wird das Wesentliche erkennbar. Und warum es das Ideal des „Kommunismus“ war, das in China auf so fruchtbaren Boden fiel, wird mir jetzt klar, es konnte die alte Sehnsucht nach dem paradiesischen Urzustand vor der Gründung von Staaten in sich aufnehmen, denn es galt ja die Verheissung, dass nach einem Übergangszustand der Kommunismus erreicht und damit der Staat abgeschafft würde. Aber diese Verheissung war eine Lüge, denn der „Urkommunismus“, der in den Jäger- und Sammlerhorden verwirklicht war, beruhte auf der Solidarität aller Mitglieder, die durch die Wildnis der Natur, in der sie lebten, genötigt waren, zusammenzuhalten – wobei es durchaus schon „Privateigentum“ gab, die Kleidung, die Gebrauchsgegenstände und der Schmuck waren jedem einzelnen zugeordnet, aber sie waren keine Objekte eines möglichen Raubes, der völlig unsinnig gewesen wäre, wie ich schon dargelegt habe. Es ist jedoch etwas ganz und gar anderes, von Parteifunktionären zur Kollektivierung genötigt zu werden als von den eigenen Lebensumständen, und so lief die Umerziehung zum „Neuen Menschen“ auf Desorientierung und Gehirnwäsche hinaus.
„In der Atmosfäre der Armut, der Entbehrungen und des aufopfernden Dienstes entstand auch schon Maos Leitbild vom ‚Neuen Menschen’, das später zum Inhalt seiner messianischen Verkündigung wurde: ‚Niemals und nirgends darf ein Kommunist sein persönliches Interesse an die erste Stelle setzen. Er muss sich den Interessen des Staates und des Volkes unterordnen. Deshalb sind Selbstsucht und Lässigkeit, Bestechlichkeit und Geltungssucht äusserst verächtlich. Dagegen sind Selbstlosigkeit, Eifer und Selbstaufopferung für das Gemeinwohl sowie zähe, harte Arbeit Achtung gebietend’.“ Mao spielt sich hier als pseudoreligiöser Gesetzgeber auf, und was er jedem einzelnen „Volksgenossen“ abverlangt, das hat er selbst schon bei seiner Aufnahme in die Loge geschworen, nämlich immer und überall die Interessen der Loge über seine eigenen zu stellen und ein gehorsamer Erfüllungsgehilfe des Ordens zu sein. Die Armut und die Entbehrungen, die er angeblich auf sich nahm, gehören zur Legendenbildung um seine Person, und noch in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts konnten chinesische Bauern dabei beobachtet werden, wie sie vor Mao-Bildern knieten und sagten: „Wir haben einen neuen Kaiser“.
Im Jahr 1906 war die „Nationale Volkspartei“ gegründet worden, die als Kuo Min Tang berühmt und zunächst von Sun Ya Dsen geführt wurde, dem ersten Präsident der Republik nach dem Sturze der Mandschu. Er trat sehr bald zugunsten des Generals Yüan Schi Kai zurück, der sich selbst zu einem neuen Kaiser machen wollte, aber 1916 von der Bühne abtrat, denn da ist er gestorben. Danach zerfiel China in das, was Wolter „die Republik der Warlords“ nennt, verschiedene Generäle hatten sich selbständig gemacht und tyrannisierten ganze Provinzen, indem sie nicht nur die Bauern aussaugten, sondern sie auch noch mit ihren gegenseitigen Kriegen zermürbten. Die Kuo Min Tang unter Dschiang Kai Schek, dem offiziellen Staatsoberhaupt, versäumte es, auch „nach einer gewissen Befriedung des Reiches“ die versprochene Bodenreform zugunsten der armen Landpächter und zuungunsten der parasitären Grundbesitzer durchzuführen, sodass die Bauern massenweise der 1921 gegründeten „Kommunistischen Partei Chinas“ in die Arme getrieben wurden.
Und die Legendenbildung geht weiter: nachdem Mao das Grab von Kung Fu besucht und den Heiligen Berg Taischan bestiegen hatte, wurde er „in der Gebirgslandschaft auf der Grenze zwischen den Provinzen Kiangsi und Hunan zum führenden Kopf der KP. Dort sammelten sich um ihn die von Dschiang abgefallenen Truppen, entwurzelte Bauern und auch viele aus den Städten fliehende Kommunisten, die sich im Untergrund nicht mehr hatten halten können; es sollen etwa tausend Mann gewesen sein. – Hier in den Bergen und Wäldern entstand seine Taktik der Guerilla-Kriegführung, die von ihm auf die Formel gebracht wurde: ‚Naht der Feind, ziehen wir uns zurück; steht der Feind, so beunruhigen wir ihn; ist er des Kampfes müde, greifen wir ihn an; zieht er sich zurück, so verfolgen wir ihn’.“ Das ist sicher genial, und einen messerscharfen Verstand kann dem „Großen Steuermann“ niemand absprechen. Mit dem Feind meint Mao die Kuo Min Tang, welche die Klassenfeinde der Arbeiter und Bauern vertritt, die Bourgeoisie und die Grundbesitzer; und somit tobte ein Guerilla-Krieg innerhalb von China zwischen Mao und Dschiang seit den zwanziger Jahren bis zum Sieg Maos 1949 mit der Ausrufung der „Volksrepublik“. In einem verwirrenden Wechsel von Zusammenarbeit und Feindschaft zwischen den beiden Bürgerkriegsparteien (in dem Stalin kräftig mitmischte, und zwar auf der Seite von Dschiang), der durch den zweiten Krieg Japans gegen China von 1937 bis 1945 noch verschärft wurde, behielt Mao den Durchblick und prägte die zweideutige Formel: „Bündnis und Kampf zugleich“. Die Hauptlast des Krieges gegen Japan hatte die „Nationalarmee“ unter Dschiang Kai Schek zu tragen und wurde entsprechend dezimiert, während die „Rote Armee“ Mao Dse Dongs aus dem Hinterland zu einem Riesen anwuchs. Im Jahr 1934 standen schon 120 Tausend Rotarmisten unter Waffen, von denen wir hören in der Geschichte des legendären „Langen Marsches“.
„Erst mit dem fünften Feldzug mit einer erdrückenden Übermacht von 700 Tausend Mann Soldaten unter dem Einsatz von Flugzeugen gelang es Dschiang Kai Schek einen Ring um die Kommunisten zu legen, der erdrückend werden musste. Die Kommunisten sahen sich eingekesselt und der Möglichkeit beraubt, Hilfe aus anderen Gebieten zu erhalten. Um der Erdrückung zu entgehen, fassten sie den Entschluss, auszubrechen und das Tätigkeitsfeld in ein entfernteres und noch unwegsameres Gebiet zu verlegen. In Aussicht nahmen sie die Provinz Schensi. In der Nacht zum 16. Oktober 1934 begann der Ausbruch. Etwa 120 Tausend Kommunisten konnten unbemerkt aus dem Umzingelungsring entweichen. – In der chinesischen Geschichtsschreibung ist der nun beginnende ‚Lange Marsch’ wegen seiner Leistungen und seiner Folgen Legende geworden.“ Von niemandem behindert konnte Mao überall, wo er hinkam, den Kommunismus verkünden, und am Ende dieses Marsches schrieb er: „Der Lange Marsch ist auch eine Säemaschine, die über elf Provinzen ungezählte Saat ausgestreut hat. Diese wird sprießen, blühen und für die Zukunft Frucht tragen.“
Schon die Mitteilung, 120 Tausend Kommunisten hätten einen geschlossen Ring, der von 700 Tausend Regierungssoldaten gebildet wurde, unbemerkt durchbrechen können, ist eine fromme Legende, die Mao in das Reich des Wunderbaren erheben soll. Ohne Mitwissen und Mithilfe von Dschiang wäre Mao aus dieser Falle niemals entkommen, und die beiden hatten ja in dem Rollenspiel, das sie für die Massen vorspielten, die Gegenpositionen verteilt: hie der gute Mao, dessen Truppen sich vorbildlich benahmen, und hott der böse Dschiang, dessen Soldaten sich miserabel aufführten. Der Sieg des Guten über den Bösen ist nach der überzeugenden Rollenverteilung sehr leicht als gerecht zu vermitteln, und weil dieses Rezept so erfolgreich ist, wandte es Mao auch später noch mehrfach an, wobei er immer die Seite des Guten besetzt hielt, seine Gegner wechselten sich ab und hießen einmal Liu Schao Dschi, Lin Biao oder auch „Viererbande“.
Woher die Rote Armee, die 1934 bereits auf 300 Tausend Mann angewachsen war, ihre Waffen bezog, ist nicht klar. Ob die Lieferungen von Stalin, der Dschiang zumindest nach aussen favorisierte, an Mao ausreichten, ist fraglich, und vermutlich hat Stalin Waffen sogar an beide Seiten geliefert, im Bund mit den USA, die auch nicht daran interessiert waren, dass sich China aus eigener Kraft erneuern konnte. Dieses Land, das in der Geschichte der Menschheit die längste Kontinuität des Bestehens vorzuweisen hat (zweieinhalb tausend Jahre) bedurfte einer besonderen Kur, um gebrochen zu werden. Die Waagschale neigte sich immer mehr auf die Seite des vorher schon zum Sieger bestimmten Mao Dse Dong, und der Wendepunkt war der Angriff Japans auf China 1937. „Mao sagte bei Kriegsausbruch: ‚Der Krieg ist für uns Kommunisten eine einmalige Gelegenheit, uns auszubreiten. 70% unseres Tuns müssen wir dafür verwenden, 20% um Dschiangs Regierung zu kontrollieren, und 10% zum Kampf gegen die Japaner’.“ Er hatte das sehr kühl berechnet, und der Erfolg gab ihm recht. 1946 entsandte der US-amerikanische Präsident Truman „den hochgeachteten General Marshall als Sonderbeauftragten nach China mit der Weisung, zwischen beiden Parteien zu vermitteln“. Gemeint sind Mao und Dschiang, und wir hören weiter: „Der amerikanische General hatte bei seinem Abschied vor einer Konfrontation gewarnt. Er war am Ende seiner Mission zu der gleichen Schlussüberlegung über die Zukunft Chinas gekommen, wie sie schon einige Jahre vorher aufmerksame und unvoreingenommene Beobachter in ihren Berichten in Washington geäussert hatten. ‚Gleichgültig ob der Generalissimus (Dschiang) einen Bügerkrieg entfesseln wird oder sich mit den Kommunisten verständigt’ hieß es in einem Bericht, ‚in jedem Fall ist er zur Niederlage verurteilt. Sein feudales China kann nicht zusammen mit einer modernen dynamischen Volksregierung bestehen. Die Kommunisten werden in China bleiben, und die Zukunft des Reiches wird ihnen gehören, nicht Dschiang’.“ Und genau dies war von langer Hand beschlossen und umgesetzt worden.
1949 hat sich Dschiang auf die Insel Taiwan abgesetzt, und als er auf dem Festland in seinen letzten Zügen lag, heist es von ihm: „Ein Novum war, dass es Generäle gab, die nur dann noch Befehle Dschiang Kai Scheks ausführten, wenn vorher beträchtliche Summen auf ihr Auslandskonto überwiesen wurden. Die Morbidität des gesamten Systems zeigte sich auch darin, dass amerikanische Waffenlieferungen, die für die Nationalarmee bestimmt waren, vollständig in die Hände der Roten Armee gelangten. Entweder wurden sie von Kuo Min Tang Funtkionären verschoben, oder auch ganze Truppenverbände liefen, wenn sie mit neuen Waffen ausgerüstet waren, zu den Kommunisten über.“
Nach dem Sieg Maos erschütterten mehrere von ihm initiierte „Bewegungen“ das Land, von denen ich einige anführen will. Eine der ersten war die „Wu-fan-Bewegung“ von 1951 bis 52, die sich unter dem Vorwand der Bekämpfung der „fünf Erzlaster der chinesischen Gesellschaft vor allem gegen Unternehmer und Kaufleute richtete. Gegen sie ging die Partei in Sondergerichten und Volkstribunalen mit oft überftriebenen und ungerechtfertigten Anschuldigungen vor. Arbeiter wurden aufgestachelt, gegen ihre Brotherren Anschuldigungen zu erfinden, Kinder gegen ihre Eltern auszusagen. Man soll in diesem Zusammenhang von 750 Tausend Erschießungen gesprochen haben. Andere von der Partei angeheizte Bewegungen folgten. Sie dienten der allgemeinen Erziehung, so die Bewegung ‚Reform der Gedanken’. Sie wandte sich vornehmlich gegen die Intellektuellen, aber auch gegen Parteifunktionäre, um deren Denken nach den Parteilehren zu überprüfen. Mit Eigenanklage und Weckung von Schuldgefühlen sollte die nicht bloß formale, sondern die von wirklicher Überzeugung getragene Zustimmung zu dem neuen Staat und seinen Werten erreicht werden. Wer sich bei diesen Schulungen hartnäckig weigerte, wurde zur Umerziehung durch Landarbeit in die entferntesten Provinzen aufs Land geschickt. Andere Bewegungen, die weniger betont politische Absichten hatten, aber das Volk ebenso in Bewegung hielten, waren Kampagnen wie die zur Ausrottung der Fliegen und Ratten. Durch die Indoktrinierung und durch die sie begleitenden Zwangsmaßnahmen gewann das Regime einen solchen Einfluss, wie ihn vorher kaum eine Regierung in China gehabt hat. Auch sollte auf diese Weise dem Volk das Bewusstsein vermittelt werden, dass fortan nur ein einziger Wille im Reiche herrsche.“
„Um die gleiche Zeit (1951) startete die Partei den ‚Kampf gegen Konterrevolutionäre’. Er diente der Beseitigung alter Führungsgruppen, zugleich richtete er sich gegen die Ausländer zur Ausschaltung ihres Einflusses in der Wirtschaft und gegen die christlichen Missionen (bei den beiden letzten Zielgruppen konnte sich Mao der Unterstützung der Massen gewiss sein). Der Kampf wurde in vielen Schauprozessen mit vagen Anschuldigungen und gestellten Zeugen geführt. Die Prozesse endeten in den allermeisten Fällen mit öffentlichen Hinrichtungen. Über die Zahl der Opfer ist nie Genaues bekannt geworden. 1951 war das Jahr des brutalsten Terrors. Die Morde werden in diesem Jahr allein auf 3 bis 4 Millionen geschätzt. Viele Menschen begingen Selbstmord.“
Per Gesetz wurde nur noch die monogame Ehe erlaubt und im gleichen Atemzug die Großfamilie zerstört. Die Bauern wurden kollektiviert, wobei man ihnen notgedrungen bald wieder ein Stück eigenes Land überlassen musste, dessen Erzeugnisse sie auf dem Markt verkaufen durften, weil die Hungersnöte infolge der Regierungsmaßnahmen doch zu denken gegeben hatten. „Im Sommer 1959 machten sich die Fehlschläge aus dem ‚Großen Sprung’ leidvoll mit 20 bis 30 Millionen Verhungerter bemerkbar.“ Zwei Jahre zuvor war die „Hundert-Blumen-Bewegung“ ins Leben gerufen worden – „so genannt nach der von Mao ausgegebenen Parole ‚Lasst hundert Blumen blühen, lasst hundert Schulen miteinander wetteifern’. Mao hatte damit einen Spruch aus der chinesischen Vergangenheit gewählt. Er wollte die Erinnerung an die große Zeit der klassischen Filosofie des 5. bis 3. Jahrhunderts wecken, in der die geistigen Grundlagen des alten China gelegt worden waren. Man versprach den Intellektuellen bessere Arbeitsbedingungen und vor allem Freiheit des Denkens. Um ihren Vorbehalt gegenüber der neuen Ordnung aufzugeben und zugleich mit Anregungen zum Besseren hervorzutreten, sollten sie frei ihre Meinung äussern dürfen. Die Intellektuellen hielten sich anfangs vorsichtig zurück. Erst nachdem ihnen mehrfach von der Parteiführung zugesichert worden war, dass den Kritikern keine Nachteile erwachsen würden, äusserten sie ihre Meinung. Das Ergebnis war für die Partei niederschmetternd. Die Partei selbst wurde in Frage gestellt. Sie reagierte umgehend und hart. Nach fünf Wochen wurde die ‚Hundert-Blumen-Bewegung’ gestoppt. Dschu Yang, Literaturkritiker und hoher Funktionär in der Propaganda-Abteilung des ZK, erklärte: ‚Die Imperialisten und ihre Lakaien bildeten sich ein, dass die Hundert-Blumen-Bewegung auf sogenannten bürgerlichen Freiheiten beruhe; sie übersahen, dass es sich um sozialistische Blumen handelt’. Diejenigen Intellektuellen, die sich mit ihrer Kritik zu weit vorgewagt hatten, wurden ‚nach unten’ geschickt. Das bedeutete, dass viele Wissenschaftler, Ärzte, Juristen, Lehrer, Journalisten, Künstler und Studenten zur ‚Umerziehung’ in Arbeitslager geschickt wurden. Andere mussten Handarbeit in Fabriken oder auf den Feldern bei den Bauern leisten. Professoren reinigten Straßen und Latrinen. Tiefste Empörung breitete sich unter den Intellektuellen jeder Sparte aus. Die Kluft zwischen ihnen und der Partei war noch größer geworden.“
Nichtsdestotrotz begann 1966 die „Große Proletarische Kulturrevolution“ als eine „Revolution innerhalb der Revolution“ – und zwar „gegen alte Ideen, alte Kultur, alte Sitten und alte Bräuche“. Mao hatte sie mit einem eindrucksvollen Spektakel eröffnet, indem er mit immerhin 72 Jahren zum zweiten Mal den Yang Dse Kiang durchschwamm, um damit zu demonstrieren, dass einem Menschen mit eisernem Willen kein Ding unmöglich ist. Und den frustrierten Massen gab er neue Sündenopfer zum Abreagieren: „In der Hysterie ihres Vorgehens (der ‚Roten Garden’) sind viele Zerstörungen, gewalttätige Verhaftungen, Folterungen und viele Übergriffe mit Todesfolge vorgekommen. Die Zahl der ermorderten Opfer soll sich auf vier bis fünf Hunderttausend belaufen haben; nicht mitgerechnet sind die vielen Selbstmorde gedemütigter oder in die Verzweiflung getriebener Literaten, Künstler, Wissenschaftler und Funktionäre. Quälend und entwürdigend waren die ‚Gehirnwäschen’, mit denen versucht wurde, dem Betroffenen geistig das Rückgrat zu brechen.“
Mit dieser Enthauptung seines eigenen Volkes war Mao dem Beispiel von Stalin gefolgt und selbst zum Vorbild seiner Verbündeten, den Tyrannen Kim Il Sung in Nordkorea und Pol Pot in Kambodscha, geworden. Und wenn wir uns fragen, wie ein „Volksfreund“ zum Massenmörder an seinem eigenen Volk werden kann, dann müssen wir den Fall von Japan in Rechnung stellen. Dieses Land hatte sich im zweiten japanisch-chinesischen Krieg, den es wie schon den ersten entfesselt hatte, in einen festgefahrenen Stellungskrieg mit den Chinesen festgebissen, der an den im Ersten Weltkrieg zwischen Frankreich und Deutschland herankam. Es war ihm nicht möglich, einen den Krieg entscheidenden Sieg zu erfechten, und trotzdem eröffnete es durch den Angriff auf Pearl Harbour im Dezember 1941 eine zweite Front gegen sich selbst, und schon im Juli 1942 „zerschlugen die Amerikaner die Hauptmacht der japanischen Kriegsflotte und den Kern der Luftwaffe. Japan hat sich von diesem Schlag nicht mehr erholt“. Ein weiterer voraussehbarer Effekt von Pearl Harbour war die Lieferung von Waffen aus den USA an die Truppen von Dschiang. Wie war es also möglich gewesen, dass Japan zu seinem selbstmörderischen Schlag nach Osten ausholte, während es im Westen noch unauflösbar verstrickt war – und dies, obwohl wir hören: „Warnend und in ungewöhnlicher Weise hatte der japanische Kaiser seine Stimme erhoben, indem er vor der Öffentlichkeit die Frage erwog, ob es nicht die Kraft Japans überschritte, einen langen Krieg gegen China zu führen, sich gleichzeitig auf einen Krieg mit Russland vorzubereiten und eine maritime Aufrüstung gegen die USA zu betreiben.“ Es musste als Männer in Japan gegeben haben, die mächtiger waren als der Kaiser und denen es nicht um ihr Vaterland ging, sondern um das größere Ganze, um dessetwillen sie bereit waren, Millionen zu opfern.
1949, im Jahr der Machtergreifung Maos, nach so vielen Jahren des Kriegs und Bürgerkriegs, „war das chinesische Volk bereit, jede Regierung zu akzeptieren, sofern sie nur Ordnung und Sicherheit versprach. Allgemein verbreitete sich die Meinung im Volk, dass es eine schlechtere Regierung als die der Kuo Min Tang nicht geben könne.“ Das Volk wurde eines besseren belehrt, und nach dem Tod von Mao Dse Dong war es wieder bereit, „jede Regierung zu akzeptieren, die nur Ordnung und Sicherheit versprach“ – nach so vielen Jahren des Massenterrors. Der elfte Parteitag vom August 1977 versprach „eine Zeit der Großen Ordnung im ganzen Land“, und es war dies die Zeit so geschmeidiger Männer wie Deng Hsiao Bing, der zweimal in der Versenkung verschwunden und wieder aufgetaucht war; er hatte es sich zum Prinzip gemacht, dass es völlig gleichgültig sei, ob eine Katze schwarz oder weiss sei, wenn sie nur Mäuse fange. Und unter seiner Regie wurde die „sozialistische Marktwirtschaft“ eingeführt und der Traum vom Kommunismus sang- und klanglos begraben.
Im Februar 1972 war der US-Präsident Richard Nixon nach Peking gekommen und hatte bei seinem Treffen mit Mao den passenden Trinkspruch auf Lager: „Es gibt keinen Grund für uns, Feinde zu sein. Keiner verlangt nach dem Staatsgebiet des anderen; keiner sucht den anderen zu beherrschen. Auch wird keiner die Hand ausstrecken, um die Welt zu beherrschen. Dies ist der Tag für unsere beiden Völker, zu den Höhen der Größe aufzusteigen, von denen aus eine neue bessere Welt gebaut werden kann.“
So sprechen Logenbrüder, wenn sie unter sich sind und vermeinen, die Presse verstünde ihre Anspielungen nicht. Eine neue und bessere Welt wurde schon manchmal versprochen, es hat sich dann aber jedesmal herausgestellt, dass alles nur noch schlimmer wurde. Darum wollen wir diese Welt so akzeptieren und lieben wie sie ist, um durch ihre Schlupflöcher hindurch in das Dao zu blicken.
Zur Bewahrung der Erinnerung an die unsterbliche Schönheit des Alten China möchte ich hier nur noch auf die Poesie der acht Gestalten, die dem „Buch der Wandlungen“ (dem I-Dsching) zugrundeliegen, hinweisen, und aus dem Gedächtnis zitiere ich sie in der Reihenfolge Vater, Mutter, erste Tochter, erster Sohn, zweite Tochter, zweiter Sohn, dritte Tochter, dritter Sohn: erschaffender Himmel, empfangende Erde, sanfter Wind, erregender Donner, haftendes Feuer, abgründiges Wasser, heiterer See, ruhender Berg.



Das von Mo Ti postulierte „Geisterreich“ wird sowohl vom heutigen China als auch von der weltweit siegreichen europäischen „Aufklärung“ für nicht eksistent und als purer Aberglaube erklärt und damit diffamiert; ich kann aber beweisen, dass es auch heute noch so wie seit jeher ein Bestandteil der wirklichen Welt ist. Zu unserer angeborenen Instinktnatur gehört ein Gefühl für die Liebe und ein Gefühl für die Gerechtigkeit, das heisst für den Ausgleich, ohne diese beiden hätten die Horden, in denen wir die längste Zeit verbracht haben, nicht zusammenhalten und sich in der wilden Natur behaupten können. Und wenn etwa ein Hass oder eine Ungerechtigkeit, also die Beschädigung eines Stammesgenossen durch einen anderen, aufflammen sollte, dann wurde die Zwietracht sehr rasch beigelegt und die Solidarität wiederhergestellt, im Interesse des gemeinsamen Überlebens. Die Ursprünge der Rechtsprechung in einem Streitfall sind hier zu finden, und es war immer wie noch beim isländischen Thing die Versammlung aller, der ganzen Horde, unter freiem Himmel, am besten unter einer Linde, denn dieser Baum stiftet Frieden, wo dieser erneuert wurde. Geschriebene Gesetze hat es noch lang nicht gegeben, es wurde nach dem so genannten „Gewohnheitsrecht“ geurteilt, das sich über die Generationen bewährt und entwickelt hat.
Diese Struktur formte die Basis des Zusammenlebens und -wirkens, und sie ist es auch heute noch immer, wird aber nun durch ein aufwendiges Manöver umgeformt, durch das, was man die Erziehung zum Staatsbürger nennt. Dadurch geraten die Menschen in eine innere Spaltung, die wir aber nicht als der menschlichen Natur inhärent sehen dürfen, sonst müsste sie nicht mit solchem Nachdruck jeder Generation wieder eingeschärft werden. Die Menschen der bisher längsten Periode waren als Jäger und Sammler in der freien Wildnis unterwegs, die nicht ungefährlich war und daher die höchste Wachsamkeit erforderlich machte. Ein gespaltener Mensch konnte dort nicht überleben, das Verhalten musste aus einem Guss sein und geschmeidig auf jeden Augenblick eingestellt. Und die Solidarität innerhalb jeder Horde überwog alle Konflikte bei weitem, die aggressiven Energien waren im Kampf um das Überleben in einer Umgebung von wilden Tieren zur Genüge gebunden.
Nach einer unvorstellbar langen Zeit geschah es dann aber, dass die anfangs sehr kleinen und wenigen Horden sich über die ganze Erde ausbreiten konnten und zuletzt aufeinander gestoßen sind, um sich den Lebensraum streitig zu machen. Kraft des großen Gehirnes und seiner Fähigkeiten war es den menschlichen Gruppen, die sich in verschiedene Rassen differenzierten, gelungen, die Fressfeinde nach und nach auszuschalten und sich so zu vermehren, dass der bis dahin unerschöpflich weite Raum zu eng wurde für die zahlreiche Nachkommenschaft. Das muss in einem erstaunlich kurzen Zeitraum passiert sein, denn die verschiedenen Menschenrassen haben sich nicht so weit auseinander entwickelt, dass sie sich nicht mehr paaren und gemeinsam fortpflanzen könnten. Trotzdem aber war dieser Zeitraum groß genug, dass sich die aufeinander treffenden Menschen nicht mehr als aus einem gemeinsamen Urspung entstanden erkennen konnten oder wollten, und die Kriege wurden nur dadurch möglich, dass dem jeweilige Feind das Menschsein abgesprochen wurde, um die angeborene Tötungshemmung zu überwinden.
Und alles, was innerhalb der eigenen Gruppe aufs höchste verpönt war, durfte nunmehr dem zum Unmenschen erklärten Gegner angetan werde;, Täuschung, Betrug, Wortbruch, Raub, Mord und Vergewaltigung waren als Entschädigung für den Kriegszug erlaubt, und das hatte zwei Konsequenzen: nach innen die Verrohung der entweder geschlagen oder siegreich heimkehrenden Männer, und von aussen den Einbruch all dieser Greuel auch in die eigenen Reihen, nach dem Motto „Auge um Auge“ oder „Wie du mir, so ich dir“. Der Ansatz zur Bildung von Reichen und Staaten ist aus diesen immer wieder ausbrechenden Kriegen erfolgt, indem ein mächtiger Stamm sich nach und nach die umliegenden Stämme unterwarf, um den Frieden herzustellen und das Aufblühen von Wohlstand zu ermöglichen. Verbrämt wurde der Herrscher als Kaiser oder König der Könige mit einer religiösen Gloriole, die seine Autorität absichern sollte, er war entweder der Sohn des Himmels oder gar selber ein Gott, und Widerstand gegen ihn bedeutete Aufruhr nicht nur gegen den Staat, sondern gegen die Gesetze von Himmel und Erde.
Die Großreiche oder Staaten mit einem Regierungs- und Verwaltungsapparat zur Eintreibung der Steuern und Tribute, der Unterhaltung einer Armee und einem geschriebenen Gesetz mit der zugehörigen Justiz gibt es erst seit fünf- bis sechstausend Jahren, das erste „Weltreich“ (das persische, das vom Indus bis zum Nil reichte) ist gar erst zweieinhalb Jahrtausende alt, es sind also sehr rezente Erscheinungen. Vom Anfang ihrer Entstehung an haben sie den Keim ihrer Auflösung und Selbstzersetzung in sich, der dann früher oder später durchdringt und zu Dekadenz und inneren Machtkämpfen führt, womit sie wie reife Früchte den erobernden „Barbaren“ in die Hände und in den Schoß fallen. Der Staat hat es aber immer wieder fertiggebracht, seinen Untertanen einzureden, dass sie ohne seinen Schutz in einen Krieg aller gegen alle zurückfallen müssten, denn so miserabel sei nun einmal die menschliche Natur, dass sie vor sich selber bewahrt werden müsste. Das aber ist eine Lüge, im Zeitalter der totalen Erziehung, wo die Kinder nirgends mehr sich selbst überlassen werden und permanent unter Beobachtung stehen, kann sie jedoch den Anschein von Wahrheit erwecken. Ich selbst habe demgegenüber noch gesehen, wie Kinderhorden verschiedensten Alters den ganzen Tag herumstreiften und sich ihre Gesetze selbst gaben, ja ich habe das sogar noch selber erlebt, jedenfalls für ein paar Jahre während meiner Kindheit in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Und das Erlebnis des Zusammenhaltes auch gegen die Welt der Erwachsenen hat uns Stärke und Selbstvertrauen geschenkt.
Meine Hypothese von der Fortdauer der archaischen Menschennatur auch unter dem Firnis der „Zivilisation“ lässt sich belegen durch die unausrottbare Tendenz, selbst in Massengesellschaften überschaubare Gruppen zu bilden, vom Bekanntenkreis über den Sportverein bis hin zu den Parteien und Sekten (inklusive Punker und Skinheads). Die darin vorhandene Bestrebung zur bedingungslosen Loyalität nach innen (mit dem Extrem des Kadavergehorsams) und sich abgrenzenden Feindseeligkeit nach aussen ist nicht zu leugnen; sie führt aber zu einer Spaltung zwischen den Gruppen, die jeden einzelnen Menschen betrifft. Die Trennung in Mitglieder und Ausgeschlossene ähnelt oberflächlich gesehen der Stammeszugehörigkeit der ursprünglichen Horden, die aber bis zu dem Zeitpunkt des Zusammenstoßes mit anderen und fremd gewordenen Menschen eine Abgrenzung nach aussen nicht kannten, denn auch die Wildnis wurde nicht einseitig als feindlich erlebt und eine Kommunikation selbst mit dem Geist der Tiger und der Koyoten war möglich und wurde gepflegt.
Das Absprechen der Menschenwürde des Feindes in äus-seren oder inneren Kriegen als Voraussetzung seiner Beschädigung hat eine unausbleibliche und daher fatal zu nennende Folge. Um ihn zu betrügen, muss ich mich zuvor selber betrogen haben, und schon die Vorstellung, er sei kein Mensch im ächten Sinne, ist Illusion, Selbstbetrug; und um ihn foltern und töten zu können, muss ich das Mitgefühl für ihn in mir abgetötet und jedes Aufkeimen desselben zertreten haben, denn sonst wäre ich dazu nicht fähig. Wer sich aber eine Moral konstruiert hat, mit der er die Würdigen und Unwürdigen, die Reinen und Unreinen oder die Guten und Bösen glaubt unterscheiden und trennen zu können, damit er im Namen des scheinbar Guten befugt ist, das Böse zu bekämpfen oder gar ganz auszurotten, den verfolgen die Geister auf doppelte Weise. Alle von einem solchen Tyrannen misshandelten und unterworfenen Opfer werden an ihn nicht mit Wohlwollen denken, sondern ihn verfluchen und hassen, und ihren Gedankenwellen kann er sich nicht entziehen. Das ist die äussere Seite, die von der inneren ergänzt wird: schon im selben Moment, wo einer einen anderen verletzt, hintergeht, verleumdet oder für tot erklärt („der ist für mich gestorben“), verletzt er sich selbst, sein eigenes inneres Wesen, auch dann, wenn er um diese Tatsache aus der Wahrnehmung zu drängen, pausenlos neue Opfer verbraucht und sich an ihrer Qual und Angst weidet.
Es gibt eine „Goldene Regel“, die allen Religionen zugrunde liegt und besagt: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu“; und darin ist die Nächstenliebe mit der Feindesliebe vereint, denn es ist völlig ohne Bedeutung, wer dieser andere ist und ob er zum eigenen Clan gehört oder nicht. Die „Goldene Regel“ ist in Wahrheit ein nicht von Menschen gemachtes Gesetz, sondern ein in ihn geprägtes, und er kann es nur übertönen, aber niemals ungültig machen. Im Alten Indien hieß der Satz: „Tat twam asi – Das bist du“, und die Zusammengehörigkeit, ja Identität von Atman und Brahman, der einzelnen und der Weltseele wurde behauptet. In der Thorah spricht der „Herr“ in seiner Eigenschaft als Bewohner aller Seelen den Satz: „Ani Ani Hu – Ich, Ich bin (auch) Er (und/oder Sie)“, und im Evangelium hören wir von Christus als der Weltseele den Satz: „Was du dem Geringsten meiner Brüder antust, das tust du mir an“ – und damit deinem innersten Kern.
Die Wahrheit von der doppelten Folge der Verletzung des Gesetzes der universellen Liebe, vom doppelten Fluch der Untat, wird bei uns nicht gelehrt, es kann sie aber jeder Mensch im Lauf seines Lebens erkennen. Sie ist das Werk jener „Geister“, von denen Mo Ti behauptet, sie würden das Geisterreich überwachen. Stets wach und wirksam sind nun wahrhaftig die Geister, die jeder Mensch mit seinen Taten und Untaten erzeugt, und entweder Segen oder Verwünschung ist deren Folge. Das geht über das Stammhirn und das vegetative Nervensystem bis ins Fleisch, und deswegen sagt man auch von einem, der sich schlau dünkt, weil er seinen Mitmenschen übers Ohr hauen konnte, dass er sich ins eigene Fleisch hinein schneidet. Er sägt den Ast ab, auf dem er sitzt, denn er zerstört die solidarische Verbindung und den Energiefluss zwischen sich und den anderen Menschen, und in die Gruben, die er anderen gräbt, fällt er selbst.
Das ist die Dummheit des Übeltäters, und sie hat sich deshalb so weit ausgebreitet, weil die einfache Wahrheit von der Wirkung der Untat nicht mehr gelehrt, sondern als Aberglaube verlacht wird. Und das kommt davon, dass der Staat eine Rechtfertigung für seine absonderliche Eksistenz braucht, die wie schon gesagt darin besteht, dass die Menschen von Natur aus bösartig seien und ohne eine staatliche Ordnung übereinander herfallen würden, um sich zu zerfleischen. Das stimmt tatsächlich, gilt aber nur für staatlich deformierte Wesen, denen es nicht gelungen ist, die Wahrheit der Liebe zu finden. Daher sagt Jesus: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“, womit er aber kein „ausserirdisches Reich“ meint, denn er hat auch gesagt: „Das Königreich der Himmel ist mitten unter euch“ – oder auch: „zwischen euch“, denn im Energiefluss der unbehinderten Liebe ist es zu finden. „Nicht von dieser Welt“ bedeutet „nicht von dieser Ordnung“, das Wort Kosmos kommt von Kosmeo, „Ordnen, Anordnen“ und dann auch „Schmücken, Ausschmücken“ (daher die „Kosmetik“). Das Reich, dem sich Jesus zugehörig fühlt, hat keinen Schmuck nötig und auch keine Schminke und kein Parfum, denn alle erstrahlen da in ihrer natürlichen Schönheit, und ein wohlriechender Duft strömt von ihnen aus. Das ist der ursprüngliche Glanz, die Aura der Heiligen, die wieder hergestellt werden kann für alle die armen Sünder, die sie verloren haben und diesen Verlust nun erkennen.
„Mit fester Zuverlässigkeit kann ich dir sagen, dass jemand, der nicht von neuem geboren wird, ausserstande ist, das Königreich Gottes zu sehen“ – so spricht Jesus des Nachts zu dem Farisäer Nikódemos. Der scheint ihn nicht zu verstehen, und Jesus setzt nach: „Mit fester Zuverlässigkeit kann ich dir sagen, dass jemand, der nicht aus Wasser und Wind geboren wird, ausserstande ist, hineinzugehen in das Königreich Gottes. Wundere dich nicht darüber, dass ich gesagt habe, ihr müsst von neuem geboren werden. Der Wind weht wo er will, und du kannst sein Rauschen wohl hören, aber du weißt nicht, wo er herkommt und wo er hinabfährt. Und genauso sind alle aus dem Wind Geborenen.“
Das griechische Wort Pneuma bedeutet gleichzeitig Wind, Atem und Geist, und das hebräische Wort Ruach hat genau dasselbe Spektrum an Sinn, sodass wir gut daran tun, den Geist aus der Nähe zum Fantom zu verrücken und ihn mit dem Odem und dem Wind gleichzusetzen. „Geboren aus Wasser und Wind“ ist der Mensch ein doppelt Geborener, zuerst mit seiner leiblichen Geburt in die Welt des Wassers hinein, das sichtbar immer nur in die eine Richtung fließt, von der Quelle zur Mündung, so wie das menschliche Leben von der Geburt bis zum Tod. Das ist die Sfäre der berechenbaren Zeit, die sich unterteilen lässt in Jahre, Monate, Tage und Stunden. Die Sfäre des Windes ist eine ganz andere, da der Wind nach allen Richtungen frei ist und dort weht, wo er will. Daher ist er auch nicht berechenbar, und die Wettervorhersage ist trotz all der Mess-Satelliten und der von ihnen gelieferten Daten über den kommenden Tag hinaus ungewiss und enzieht sich spätestens nach drei Tagen jeder Gewissheit. Beim Wetter handelt es sich um ein so genanntes „chaotisches System“, in welchem kleinste Schwankungen einen Wirbelsturm auszulösen vermögen. Und genauso unberechenbar wie der Wind sind nach Jesu Auffassung die aus dem Wind geborenen Menschen, weshalb sie von der herrschenden Ordnung auch verfolgt und umgebracht werden müssen. Denn diese baut auf Planung und Steuerbarkeit und kann es nicht lassen, eine Norm aufzustellen, nach der sich alle zu richten hätten, um kontrollierbar zu sein. Mit dieser Norm jedoch beginnt der Staatsterror, der zum Untergang führt, denn alles Lebendige liebt die Vielfalt, die schier unendliche Variation. Der Staat aber ist der Totengräber des Lebens, weil er dem Leben nicht traut und es mit der Natur zusammen für bösartig hält, um es entweder zu zähmen oder zu vernichten.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ – dieser dumme Spruch stammt von Lenin, und er wird oft nachgeplappert, ohne zu bedenken, dass die Kontrolle das Gegenteil von Vertrauen ist -- und hier haben wir einen antagonistischen, d.h. sich ausschließenden Gegensatz vor uns. Es gibt Polaritäten und Gegensätze, die ersteren ergänzen sich, die letzteren schließen sich aus. Und das ist nicht der Willkür überlassen, sondern ein tief in uns eingeschriebenes Gesetz, das über alles von Menschen Gemachte hinausgeht. Schon im Stoffwechsel der Einzeller findet sich der Gegensatz zwischen dem, was verdaulich und einverleibbar ist, und dem, was dieser Forderung nicht genügt und daher ausgeschieden wird. Und wenn Jesus gesagt hat, dass wir nicht zwei Herren dienen können, dem lebendigen Gott und dem Mammon, dann handelt es sich dabei gleichfalls um einen Gegensatz, der nicht zu vereinbaren ist und kein gemeinsames Drittes hervorbringen kann. Die Partner stoßen sich nicht nur ab, sie schließen einander grundsätzlich aus, und wo das eine ist, da kann das andere nie sein, daher gibt es auch kein gemeinsam erzeugtes Kind. Das Unvereinbare verlangt von uns eine klare Entscheidung, und wenn ich mich dazu durchringe, den lebendigen Gott zu bejahen und sein erstes Gebot zu befolgen, nämlich der Wonne (oder der Wollust, auf hebräisch Edän) zu dienen und sie zu bewahren, dann kann ich auf die Berechenbarkeit des Geldes nicht hoffen. Wahre Liebe kann ich mir nicht kaufen, die muss ich mir anders erwerben und mich ihrer würdig erweisen durch etwas, das über alles Mess- und Zählbare hinausgeht. Und wenn ich auch gezwungen bin, mit Geld umzugehen, solange ich die Zeitwelt dieser Ordnung durchlebe, so bin ich durch die zweite Geburt von der Diktatur des Geldes erlöst und kann die wunderbarsten Dinge erleben, die alle kostenlos sind.
Pneuma und Ruach ist auch die Luft, die wir ein- und ausatmen, und selbst bei totaler Windstille ist die Luft schon bewegt vom Ein und Aus aller atmenden Wesen. Die Luft ist allen gemeinsam, im Unterschied von der Speise, die jeder nur allein für sich essen kann, auch wenn er sie in Gemeinschaft verzehrt -- und Atmosfäre ist ein anderes Wort für die Luft. Der Staat, der sich über die Groß- und Weltreiche und über die staatlichen Zusammenschlüsse deutlich genug zum Weltstaat aufschwingt, verschmutzt durch seine gigantische Industrie die Atmosfäre auf doppelte Weise, und wieder gilt der uralte Satz „Wie innen so aussen“ – denn der Luftverschmutzung entspricht eine geistliche Verschmutzung, und die Reinheit ist nur durch die Rückkehr in den Naturzustand möglich, wo die Lungen wie Bäume sind und die Bäume wie Lungen. Daher sollten wir auch nicht länger mit Verachtung auf die „Primitiven“ herabsehen, die es nicht bis zur Staatsbildung brachten, sondern von ihnen lernen, wie sie ihre Angelegenheiten noch selbst regeln können, ohne fremde und aufgestülpte Instanzen zu brauchen.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf ein so häufig missverstandenes Wort Jesu hinweisen: Weil er gesagt hat „Gebet dem Kaiser was des Kaisers ist und Gott was Gottes ist“, wird behauptet, er habe für die Trennung von Staat und Kirche plädiert und sei damit ein früher „Aufklärer“ gewesen – und das dient als ein Baustein für das Konstrukt der Überlegenheit der ehemals „christlichen“ Staaten über die des Islam, wo Staat und Kirche eine unzertrennliche Einheit darstellen. Jesus hat den Staat nicht bejaht, und für ihn war zwischen dem Kaiser und dem Mammon kein Unterschied, der Kaiser zeichnet sich ja dadurch aus, dass er den meisten Zaster besitzt, um die Söldner und Leibwachen zu bezahlen, die ihm seine Vormacht garantieren – und sollte ihm die Knete ausgehen, wird er alsbald gestürzt. Mit dieser Sfäre hat Jesus garnichts zu tun, und seinem zitierten Ausspruch ging die Frage der Farisäer voraus, ob man dem Staat (in diesem Fall war das die römische Besatzungsmacht) Steuern bezahlen soll oder nicht. Hätte er geantwortet „Nein“, dann wäre er als Staatsverbrecher und Rebell sofort gehängt worden, und hätte er gesagt „Ja“, dann hätte man ihn als miesen Kollarobateur verleumden können. Darum ließ er sich eine der Münzen zeigen, mit denen die Kopfsteuer bezahlt worden ist, und als er sie anschaute und ein Gesicht darauf sah, da fragte er, wer das sei. „Der Kaiser“, war die Antwort, und daraufhin sagte er: „Gebet dem Kaiser was des Kaisers ist“ – das heisst: Gebt ihm die Münzen, die er geprägt hat, zurück, und kümmert euch lieber um andere Dinge.
Das grenzenlose Vertrauen, das Jesus dem aus Wasser und Wind geborenen Menschen entgegenbringt, hat den alten Nikódemos sicher erschreckt. Und doch hat es auch in ihm etwas in Bewegung versetzt, was ihn zu einer völlig unerwarteten Handlung veranlasste, die – hätte sie man ihm vorausgesagt – nur sein ungläubiges und mit einem gewissen Entsetzen vermischtes Staunen hervorgerufen hätte. Ich meine seine Beteiligung beim unsichtbar Machen von Jesu Leichnam (siehe Band 35 meiner Werke mit dem Titel „Mirjam aus Magdalah“). Das Vertrauen Jesu in die Unberechenbarkeit und Spontanität des von neuem geborenen Menschen ist deshalb gerechtfertigt, weil ein solcher Mensch keinen eigenen Willen mehr hat, sondern sich mit dem Wind dreht, wie auch immer der weht, denn er verkörpert den Geist, der zwischen und in allen Wesen, die Odem haben, pulsiert. Und diese Aufgabe des eigenen Willens zugunsten des Geistes ist etwas ganz und gar anderes als die mit den Mitteln der Unterwerfung und Selbst-kasteiung oder -disziplinierung angestrebte und im schlimmsten Fall auch erreichte. Der Mensch, der seinen eigenen Willen zugunsten eines Ordensmeisters aufgibt und sich zu dessen blindem Werkzeug macht, hat seine Seele verloren, er ist zu einem Befehlsempfänger und Automaten geworden, und wenn er nicht mehr funktionert, wird er gnadenlos ausgemerzt. Aber tausendmal besser als sich zu einem Rad im Getriebe des Staates machen zu lassen, ist es, zu sterben. Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er den ganzen Kosmos besäße und hätte Schaden genommen an seiner Seele?
Mit der offenen oder latenten Todesdrohung zwingt der Staat seine Untertanen in die geforderten Rollen, und schon die Ausgrenzung und Verfemung der jeweiligen Ketzer ist eine Art Mord, der soziale Tod, den er mit der Behauptung rechtfertigt, ein Staatswesen sei dasselbe wie ein Organismus und habe das Recht und die Pflicht, Parasiten zu töten oder zu isolieren. Wer aber dem Geist folgen kann, ist von ganz anderer Art, er wendet sich gerade den Ausgestoßenen zu, den Erniedrigten und Beleidigten, denn er hat erkannt, dass der Staat unter bestimmten Bedingungen zwar gleichsam naturwüchsig entstand, aber aus dem Zusammenhang des lebendigen Ganzen herausfällt und eine Anti- und Scheinwelt erschafft, die schlimmer ist als jede Pest und jeden Organismus zerfrisst.
Aus dem Mund dessen, der sich vom Geist leiten lässt, kommen manchmal auch Sachen, die ihn selbst überraschen, und den gleichen Spielraum gewährt er auch den anderen Menschen. Mit denen, die ihn verstehen, weil sie wie er selbst täglich aufs neue geboren werden, teilt er die Freude am Fest des Lebens immer aufs neue, und dessen größtes Geschenk ist die Spontanität. Schon ein Schwarm Eintagsfliegen lässt sich nicht nach einer Formel berechnen und das Verhalten voraussagen, jede einzelne Mücke kann den Wirbel in einer ihr eigenen und impusiven Art mitgestalten und den Schwarm sogar verlassen und nach Belieben wieder in ihn zurückkehren, wie es uns die Beobachtung zeigt; und dasselbe Fänomen ist auch bei Fisch- und Vögelschwärmen zu sehen, wo Formationen ständig neu entstehen in einer gemeinsamen Aktion, bei der jedes einzelne Tier völlig frei ist und Lebenslust pur. (Etwas Ähnliches können Menschen erleben, die miteinander musizieren und singen, aber nur dann wenn die Improvisation, also wörtlich das Unvorhersehbare erlaubt ist.)
Zur Frage der Steuer und damit zur Einstellung dem Staat gegenüber, gibt es im Evangelium noch eine schöne Geschichte. Eines Tages seien die Steuereintreiber zu Petros gekommen und hätten ihn gefragt: „Zahlt euer Rabbi die Kopfsteuer nicht?“ Petros antwortete, das täte er doch, aber als sie dann das Geld sehen wollten, entschuldigte er sich und sagte, er hätte es nicht bei sich und müsste es holen. Er eilte zu Jesus, und bevor er noch den Mund aufmachen konnte, hatte jener schon an seinem Gesicht abgelesen, worum es ging, und ihn gefragt: „Was meinst du, Simon, von wem erheben die Könige der Erde Zoll oder Steuer, von ihren Söhnen oder von den Fremden?“ Petros antwortete: „Von den Fremden natütlich“, und Jesus entgegnete ihm: „Demnach sind die Söhne also frei.“ Petros muss ihn ganz verdutzt angeschaut haben, und wenn er sich vorgestellt hätte, wie er das den Steuereintreibern klarmachen sollte, dann wäre er bestimmt in Verlegenheit gekommen. Jesus erlöste ihn aus dem Zweifel und sagte zu ihm: „Wir wollen sie aber nicht unnötig ärgern, geh also hin an den See und wirf deine Angel aus, und dem ersten Fisch, der heraufkommt, öffne das Maul, und du wirst eine Münze darin finden, die für uns beide ausreicht.“
Das klingt nach einem Märchenmotiv, und was bei Salomon der verlorene Ring war, der seine Königswürde bewies und im Inneren eines Fisches gefunden wurde, sodass er den Thron, von dem ihn der Satan in seiner eigenen Gestalt gestoßen hatte, wieder bekam, das ist hier die Kopfsteuer, deren Bezahlung den ärgerlichen Zusammenstoß mit der Staatsgewalt abwenden hilft. Die Könige der Erde haben ihre Vormachtstellung nur dem Zusammenspiel verschiedener Umstände zu verdanken, die sich jederzeit wieder verändern, und besser als sich mit ihren Bütteln herumzustreiten ist es, dem Zufall auch die Belästigung durch Menschen wie sie beenden zu lassen. Wenn aber die Weisungen Jesu oder eines der Heiligen in der Lebenspraxis nicht anwendbar sind, dann taugen sie garnichts, und immer haben wir die Gleichnisse auch zu deuten. Geh an den See und wirf deine Angel aus, und dem ersten, der anbeisst, entnimm die Münze, die für dich und mich reicht – das ist schon ein verdammt anarchistischer und schlitzohriger Rat, und für einen Orientalen bedeutet er klarer Weise: Geh hin und dreh ein Ding, los, mach ein Geschäft, aber nimm es nicht allzu ernst und beschränke dich darauf, dem Partner nur so viel aus der Nase zu ziehen, wie du ernstlich benötigst. Eine andere Möglichkeit wäre auch die, mit den Steuereintreibern zu trinken und zu würfeln, um ihnen dabei den verlangten Betrag abzuluchsen, inklusive der Zeche.

Mit der Unterwerfung von Indien haben sich die Westmächte wesentlich leichter als mit der von China getan, und von britischen Offizieren befehligte einheimische Truppen kämpften die auf Unabhängigkeit bedachten Landsleute nieder. Dies ist der „Geschichte Indiens“ von Herrmann Kulke und Dietmar Rothermund (Stuttgart 1982) zu entnehmen, die historisch fassbar genauso weit in die Vergangenheit zurückreicht wie die chinesische, nämlich zweieinhalbtausend Jahre. Aber im Unterschied zu China hat Indien es niemals zu einer sein ganzes Gebiet umfassenden Reichsgründung gebracht, die Einigung erfolgte erst unter den Briten, und zudem waren die Brüche in der indischen Geschichte viel tiefer. China hat die Jahrtausende mit allen Krisen überstanden ohne seine Identität zu verlieren, die ihm erst von den imperialistischen Mächten geraubt worden ist, die Fremdvölker, die zuvor schon mehrfach eingefallen waren, hatte es stets mit bestem Erfolg assimiliert und absorbiert, was ihnen sogar mit den Mongolen gelang.
Im Jahr 1206 gründete Aibak, der Führer einer Schar aus Zentralasien über Afghanistan in Nord-Indien eingefallener muslimischer Turkmenen, das Sultanat von Delhi, und seither wurde der größte Teil Indiens von muslimischen Fremdvölkern beherrscht, zuletzt von den Groß-Mogulen, die sich seit 1526 festgesetzt hatten. Nur im Süden des Subkontinents gab es noch ein paar hinduistische König- oder Fürstenreiche, die aber nie damit aufgehört hatten, sich erbittert zu bekriegen, ohne dass eines die Vorherrschaft über die anderen erreichen konnte. Und ein solcher immer wieder aufflackender und nie zu beendender Kampf ist charakteristisch für die ganze indische Geschichte seit dem Altertum, was ein wesentlicher Grund für den Sieg der Fremdvölker war.
Über das Artraschastra, das „wichtigste Staatslehrbuch des Alten Indien“, das um 300 vor Christus von Kautalya verfasst worden ist, dem „Ministerpräisdenten und Mitstreiter von Tschandragupta“, dem Begründer des Maurya-Reiches, ist bei Kulke zu lesen: „Das wesentliche Anliegen des Artaschastra ist es nun, Anleitungen zu geben, wie noch vor dem Kampf die eigenen Machtfaktoren zu stärken und jene des Feindes zu schwächen seien. Um dieses Ziel zu erreichen, hatte der Vidschigischu (der ‚Siegeserheischende’) im eigenen Land eine große Zahl von Spionen und im Land des Feindes Geheimagenten einzusetzen. Gerade die seitenlangen Anweisungen an diese königlichen Agenten, oft verbunden mit erstaunlichen psychologischen Erkenntnissen in die Schwäche und Käuflichkeit der Menschen, brachte Kautalyas Werk in den Verruf, selbst Macchiavellis ‚il Principe’ in den Schatten zu stellen.“ Kautalya fasst in seinem Buch offenbar die Erfahrungen der Jahrhunderte lange geübten Praxis zusammen, und die nie enden wollenden Kriege waren mit Sicherheit ein Grund für die Weltabgewandtheit, ja Weltverneinung der indischen Religionen.
Als der Buddhismus in China Eingang fand, da hatte dieses Land gerade eine lange Zeit der Zerstückelung und der Kriege zwischen Teilreichen hinter sich und war daher geneigt, der Botschaft vom sinnlosen Kreisen des Leidens zu lauschen. Aber dann wurde China wieder ein Reich und der Buddhismus nur ein Ingredienz seiner vielfältigen und reichen Kultur. Ausserdem kannte China das Kastenwesen nicht und musste seine militärische Kraft letztlich immer aus den Bewohnern des Landes aufbauen, die zu über neunzig Prozent aus Bauern bestanden; und so war es in China auch möglich, dass Bauernrevolten dekadent gewordene kaiserliche Dynastien hinwegfegen konnten und ein Sohn armer Bauern zum Kaiser zu werden vermochte (so der Begründer der Ming-Dynastie). In Alten Indien war der Krieg dagegen immer nur Sache der Kriegerkaste, der „Kschatryas“, denen das Kriegshandwerk genauso oblag wie den Bauern die Produktion von Nahrungsmitteln, den Kaufleuten der Handel, den Handwerkern das Handwerk und den Brahmanen die Opfer. Von Bauernaufständen wird nichts vermeldet, denn dieses System war extrem starr fixiert, von den in der Rangordnung am höchsten stehenden und von ihm am meisten profitierenden Brahmanen war es als sakrosankt erklärt und mit der absurden Lehre von der Reinkarnation verknüpft worden. In seine Kaste wurde man hineingeboren und kam zeit seines Lebens nicht mehr heraus, das Einzige, was einem blieb, wenn man das Pech gehabt hatte, zu den für die Kriege der Fürsten ausgepressten Bauern zu gehören oder gar ein Paria zu sein, ein „Unberührbarer“, war der Glaube, dass man wegen seines schlechten Karma aus dem vorigen Leben nichts anderes verdient hatte, und die Hoffnung, durch die getreue Erfüllung seiner Pflichten (des „Dharma“) im nächsten Leben ein besseres Los zu erwirken. Das hatte zur Folge, dass dieses System unveränderlich wurde, denn es in Frage zu stellen hätte bedeutet, die Hand gegen die Ordnung der Welt zu erheben und das unerbittliche Gesetz von Ursache und Wirkung ausser Kraft setzen zu wollen.
Für mich war die „Reinkarnations-Lehre“ seit jeher ein Scherz, denn schon als Kind begann ich, die Schwindeleiehen der Erwachsenen zu durchschauen, und seitdem glaube ich nichts mehr, was ich in meinem eigenen Leben nicht überprüft und als gültig anerkannt habe. Und jene Lehre widerspricht meiner Erfahrung, wonach jedes neugeborene Kind die Welt völlig neu sieht und jedes einzelne Wesen, ja jedes Ding einzigartig ist und nicht aus einer Kausalkette, die über den Tod hinaus wirksam sein soll, erklärbar. Wollte mir jemand beweisen, das Blatt an der Buche, das in diesem Jahr am fünften Ast ganz aussen wächst, im vorigen Jahr am untersten Ast völlig im Schatten gewesen sei und sich durch sein Karma nunmehr verbessert hätte (oder es sei umgekehrt vom sechsten zum dritten Ast abgestiegen) – so könnte er mir damit nicht absurder erscheinen als wenn er mir die Reinkarnationslehre darlegen wollte. Jedes Blatt ist einzigartig, und obwohl es als Blatt bestimmte Grundeigenschaften mit allen anderen Blättern teilt, ist es trotzdem unterscheidbar durch gewisse Imponderabilien, das heisst Unwägbarkeiten. Und genauso, ja noch mehr, ist es bei jedem Baum, jede Buche oder Eiche hat gewisse Eigenschaften, die sie als Buche oder Eiche kennzeichnen, und totzdem ist jede Buche und jede Eiche einzigartig und wohl unterschieden. Nicht anders verhält es sich mit den Menschen, sie sind zur selben Zeit alle gleich und trotzdem völlig verschieden, und diese Mischung macht ihre Einzigartigkeit aus. Zwar sind sie geprägt von ihrem Erbe, von dem ihrer Eltern und Ahnen sowie von dem der ganzen Zeit, in die sie hineingeboren werden, aber all diese Einflüsse stammen nicht von jenseits des Todes, sondern vom hiesigen Leben und sind darum voller Unwägbar- oder Zufälligkeiten, die sich dem Kausalgesetz grundsätzlich entziehen. Das zeigt sich schon in der Durchmischung der elterlichen Gene nach dem Zufallsprinzip bei der Reifeteilung der Gameten, und jeder Versuch, diesen Zufall leugnen und mit den Zügeln der Kausalität das Geschehen beherrschen zu wollen, führt zum Absterben des seinem Wesen nach spontanen Lebens.
Der Starrheit des Denkens entspricht die Starrheit der Gewohnheiten und die Erstarrung des ganzen Systems, und somit war es den Türken, die im zwölften Jahrhundert in Indien einfielen, ein relativ Leichtes, die ritterliche Kaste der Fürsten- und Königstümer zu schlagen, denn ihren Eroberungskrieg hatte das ganze Volk zu seiner Sache gemacht. Die muslimische Oberschicht ging nicht in der indischen Kultur auf, wenn sie auch manches übernahm, und sie ließ es auch nicht zu, dass Inder in sie aufsteigen konnten, es sei denn sie wären Muslime geworden. Das sind sie dann auch massenhaft geworden, denn der Islam kennt keine Kasten, und besonders für die Benachteiligten war er eine verlockenden Alternative, sodass es ein Wunder ist, wie der Hinduismus in den muslimisch beherrschten Gebieten, die bis nach Zentral- und Südindien reichten und etwa 600 Jahre bestanden, überlebt hat.
Etwas Bewegung in das Kastensystem hatte Buddha gebracht, denn in den von ihm gegründeten Klöstern waren die Kasten nicht mehr eksistent, und unter Aschoka, dem Nachfolger von Tschandragupta, der von 268 bis 233 vor Christus das Maurya-Reich erweitert hatte und den Buddhismus protegierte, sah es schon so aus, als würde das Kastenwesen aus Indien verschwinden. Was aber letztlich aus Indien verschwand, das war der Buddhismus, der sich nur halten konnte in Tibet, China, Korea, Japan und Hinterindien (Burma, Laos, Kambodscha, Vietnam, Thailand), in Gestalt des Mahayana, des „Großen Fahrzeuges“, das mit Buddha kaum noch etwas zu tun hat und die Götter und Geister wiederkehren ließ, für die sich der „Erleuchtete“ (wie sein Zeitgenosse Kung Fu) nicht interessiert gezeigt hatte. Seine Lehre hat nur auf der Insel Ceylon eine Zuflucht gefunden, wo sie unter dem Namen Hinayana bekannt ist, dem „Kleinen Fahrzeug“, das nur wenigen Auserwählten und hart trainierenden Mönchen und Nonnen erlaubt, das Glück der endgültigen Auslöschung ihrer selbst zu erleben.
Dankbar bin ich Kulke für die Auskunft, dass besagter Aschoka buddhistische Missionare in den Westen geschickt hat „zur Unterweisung der Lehre“. Die Könige der westlichen Reiche, in welche diese Leute ausgesandt wurden, sind „im 13. Felsedikt sogar namentlich genannt: Antiyoka, Antiochus II. von Syrien, 261 bis 246; Tulamay, Ptolemäus II. von Ägypten, 285 bis 247; Antekina, Antigonos von Makedonien, 276 bis 239; Makas, Magas von Kyrene, um 300 bis 250; Alikasudala, vermutlich Alexander von Epirus, 272 bis 255.“ Wenn die Missionare in Syrien und Ägypten waren, dann waren sie auch im „Heiligen Land“, das genau dazwischen liegt und unter den Diadochen zuerst den Ptolemäern und dann den Seleukiden gehörte. Und dankbar bin darum, weil ich die Existenz solcher Missionare, ohne einen Beleg dafür zu haben, annehmen musste, um eine bestimmte Stelle im Johannes-Evange-lium zu erklären. Dort heisst es in den Versen 47 und 48 des ersten Kapitels: „Jesus sah den Nathanael zu sich kommen und spricht von ihm: Siehe! wahrhaftig ein Israelit, in dem kein Trug ist. Nathanael spricht zu ihm: Woher kennst du mich? Jesus antwortete und spricht zu ihm: Ehe Filippos dich rief, als du unter dem Feigenbaum warst, sah ich dich.“ In Band 18 meiner gesammelten Werke gehe ich ausführlich auf diesen Feigenbaum ein, der in der Bibel eine zentrale Stelle einnimmt und im Buddhismus der Baum ist, unter welchem Gautama seine Buddhaschaft erlangt hat. Und wenn Jesus zu Nathanael sagt, er habe ihn unter dem Feigenbaum sitzen gesehen, dann bedeutet das nicht, dass er ihn zuvor mit seinen Augen geschaut haben musste, sondern dass er ihm angemerkt hat, dass er zu denen gehörte, die die Lehre des Buddha erprobt und verworfen hatten.
Im „Klassischen Hinduismus“ der Weden war die Einheit von Athman und Brahman, von Einzel- und Weltseele postuliert worden, und Buddha hatte an die Stelle der letzteren sein Nirwana gesetzt, weil sie ihm offenbar immer noch zu konkret und lebendig erschien. Das hat ihn schließlich den Untergang seiner Lehre in Indien gekostet, er wollte alle die wunderbaren Götter- und Geistergeschichten, an denen das Alte Indien so überreich ist, einfach beiseite schieben und für nutzlos erklären. Die geistliche und die profane Literatur des Alten Indien geht fließend ineinander über, und ich habe mit Begeisterung und großem Gewinn für mein Leben sowohl die Mythen als auch die Märchen mitsamt den erotischen Geschichten gelesen, von denen viele auch noch in die im islamischen Ägypten niedergeschriebene Sammlung „1000 und eine Nacht“ mit hineingingen. Die Menge an Lebenserfahrung, Sarkasmus und Witz, Weisheit und Schauder in diesen indischen Geschichten ist unübertroffen und am ehesten noch mit denen der alten Hellenen vergleichbar. Aber während diese ihre eigenen Götter- und Heldengeschichten schon zu Zeiten des Sokrates nicht mehr ernst nehmen konnten und sie dem Gespötte preisgaben, bewahrten die Inder den Respekt vor den ihren.
Schankara, der von etwa 780 bis 820 nach Christus gewirkt hat, „schuf die geistige Voraussetzung für die Verdrängung des Buddhismus und seiner in mancher Hinsicht verwandten Lehre vom Leiden und dessen Überwindung.“ Seine Lehre heisst Kewala Adwaita („absolute Zweiheitslosigkeit“) und besagt, dass „die Einzelseelen im Samsara, dem Geburtskreislauf der vielfältigen Welt verharren, solange sie im Trugbild, Maya, von deren Realität befangen sind. Dieses Maya-Trugbild resultiert aus dem Nichtwissen von der völligen Einheit von Brahman, Seele und Welt. – Einzig die Erkenntnis von der Alleinheit bewirkt die Erlösung aus dem Kreislauf der Geburten.“ Das aber war, bis auf die Enbeziehung der Welt, nur die Wiederholung der schon in vorbuddhistischer Zeit herrschenden Auffassung, und was Schankara so originell und wirksam gemacht hat, war noch etwas anderes. Er schloss in seine Zweiheitslosigkeit noch eine Zweiheit mit ein, die von seinen Vorgängern nicht zusammengebracht werden konnte, nämlich die „von Wissen und noch nicht Wissen“, von Awidia, wörtlich „Nicht-Sehen“, und Dschinana, „Erkenntnis“. Und das „gab ihm als orthodoxen Brahmanen die Möglichkeit, die geheiligte wedische Religion, orthodoxes brahmanisches Ritualwissen und den Glauben an einen höchsten Schöpfergott, Ischwara, mit den volkstümlichen Traditionen der Vielfalt göttlicher Manifestationen und sozialer Verhaltensweisen zu einem großartigen System zu vereinen.“ Das bedeutet mit anderen Worten, dass die Brahmanen, die bis zu Schankara mehr oder weniger weit vom Volk entfernt und abgetrennt lebten, sich nun mit diesem vereinten und die Überfülle an Götter- und Geistergeschichten und ihre entsprechenden Feste nicht kastriert haben wie es in anderen Teilen der Erde geschah, sondern sogar die lokalen Kulte am Leben ließen, die vielen heiligen Orte und Wallfahrtsstätten mit ihrer wunderbaren indischen Buntheit.
Nur darin sehe ich die Kraft, die es den Indern während der 600 Jahre muslimischer Vorherrschaft erlaubt hat, nicht wie die Perser, ihre Nachbarn, geschlossen zum Islam überzutreten, sondern in der großen Mehrzahl hinduistisch zu bleiben, obwohl dies viele Nachteile hervorrief. Der Verlust an Lebendigkeit durch eine so dürftige Religion wie den Islam hat sie davor bewahrt, und während die Perser in der biederen Zweiteilung von Gut und Böse, die Muchamäd, der Gesandte von Allah, vortrug, mit Recht die Idee ihres ebenso dürftigen Religionsstifters Zarathustra wiedererkennen konnten, ist den Indern eine solche schwarz-weisse Schablone schon immer zu farblos gewesen. Im Hinduismus gibt es eine Fülle von „Sekten“, aber diese sind nicht voneinander abgegrenzt durch den Anspruch, die Wahrheit alleine vertreten zu wollen, sie sind durchlässig, und heute kann ich eine Wallfahrt zu diesem Berg machen und morgen in jene Stadt – was allein zählt ist die stömende Liebe, die Kraft der Hingabe und der gemeinsame Wille zur Feier der Tage. Ich selbst bin bis jetzt noch nie in Indien gewesen, nur in Hinterindien und Indonesien, und in dem indischen Stadtteil von Singapur, genannt „Little India“, habe ich einen hinduistischen Gottesdienst miterlebt, der mir sehr gut gefiel. Und geträumt habe ich von den alten und großen indischen Festen schon früher.
Die Lehre von den zwei Seiten der Welt, der Vielheit und der Vergänglichkeit auf der einen und der Einheit und Ewigkeit auf der anderen, ist weiterentwickelt worden zur anerkannten Gleichheit der beiden, womit die frühere Abwertung der Maya überwunden werden konnte. Ramanadscha, der um 1100 nach Christus in Tamil-Nadu wirkte (das ist im Südosten des Landes), „lehrte den ‚Qualifizierten Monismus’, Wischist-Adwaita, nach dem der Gott zwar allumfassend und ewig, aber nicht mehr undifferenziert ist. Die Einzelseele, Dschit, und das Unbelebte, Adschit, sind seine göttlichen ‚Qualitäten’, Wischista, und damit ebenso real wie göttlich. Die Einzelseelen sind damit in gleicher Weise unabdingbar mit Gott verbunden wie sie von ihm getrennt sind.“ Das Getrennt- und das Einssein sind wie in der Liebe und im Atem des Lebens rhythmisch ineinander verwoben, und der alte jüdische Spruch „Gott in uns, wir in Gott“ bewahrheitet sich mit jeder In- und Exspiration.
„Zwei aus Südindien stammende Brahmanen, Nimbarka und Wallabah, entwickelten (um 1500) in Mathura und den nahe gelegenen heiligen Stätten Krischnas in Brindaban die Lehre von Krischna und Rada weiter. Rada wurde nun als Geliebte Krischnas zum eigentlichen Weltprinzip, durch das der Gott wirksam wird.“ Und „Wasugupta aus Kaschmir vertritt (schon im neunten Jahrhhundert) einen Adwaita-Schiwaismus, in dem die Welt nicht als Schein, sondern als Objektivation der Gedanken des Gottes gedeutet wird. Dabei wird Schiwa mit einem Künstler verglichen, der das Bild der Welt in seinem Geist entstehen lässt. Und da es gilt, in diesem Bild Schiwa wiederzuerkennen, wird der kaschmirische Schiwaismus auch als ‚Wiedererkennungslehre’ bezeichnet.“ Diese Hinwendung zur Welt ist erstaunlich und voller Tiefsinn, und nur in dem neu gefundenen Gleichgewicht konnte der Hinduismus die für ihn eisige Zeit der muslimischen Vorherrschaft überstehen.

Seit alters war der sagenhafte Reichtum von Indien das Ziel der westlichen Völker. Der Indienzug von Alexander aus Makedonien ist bekannt, weniger bekannt jedoch ist die Tatsache, dass „indo-griechische Reiche“ noch fünf Jahrhunderte danach, also bis ins zweite Jahrhundert nach Christus, eksistierten. Durch sie war die Verbindung von Osten und Westen gegeben, und nach dem Aufstieg von Rom zur vorherrschenden Macht im Westen erfuhr der römisch-indische Handel einen erstaunlichen Aufschwung. „Drei Gründe waren dafür ausschlaggebend: Bereits zu Beginn des Kaisertums von Augustus (30 vor bis 14 nach Christus) wurde Ägypten römische Provinz. Damit gelangte Rom in den Besitz von Alexandria, der großen kosmopolitischen Metropole des östlichen Mittelmeerraums und erhielt durch die ägyptischen Häfen am Roten Meer, vor allem Berenice, direkten Zugang zum Seehandel mit Indien. Nach einem Jahrhundert des Bürgerkrieges erfuhr Rom unter der Pax Augusta einen wirtschaftlichen Aufschwung größten Ausmaßes, der zu einer übersteigerten Nachfrage nach Luxus und den ‚Schätzen des Orients’ unter den Reichen Roms führte. Diese große Nachfrage konnte mit den bisherigen Methoden der gefährlichen und zeitraubenden Küstenseefahrt im Indischen Ozean jedoch kaum befriedigt werden. Dies war erst möglich, als der Seemann Hippalus zu Beginn des ersten Jahrhunderts nach Christus die Vorzüge der Monsunwinde für die Holchseefahrt erkannte, die es ermöglichten, Südindien von Arabien in etwa 14 Tagen direkt anzulaufen. In den folgenden Jahrzehnten setzte dann ein enormer Aufschwung der Seefahrt und des Handels im Indischen Ozean ein, der seinesgleichen erst wieder in der sprunghaften Entwicklung des Indienhandels nach der Entdeckung des Seeweges durch Vasco da Gama im Jahr 1498 fand.“
Vasco da Gama war um ganz Afrika herumgefahren, um nach Indien zu kommen, denn der viel kürzere Weg über das Rote Meer war ihm versperrt. Schon im dritten Jahrhundert vor Christus war der skythische Stamm der Parther aus dem Gebiet zwischen dem Kaspischen Meer und dem Aralsee in den Iran eingedrungen und hatte sich ein großes Stück aus dem ehemaligen Reich der Seleukiden herausschneiden können. Unter Mithridates I., der von 171 bis 138 vor Christus das Reich der Parther regierte und sich „König der Könige“ nennen ließ, hatte sein Gebiet den Umfang von ganz Persien und Mesopotamien, sodass der Zusammenstoß mit Rom unausweichlich geworden war. Mehrfach haben die Parther die Römer vernichtend geschlagen, und ihre Nachfolger, die Sassaniden, die das persische Reich im dritten Jahrhundert nach Christus übernahmen, wurden den Römern sogar noch zu schlimmeren Gegnern. Nach dem Untergang von Westrom wurde der Gegensatz zwischen dem oströmischen oder byzantinischen Reich und dem der Sassaniden zu einem andauernden Krieg, an dem beide Feinde sich erschöpften und verbluteten. Und so konnten sie dem Vorstoß der Araber, die gerade zu Muslimen geworden waren, im siebenten Jahrhundert nach Christus keinen ernstlichen Widerstand bieten, den Byzantinern wurden die reichsten Provinzen Ägypten und Syrien genommen, und das Reich der Sassaniden fiel ganz.
Schon unter den Parthern und Sassaniden hatten die Perser den römisch-indischen Handel zuerst gestört, wo sie nur konnten, und dann ganz zum Erliegen gebracht, indem sie sich dazwischen schalteten und einen Teil der gemachten Profite einstrichen; und dasselbe taten nach ihnen auch die Araber, deren Reichtum in der sagenhaften ersten Zeit des Kalifats von Bagdad seinen Höhepunkt nicht zuletzt aus dem Indienhandel erwuchs. Für die Europäer aber war der Zugang nach Indien für lange Zeit zugeschlossen, doch kann die Erinnerung an die vergangene Blüte des direkten Handels und damit auch des Gedankenaustausches nie ganz verblasst sein. Denn diesen Zugang wiederherzustellen, war ein durchgehendes und starkes Motiv in Europa. Schon die Kreuzzüge können als der gescheiterte Versuch gesehen werden, diesen Zugang mit Gewalt wieder zu öffnen, und nach dem Zusammenbruch dieser über drei Jahrhunderte immer wieder vergeblich erneuerten Anstrengung, gab man es trotzdem nicht auf, den Weg nach Indien zu suchen. Columbus hat den Weg nach Westen genommen, weil er aufgrund der Kugelgestalt unserer Erde zu dem Schluss gekommen war, dass er Indien von seiner anderen Seite erreichen könnte. Und weil er glaubte, dort angekommen zu sein, heissen die Ureinwohner von Amerika bei uns „Indianer“, was sich immerhin noch von „Inder“ unterscheidet, aber im Englischen werden „West- und Ost-Inder“ gleicherweise „Indians“ genannt. Der schon erwähnte Vasco da Gama erreichte das wirkliche Indien, und ihm folgten dann Holländer, Franzosen und Briten.
Aber lange Zeit vor all diesen Leuten war einer der zwölf Jünger Jesu nach Indien gefahren. „Kurz nach dem Tod Jesu Christi wurde – nach den Akten des heiligen Thomas aus dem dritten Jahrhundert nach Christus – die Missionierung Indiens dem Apostel Thomas zugeteilt. Diese apokryfen Akten schildern ausführlich, wie Thomas am Hofe des ‚Gundufar, des Königs von Indien’ (das ist Gondofarnes, der König eines kurzlebigen indo-parthischen Reiches im Nordwesten des Landes), tätig war und viele Bewohner des Reiches zum Christentum bekehrte. Später sei er nach Südindien gezogen, wo er zunächst in Kerala missioniert und dann in der Nähe des heutigen Madras den Märtyrertod gefunden haben soll. Während an der Echtheit der Überlieferung der südindischen Thomas-Christen Zweifel bestehen, kann die Beziehung früher Christen zum indischen König Gondofarnes als historisch gesichert betrachtet werden. Denn ohne die Annahme einer tatsächlichen christlichen Missionierung in Nordwestindien vor dem Tod Gondofarnes etwa um 46 nach Christus wäre es schwer vorstellbar, wie der Name dieses historischen Königs und Zeitgenossen Christi zwei Jahrhunderte später in die Akten des Sankt Thomas Eingang gefunden haben könnte, zu einer Zeit, als Gondofarnes selbst in Indien längst vergessen gewesen sein dürfte. Gondofarnes fand ferner als ‚Kaspar’ über das Armenische ‚Gathaspar’ als einer der Heiligen Drei Könige aus dem Morgenland Eingang in die Welt christlicher Legenden.“
Dem Thomas gelang es nicht, eine christliche Kirche in Indien zu gründen, so wie es anderen in Äthiopien, Armenien oder Georgien gelungen war, aber vielleicht hat er das so wie sein Rabbi auch garnicht gewollt – die Gründung der Kirche als einer straffen Organisation war ja nicht das Werk Jesu, sondern des Paulus. Die Botschaft des Thomas hat aber trotzdem oder gerade deswegen wie ein mächtiges Ferment im Dschungel der indischen Religionen gewirkt, und die „Wiedererkennungslehre des Adwaita-Schiwaismus“ ist geradezu identisch mit der Aussage des Johannes-Evangeliums: „Er war in der Welt, und die Welt wurde durch ihn, und die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in das Seine, und die Seinen empfingen ihn nicht“. Aufgrund der Strukturgesetze der althebräischen Sprache, aus deren Geist heraus Johannes schrieb, muss dieser Satz auch lauten: „Er ist in der Welt, und die Welt wird durch ihn, und die Welt kann ihn nicht erkennen. Er kommt in das Seine, aber die Seinen können ihn nicht empfangen.“ Für einen Inder ist es nicht wesentlich, ob dieser „Er“ nun Schiwa heisst oder Jesus, der Inhalt der Aussage zählt, und so kann Er auch eine Sie sein, Kali etwa, und der Satz heisst dann so: „Sie ist in der Welt, und die Welt wird durch sie, aber die Welt kann sie nicht erkennen. Sie kommt in das ihre, aber die Ihren können sie nicht empfangen.“ Wen das befremdet, der möge bedenken, dass der schon einmal zitierte Spruch aus dem Lied des Moschäh Ani Ani Hu – „Ich, Ich bin (auch) Er“ – gleichzeitig Ani Ani Hi zu lesen ist – „Ich, Ich bin (auch) Sie“. Der folgende Satz, der die Erlösung bringt, könnte ohne weiteres aus der Feder von Wasagupta stammen: „Denen aber, die ihn/sie empfangen, gibt er/sie die Vollmacht, zu Kindern Gottes zu werden.“
Einem anderen ächt christlicher Impuls folgt die im Mahayana-Buddhismus sich zeigende Aufwertung des Bodhisatwa über den Buddha hinaus. Ein Bodhisatwa ist in der Lage, die Buddhaschaft zu erreichen, er verzichtet aber darauf, weil er den unwiderruflichen Zustand der Erlösung nur mit allen noch leidenden und zu erlösenden Kreaturen gemeinsam und nicht für sich alleine genießen will; und daher bleibt er an der Grenze zwischen den Welten und dient als Brücke hinüber – und auch herüber, wenn die beiden Welten gleich wertvoll sind. Deshalb sagt Jesus zu Nathanael noch: „Weil ich dir sagte, dass ich dich unter dem Feigenbaum sah, traust du mir? Du wirst noch Größeres sehen. Und er spricht zu ihm: Mit voller Zuverlässigkeit darf ich euch sagen: Ihr könnt die Himmel geöffnet sehen und die Boten Gottes hinauf- und hinuntersteigen auf jeden sterblichen Menschen.“

Mit solchen Sachen waren die unter christlichen Flaggen segelnden Seefahrer, die mit dem Ende des 15. Jahrhunderts in den Indischen Ozean eingedrungen waren, um ihn schon bald zu beherrschen, bereits seit längerem nicht mehr befasst, obwohl Vasco da Gama sein Unternehmen noch unter der Ägide des „Christus-Ordens“ gestartet hatte, in den Heinrich „der Seefahrer“ und König von Portugal den Anfang des 14. Jahrhunderts verbotenen Orden der Tempelritter verwandelt hatte. Die Vorhut der Portugiesen räumte bis auf Goa das indische Feld, um es den Holländern, Franzosen und Briten zu überlassen, die nach bewährter Methode sich gegenseitig Konkurrenz machend in innerindische Streitigkeiten einmischten, um an Einfluss zu gewinnen. Es wurde schnell klar, dass die Lage in Indien leichter zu kontrollieren war als woanders, denn es fanden sich massenhaft indische Männer, die sich zuerst von Franzosen und dann auch von Briten nach dem europäischen Drill ausbilden und gegen ihre Landsleute einsetzen ließen. Somit war eine Absprache möglich geworden, die darauf hinauslief, dass Indien den Briten allein überlassen werden konnte, während die Franzosen mit dem Vorrecht auf Indochina und die Holländer mit dem auf Indonesien entschädigt wurden. Im Falle der Unterwerfung von China und auch schon der von Japan mussten sich die Kolonialmächte auf eine abgesprochene Strategie einigen, bei der bereits die aufsteigende Macht der USA kräftig mitgewirkt hat.
Was war der Grund für die auf den ersten Blick äusserst beschämende Schwäche der Inder? Der Eintritt in die britisch-indische Armee war für einen Hindu aus einer niederen Kaste die einzige Möglichkeit aufzusteigen ohne Muslim zu werden. Und wenn er das völlig versteinerte Kastenwesen, dessen Kontrast zu der Buntheit der Feste allzu groß geworden war, aufbrechen wollte, dann musste er zu der Erkenntnis gelangen, dass dies ohne eine Hilfe von aussen unmöglich war. Daher betrachteten sich die Hindus, die für die Engländer kämpften und für diese auch die unteren Verwaltungsaufgaben erledigten, nicht als ehrlose Überläufer zum Feind, sondern als Umgestalter des Landes, die den in ihren Augen vorübergehenden Zustand der Fremdherrschaft als Mittel einsetzen. Und sie hatten nicht nur von den Sultanen genug, sondern auch von den hinduistischen Fürsten, die sich Maharadschas nannten, was Großkönige heisst, und zur Lächerlichkeit herabgesunken war.
Die Briten ihrerseits hatten die anachronistisch gewordene „Christus-Maske“ abfallen lassen und mit der im Jahr 1600 gegründeten „Ostindischen Kompanie“ seit dem Jahr 1773 Indien regiert. Diese Kompanie war eine Aktiengesellschaft, und eine möglichst hohe Profitrate war ihr einziges Ziel, was zur Folge hatte, dass in den Jahren 1857 und 58 der große indische Aufstand stattfand; die indischen Söldner der Briten hatten ihre Waffen gegen ihre Herren gerichtet, und diesen gelang es, die Sikhs, die gerade erst mit Hilfe derselben nunmehr rebellischen Söldner unterworfen worden waren, zur Rache und zum Kampf auf ihrer Seite anzustiften; die Sikhs wurden zum Lohn von den Briten zu deren Elitesoldaten, aber die Niederwerfung des Aufstands hatte das Land insgesamt zuungunsten der Briten verändert, Feindseeligkeit und Widerstand schlug ihnen von nun an immer öfters entgegen. Ein äusseres Zeichen war die Auflösung der Kompanie-Regierung und die Unterstellung Indiens unmittelbar unter die englische Krone, weshalb sich der oberste Herr nun nicht mehr „Generalgouverneur“ sondern „Vizekönig von Indien“ nannte, und im Jahr 1877 hat die Königin von England namens Viktoria den Titel „Kaiserin von Indien“ angenommen. Damit sollte wohl die schwere Demütigung wieder gutgemacht werden, die man dem unvergleichlichen Indien angetan hatte, indem man es von einer Meute gieriger und arroganter Krämer hatte regieren lassen.
Die Inder durchschauten diesen Etikettenschwindel sofort, und das Klima für die Briten wurde so ungemütlich, dass es schon vor dem Ersten Weltkrieg zunehmend unmöglich wurde, genügend eigenen Nachwuchs für die Spitzen von Militär und Verwaltung nach Indien zu holen, obwohl man dort immer noch reich werden konnte. Hinzu kam, dass die indischen Intellektuellen, die mit der Zeit immer öfters in Großbritannien studierten, ihren Kolonialherren in den Ohren lagen, in die sie unentwegt hineinriefen, ihre Regierung sei „unbritish“. Die Notwendigkeit der Entkolonialisierung war lange vor ihrer Realisierung bewusst, und es kam nur noch darauf an, sie für den „Weltmarkt“ so günstig wie nur möglich durchzuführen. Die USA, die sich im Jahr 1776 nach dem „siegreichen Unabhängigkeitskrieg“ gegen Great Britain gegründet und „die Menschenrechte“ proklamiert hatten, wurden zum großen Vorbild, und da das parlamentarische Parteiensystem auch in England schon eingeführt war, wurde es zum Vehikel für die Regierung des „Neuen Indien“. 1880 hatten sich die Engländer bei einem Vorstoß nach Afghanistan nur blutige Nasen geholt und sich zurückziehen müssen, und 1885 hielt der neu gegründete „Indische Nationalkongress“ seine erste Sitzung in Bombay. Der Übergang war allmählich und gleitend, und nachdem sie auf der Kreisebene mitregiert hatten, durften die Inder 1936 die Provinzlandtage wählen, zehn Jahre später fanden die Wahlen zur „verfassunggebenden Versammlung“ statt, und 1947 war Indien unabhängig, aber zerteilt.
Wie war es zu dieser Zerteilung Indiens gekommen, die drei Provinzen sogar mitten entzweischnitt, Bengalen, Kaschmir und das Sikh-Land? „Der Name Pakistan war in den dreissiger Jahren (des 20. Jahrhunderts) von Rachmad Ali erfunden worden, der damals in England studierte. Das Wort Pakistan ist ein Akronym, das sich aus den Anfangsbuchstaben Pandschab, Afghanistan, Kaschmir, Sind und dem Ende des Namens der Provinz Beludschistan zusammensetzt.“ Es ist aufschlussreich, dass unter diesen Ländern Afghanistan vorkommt, was auf den schon sehr lang gehegten Plan hinweist, dieses widerspenstige Land endlich auch einzuverleiben. Im Jahr 1906 war die „Muslim-Liga“ gegründet worden, und 1916 hatte der hinduistisch dominierte „Nationalkongress“ mit dieser Liga ein Bündnis gegen die Kolonialmacht geschlossen, mit Tilak als Führer der Hindus und Dschinnah (Jinnah) als Führer der Muslime. Dschinnah war von Beruf Rechtsanwalt, und „in der Politik war sein Mandant die Muslimminderheit in Indien“, bei der er sich einzuschmeicheln versuchte, indem er 1913 ein Gesetz zum islamischen Erb- und Stiftungsrecht durchgebracht hat. Das habe ihn „bei allen Muslimen sehr populär“ gemacht, doch später heisst es von ihm: „Er blieb politisch isoliert, und seine Versuche, die alte Muslim-Liga wieder zu beleben, waren auch nicht von Erfolg gekrönt. Nach seiner Teilnahme an der Konferenz am Runden Tisch (1930) in London blieb Dschinnah schließlich mehrere Jahre in England und praktizierte dort als Anwalt. Fast schien es so, als sei seine politische Karriere beendet und er werde seinen Lebensabend in England verbringen, da schuf die Verfassungsreform von 1935 eine Situation, die einen Neubeginn verhieß. Politische Freunde, darunter auch Churchill, ermutigten Dschinnah, nach Indien zurückzukehren“, was er 1936 auch tat.
Sein einziger Auftrag war die Zerspaltung von Indien, er verkündete „die ‚Zwei-Nationen-Theorie’, derzufolge die Hindus und Muslime Indiens in jeder Hinsicht verschiedene Nationen seien, weil sie in Sprache, Kultur und Religion keine Gemeinsamkeiten hätten“, und „er erhob die Forderung nach der Errichtung eines autonomen Muslim-Staats, der kurz und bündig mit dem Namen ‚Pakistan’ bezeichnet wurde“. Zunächst erlitt er den totalen Schiffbruch in Indien und „verlor die Wahlen in jeder Hinsicht. In den Muslimmehrheitsprovinzen kamen Regionalparteien an die Macht und in den anderen Provinzen der Kongress“. Wie er es dann aber doch geschafft hat, sich zum entscheidenden Mann hochzuputschen, bleibt undurchsichtig und wird von Rothermund nur angedeutet. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs waren die Hindus aus der Regierung getreten, weil sie diesen Krieg nicht mitmachen wollten, und „Dschinnah ließ den Rücktritt der Minister durch die Muslim-Liga als ‚Tag der Erlösung’ feiern“. In den Kriegsjahren „setzte er es sogar durch, dass die Ministerpräsidenten der Muslimmehrheitsprovinzen, die ohne seine Zustimmung vom Vizekönig zu Mitgliedern eines nationalen Kriegsrates ernannt worden waren, von diesen Posten sofort wieder zurücktraten.“ Woher er diese Machtfülle hatte, wird leider verschwiegen, und der Autor versteht sich nur zu der Bemerkung, dass Dschinnah es durch geschicktes Manövrieren erreicht hätte, seine Machtposition auszubauen.
„Der Grenzverlauf (des gespaltenen Indien) war übrigens den Betroffenen bis zum Ende ein Rätsel. Das war kein Zufall, sondern von Mountbatten (dem letzten Vizekönig von Indien) durchaus beabsichtigt, weil er befürchtete, dass die Verkündigung der von einer britischen Kommission getroffenen Entscheidung über die Grenzen die Inauguration der beiden neuen Staaten stören könnte. Man hatte ja auf Volksabstimmungen verzichtet und die Grenzziehung nach bevölkerungsstatistischen Daten als rein administrative Operation vollzogen. Dschinnah hatte sich schließlich mit einem Minimal-Pakistan begnügen müssen, das er im Zorn ‚mottenzerfressen’ nannte. Aber die Logik seiner eigenen ‚Zwei-Nationen-Theorie’ schloss es aus, dass ihm der Westen Bengalens und der Osten des Pandschab zugesprochen wurde, in denen Hindu-Mehrheiten vorherrschten. – In Indien waren selbst nach der Teilung (und der durch sie ausgelösten Massenflucht) noch vierzig Millionen Muslime verblieben, die man im Hinblick auf die nationale Integration unmöglich als ‚Zweite Nation’ betrachten konnte. Übrigens war selbst Dschinnah genötigt, nach erfolgter Teilung seine Theorie in dieser Beziehung zu suspendieren. Als er Bombay verließ, um sein Amt als Generalgouverneur von Pakistan anzutreten, konnte er den in Indien verbleibenden Muslimen auf ihre Frage, was nun aus ihnen werden sollte, nur den guten Rat geben, sie sollten sich als loyale Staatsbürger Indiens betrachten.“

Ich zitiere aus der „Geschichte der Freimaurerei“ von Paul Naudon, deutsche Ausgabe Frankfurt 1982: „Der Einfluss der Freimaurerei in England ist kaum abzuschätzen: Wenn man alle berühmten Freimaurer Englands, Schottlands und Irlands aufzählen wollte, hieße das, eine Geschichte dieser Länder seit bald dreihundert Jahren in ihrem Verlauf auf allen Gebieten darzulegen. Darunter sind fünf Könige und viele ihrer Brüder und nächsten Verwandten, die Politiker von Lord Chesterfield bis Winston Churchill…“ Und wenn man es nicht berücksichtigt, dass einer der „politischen Freunde“, die Dschinnah „ermutigten“, wieder nach Indien zu gehen, eben dieser Sir Winston war, dann kann man wie Rothermund zu der Meinung gelangen, Dschinnah sei kein Kollaborateur der Briten gewesen. In Wirklichkeit war er ein Agent mit einem klar umrissenen Auftrag, und die Aufteilung der mit dem Ende des Kolonialismus neu erschaffenen Länder war überall so, dass Konflikte bei Bedarf jederzeit geschürt werden konnten. Die zahllosen Menschen, die in den bisher drei indisch-pakistani-schen Kriegen (1946 bis 48, 1965 und 1971) sowie in dem nach sechzig Jahren noch immer ungeheilten Kasch-mirkonflikt ihr Leben verloren, waren einkalkuliert. Denn ein geeintes Indien mit Toleranz zwischen Muslimen und Hindus wäre zu mächtig geworden und ausserdem ein schlechtes Vorbild für andere Länder. Indien und Pakistan wurden auch in den Ost-West-Gegensatz mit hineingerissen, wobei sich Indien an die Sowjetunion angelehnt hat, obwohl es nach aussen hin auf „blockfrei“ machte, während Pakistan sich unter den Schutz der USA stellte. Weil die muslimischen Staaten der Zerreibung zwischen den Blöcken getrotzt hatten, konnte man nach dem Ende des „Kalten Krieges“ das islamische Eisen aus dem Feuer holen, das auf dem indischen Subkontinent niemals erloschen war. Und der Flächenbrand, den angeblich „islamo-faschistische Fundamentalisten“ entfachten, tobt nunmehr von den Filippinen über Indonesien und Thailand bis nach Indien sowie in Pakistan, Afghanistan, im Nahen Osten und bis in Nord- und Ostafrika. Und weniger als um die Rohstoffe dieser Länder geht es um den Fall der letzten Trutzburg gegen den westlichen „Lebensstil“ mit seinem hemmungslosen Zins- und Profitprinzip als einzigem Maßstab.
Dschinnah war als Rechtsanwalt nicht nur ein Kollege seines hinduistischen Mit- und Gegenspielers Gandhi, sie waren auch beide Schüler von Gokhale, der „1905 die Servants of India Society gegründet hatte, deren Mitglieder als eine Art weltlicher Orden ihr Leben ausschließlich dem Dienst der Nation widmeten“. Die Freimaurer sind noch nie um schöne Namen verlegen gewesen, mit denen sie ihre Filialen zieren und deren wahre Zwecke verschleiern konnten. Und es ist auch gut möglich, dass sie alte und ehrwürdige Logen vor sich hindümpeln ließen und sie bestenfalls noch als Rekrutierungsfelder benutzten, wenn es ihnen opportun erschien und sie den Nebel um die wahren „Trendsetter“ verdichten wollten. War also auch der ehrenwerte und Respekt erheischende „Mahatma“ Gandhi nur ein Agent? Dafür spricht eine Mitteilung, die Rothermund macht: „Über den Winter 1930/31 verschärfte sich die Situation und Lord Irwin (der damalige Vizekönig), der den bisherigen Verlauf der Kampagne (für die Unabhängigkeit Indiens von Großbritannien) mit Gleichmut betrachtet hatte, fürchtete einen Bauernaufstand. Gandhi, der vom Gefängnis aus die Lage sorgfältig beobachtete, zeigte sich kompromissbereit.“ Wenn Gandhi „die Lage vom Gefängnis aus sorgfältig beobachten“ konnte, dann war seine Haft eine Scheinhaft wie die Verbannung von Lenin nach Sibirien, von wo aus er seine Partei steuern konnte. Meiner Beobachtung nach hat man für die künstlich geschaffenen postkolonialistischen Staaten Gründungsmythen und Gründungsheroen gebraucht, weil ihnen sonst jede ideologische Legitimität gefehlt hätte, und mit einer Nationalflage und -hymne war es nicht getan. Der Gründungsheros des Neuen Indien war Gandhi mit seiner gewaltlosen Bewegung gegen die Briten, die auch ohne ihn abgezogen wären, der Gründungsheros des Neuen China war Mao, und in die Reihe dieser Figuren sind auch Leute wie Nelson Mandela in Südafrika zu stellen, der angeblich über zwanzig Jahre in Haft war, aber vollkommen ungebrochen und als Strahlemann von dort herauskam. Die Fäden der Macht haben die Macher schon längere Zeit dermaßen dicht gesponnen, dass kein freier Mensch mehr nach oben kommt, sondern nur eigens präparierte Agenten oder solche Gestalten, die man als Spielfiguren einsetzen kann.
„Als dann der Kaschmirkonflikt ausbrach und gleichzeitig die Teilung der Staatskasse zwischen Indien und Pakistan erfolgen sollte, waren viele Hindus der Meinung, man brauche dem Feind nun nicht auch noch Geld zu geben, um ihn damit zu stärken. Gandhi setzte sich dagegen für eine gerechte Teilung der Staatskasse ein und wurde deshalb von radikalen Hindus als Verräter angesehen. Einer von ihnen, der junge Brahmane Nathuram Godse, erschoß Gandhi am 30. Januar 1948.“ Dabei hatte dieser doch nur seine Pflicht getan und die zwischen ihm, Dschinnah und den Briten seit langem vereinbarte Teilung gefördert.
Über den Erschossenen schrieb Karl Jaspers: „Dieser Mann wollte das Unmögliche: Politik durch Gewaltlosigkeit. Er hatte den größten Erfolg. Ist also das Unmögliche möglich geworden? Gandhi wollte keine fysische Gewalt – wollte er aber darum überhaupt keine Gewalt? Da liegt der springende Punkt: Mochte er noch so klar und ehrlich sagen, er wolle überzeugen, er wolle bekehren, er wolle mit dem Gegner einig werden, in der Tat übte er und wollte er einen moralischen Zwang. Man könnte erinnern an die alte indische Lehre von der Gewalt der Asketen. Durch ihre unerhörte Selbstvergewaltigung häufen sie eine magische Macht, die zur Herrschaft über alle Dinge führt. Selbst die Götter geraten in Angst vor der Macht solcher Asketen. Gandhis Selbstdisziplin erfolgte nicht ohne innere Gewaltsamkeit. Solche Gewaltsamkeit gegen sich selbst ist aber nicht freies zu sich selbst Kommen. Daher ist, wer sich selbst vergewaltigt, zur Vergewaltigung anderer bereit, Vergewaltigung anderer durch moralischen Druck ist ein Element in Gandhis Wirksamkeit“ -- zitiert nach der Monografie „Mahatma Gandhi“ von Heimo Rau, Hamburg 1970.
Die „magische Macht“ Gandhis hat ihm zwar Einfluss auf die Massen verschafft, wie Jaspers weiter ausführt war es aber nicht sie, die ihn zum Erfolg geführt hat, sondern der Entschluss der Engländer, aus Indien abzuziehen. „Gandhi konnte in aller Öffentlichkeit reden. Selbst aus dem Gefängnis ließ man ihn noch wirken“, schreibt er -- und ich will noch drei weitere Zeitzeugen zitieren. Albert Einstein bewunderte Gandhi zutiefst, und von ihm stammt die Bemerkung: „Künftige Generationen werden es vielleicht kaum glaubhaft finden, dass ein Mensch wie dieser jemals in Fleisch und Blut auf dieser Erde einherwanderte.“ Bertrand Russell konstatierte: „Das unabhängige Indien hat Gandhi zu einem Heiligen gemacht und all seine Lehren ignoriert.“ Und Hem Barua stellte fest: „Ich habe starke Zweifel, ob Gandhi ahnte, dass das freie Indien, an dem er so unermüdlich gearbeitet hatte, eines Tages eine Hochburg von Schwarzhändlern, Profitlern und korrupten Politikern würde. Es ist unglücklicherweise wahr, dass Indien Gandhi auf eine höchst vulgäre Art in den Abfalleimer der Geschichte geworfen hat.“
Ob Gandhi eine bloße Spielfigur war oder ein eingeweihter Agent, also eine Spielfigur, die um die Gesamtstrategie weiss, ist schwer zu entscheiden und letztendlich auch zweitrangig, an erster Stelle steht die Rolle, die ein öffentliches Individuum spielt, und deren Effekte. Aus dem Leben Gandhis gibt es einige Merkwürdigkeiten, die mit der Legendenbildung um seine Person verwoben sind. Von seiner Herkunftsfamilie schreibt Rau: „Sie gehörte der Kaste der Banias an, einer Händlerkaste, die durch ihre Geschicklichkeit, Zähigkeit und Schläue bekannt, zuweilen auch für ihre Gerissenheit und Skrupellosigkeit berüchtigt war.“ In seiner Autobiografie verklärt Gandhi seine Eltern und besonders seine Mutter, und bei Rau ist zu lesen: „Während der viermonatigen Regenzeit nahm sie stets nur eine Mahlzeit am Tage zu sich. Manchmal steigerte sie das Fasten sogar so, dass sie nur jeden zweiten Tag aß. Das alles tat sie in völliger Heiterkeit und besorgte dabei ihre täglichen Geschäfte als Hausfrau und Mutter ohne Einschränkung.“ Wir hören weiter, wie sie „während einer Regenzeit das Gelübde ablegte, keine Nahrung zu sich zu nehmen, solange sie nicht die Sonne sähe“, und dann wird Gandhi zitiert: „Wir Kinder standen in jenen Tagen und blickten zum Himmel empor, darauf wartend, unserer Mutter das Erscheinen der Sonne zu melden. Jeder weiss, dass in der Mitte der Regenzeit die Sonne oft ihr Antlitz nicht zu zeigen geruht. Und ich erinnere mich an Tage, wo wir, wenn sie plötzlich erschien, zur Mutter hineinstürzten, um ihr das anzuzeigen. Sie eilte dann hinaus, um mit eigenen Augen nachzusehen, aber inzwischen war die flüchtige Sonne schon wieder verschwunden, sie so ihrer Mahlzeit beraubend. ‚Das macht nichts’, sagte sie heiter, ‚Gott will nicht, dass ich heute esse’. Und dann kehrte sie zu ihren Pflichten zurück.“
Was lehrt uns diese allzu schön geschriebene Geschichte? Dass die Kinder um ihre offenbar magersüchtige Mutter Angst haben mussten, wird wohl niemand ernsthaft bezweifeln. Und dieser Eindruck wird noch verstärkt, wenn wir hören: „Viel mehr Trost in seiner Furcht vor Gespenstern und Geistern, die ihn gefangenhielt (als im Tempel), empfing er von seiner Amme Rambha, die ihn die Anrufung Gottes in der Stunde der Gefahr und des Verzagens lehrte“. Selbstunsicherheit und eine Sprachhemmung waren die Folgen der Atmosfäre in Gandhis Kindheit, und noch als er mit 22 von seinem dreijährigen Jurastudium in London nach Bombay zurückkam und dort eine Anwaltskanzlei führen wollte, heisst es von ihm: „Als ihm selbst ein kleiner Fall übertragen wurde, versagte er kläglich. Er konnte kein Wort herausbringen, um seinen Mandanten zu verteidigen und musste den Fall im Gerichtssaal während der Verhandlung an einen Kollegen weitergeben. Er hat es nie wieder versucht, um sich ähnliche Demütigungen zu ersparen.“
Wie aus einem dermaßen eingeschüchterten Menschen, für den seine Familie nach dem Desaster eine Arbeit als Schreiber suchen musste, der eloquente und die Massen beeindruckende Führer in die „Unabhängigkeit“ werden konnte, ist ein ans Wunderbare grenzendes Fänomen. Rau versucht es so zu erklären: „Experimente mit der Wahrheit nennt er seine Autobiografie. Das permanente Objekt seines Experimentierens war er selbst. Von früher Jugend an beherrschte ihn die Sehnsucht, ein vollkommener Mensch zu werden. Es ist das indische Ideal des Sannyasi, das ihm vor Augen steht. Und er hat Jahr um Jahr, Jahrzent für Jahrzehnt an sich selbst gearbeitet. Er hat sich geradezu umgearbeitet. Aus einem mittelmäßigen und gehemmten Menschen hat er den Mahatma gemacht.“ Die „Arbeit an sich selbst“ ist eine Grundforderung in der Freimaurerei, denn der „unbehauene Stein“ soll ja so zurechtgemacht werden, dass er in jede ihm zugedachte Stellunge hineinpasst. Und in diesem Zusammenhang ist es interessant, dass Gandhi während seines Studiums in London die Bekanntschaft mit Angehörigen der so genannten „Theosofischen Gesellschaft“ gemacht hat. „Die beiden Brüder (deren Namen Gandhi in seiner Autobiografie nicht preisgibt), die den jungen Gandhi in die ‚Baghavadgita’ einführten, gaben ihm auch das Buch ‚The Light of Asia’ von Sir Edwin Arnold, demselben Autor, der die Gita übersetzt hatte. Gandhi las es nach seinem eigenen Zeugnis mit noch größerem Interesse als die Gita und konnte es gar nicht mehr aus der Hand legen. Er wurde von den Freunden auch Madame Blavatsky und Annie Besant vorgestellt, die damals gerade zu Theosofischen Gesellschaft gekommen war.“
Von Annie Besant ist bei Rothermund auch schon die Rede gewesen: „Im Bunde mit Tilak (dem Führer der Hindus) trat eine ungewöhliche Gestalt auf die politische Bühne Indiens: Annie Besant. Frau Besant war eine irische Sozialistin, die sich der Theosofie zugewandt, sich in Madras niedergelassen hatte und dort geradezu ein weiblicher Vivekananda für die Brahmanen Südindiens wurde. Ihre nationalrevolutionäre Haltung, ihre tiefe Sympathie für den Hinduismus gewannen ihr und der Theosofie viele Anhänger in der Bildungsschicht.“ Von dem hier als Vergleich herangezogenen Wiwekananda hat Rothermund zuvor ausgesagt: „Die Nationalrevolutionäre beriefen sich auf einen radikalen Neo-Hinduismus und setzten das religiöse Ideal der Selbstverwirklichung mit dem nationalen Freiheitskampf gleich. – Problematisch war dabei nur, dass die Vedanta-Filosofie die meditative Einkehr und damit die Abkehr vom Tatendrang der Welt als Weg zur Erlösung empfahl, während die Nationalrevolutionäre eine Lehre brauchten, die den aktiven Einsatz und den Opfermut rechtfertigte. Dieses Problem wurde gelöst, indem man die Idee des Karma-Yoga hervorhob, die Idee der Selbstverwirklichung in der opfermutigen Tat, auf die man sich nichts zugute hielt. Vivekananda war der Profet dieser neuen Lehre. Sein neuer, weltbewältigender Hinduismus machte auch in Europa und Amerika einen großen Eindruck, wo man bisher nur von der Weltentsagung der indischen Weisen gehört hatte. Als Vivekananda 1897 nach vierjährigem Aufenthalt im Westen als berühmter Mann nach Indien zurückkehrte, gab dieser Ruhm dem indischen Nationalismus weiteren Auftrieb.“
Die Kontakte zwischen Indien und dem Westen waren also schon sehr tief und hatten einen „Neo-Hinduismus“ geboren, der Indien ein völlig neues Gesicht geben sollte, das Gesicht des „High-Tech“. In diesem Rahmen ist die „Theosofische Gesellschaft“ zu sehen, zu der weder Rothermund noch Rau ein einziges Wort der Erklärung abgeben. Ich habe mit diesem Verein nie direkt etwas zu tun gehabt, aber in einige ihrer Schriften hineingelesen (so wie auch in die ihrer Tochtergesellschaft, der „Anthroposofie“) und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass das was dort als indischer Geist ausgegeben wird ein geschmackloser Aufguss ist, der mit westlichem Denken zu einem unappetittlichen Gebräu vermischt wurde – zum Prototyp aller „indoeuropäischer Sekten“, die im 20. Jahrhundert auch Westeuropa überschwemmten mit ihren Gurus und deren Gefolgsleuten von den „Hare-Krischna-Leuten“ bis zu den „Sannyasin des Baghwan“. Ich habe einige von ihnen kennengelernt, und ihre Schriften haben mit dem indischen Geist genauso wenig zu tun wie die der Madame Blavatsky und ähnlicher Leute. Gott sei es gedankt, dass ich einen Vergleich hatte und besonders in den von Heinrich Zimmer geschriebenen Büchern aus der Fülle der Quellen schöpfen konnte, denn dieser Indologe aus Greifswald war ein vom Geiste Ergriffenener. Sein „Erweckungserlebnis“ hatte er vor einer indischen Götterstatue, die er in einem Pariser Museum sah, und seither waren die indischen Götter für ihn höchst lebendig, was ich sehr gut nachfühlen kann, denn mir ging es mit einer aus Holz und in abgeblätterte Farben gehüllten Statue, die aus dem Urwald von Hinterindien stammte, eines schönen Tages genauso; ich konnte mich stundenlang nicht von ihr lösen und hatte alsbald den Rhythmus des wachhabenden Museumswärters herausgefunden, sodass ich sie während seiner und auch anderer Leute Abwesenheit von allen Seiten bestaunen und auch mein dringendes Bedürfnis befriedigen und mich vor ihr hinknieen konnte .
Schon mit 14 Jahren sah ich eine indische Tempeltänzerin bei einem Auftritt in Dresden und war total hingerissen; und später sah ich zweimal eine andere tanzen, die nannte sich Mona Lisa Gopa (bei dem indischen Teil ihres Namens bin ich mir nicht mehr ganz sicher), sie verkörperte die verschiedenen Awatare, das sind die Herabkünfte der Götter in Menschen und Tieren, und jedesmal, wenn das Licht ausging, fosforeszierte aus dem Dunkel ihr Körper. Die „Theosofen“ und ihre Erben wirken dagegen so öde wie die Landschaften des indischen Geistes nach der Durchführung einer von westlichen Experten vollzogenen „Flurbereinigung“. In diesem Kontext zitiere ich einen Leserbrief aus der Süddeutschen Zeitung vom 3. 3. 2007: „Der amerkikanische Gesellschaftskritiker Noam Chomsky hat zur Frage, warum die ‚Mainstreammedien’ Mainstream sind, schon 1997 geschrieben: ‚Die Massenmedien haben im Wesentlichen die Funktion, die Leute von Wichtigerem fernzuhalten. Sollen die Leute sich mit etwas anderem beschäftigen, Hauptsache sie stören uns nicht – wobei ‚wir’ die Leute sind, die das Heft in der Hand halten. Wenn sie sich zum Beispiel für den Profisport interessieren, ist das ganz in Ordnung. Wenn jedermann Sport oder Sexskandale oder die Prominenten und ihre Probleme unglaublich wichtig findet, ist das Okay. Es ist egal, wofür sich die Leute interessieren, solange es nichts Wichtiges ist. Die wichtigen Angelegenheiten bleiben den großen Tieren vorbehalten: ‚Wir’ kümmern uns darum’.“ Was Chomsky hier von den Massenmedien aussagt, das gilt auch für die „geistlichen“ Zirkel von Leuten, die sich mit einem Leben aus zweiter oder 33. Hand zufrieden geben und sich mit Schund abspeisen lassen. Für jedes Zielpublikum wurden eigene Gruppen geschaffen, und ob sie nun Theosofen, Anthroposofen, Zeugen Jehowas, Mormonen oder sonstwie heissen, ändert nichts daran, dass sie sich zwar höchst wichtig vorkommen, aber von ihrer eigenen Wahrheit und der des Ganzen abgelenkt werden.
Die Gestalt von Gandhi nimmt eine Zwitterstellung ein, die auf der einen Seite wie die Verkörperung der furchtbaren Asketen aus der Überlieferung wirkt, oder wie ein Fels aus dem Urgestein Indiens, auf der anderen Seite verkehrt er mit den westlichen Politikern und Geistesgrößen auf Augenhhöhe und als einer der ihren. Als Gandhi am 5. März 1931 mit dem britischen „Vizekönig von Indien“ namens Irwin ein „Agreement“ abschloss, da hatte Churchill in London schon vorher geschäumt, wegen des „Übelkeit erregenden und erniedrigenden Schaustücks dieses ehemaligen Inner-Temple-Rechtsanwaltes, jetzt aufrüherischen Fakirs, wie er halbnackt die Stufen zum Palast des Vizekönigs hinaufsteigt, um dort unter gleichen Bedingungen mit dem Vertreter des Königs und Kaisers Verhandlungen zu führen.“ Der Zorn von Churchill war genauso gespielt wie der von Dschinnah über sein „mottenzerfressenes“ Pakistan, und hier ging es darum, Gandhi zur nötigen Popularität zu verhelfen.
Bei Rau ist zu lesen: „Seine erste große öffentliche Ansprache am 4. Februar 1916 zur Einweihung der Hindu-Universität in Benares wurde zum Skandal. Er attackierte die Fürsten, die in großer Zahl erschienen waren, sehr heftig und rief ihnen zu, sie sollten ihre Juwelen ablegen und sie der armen Landbevölkerung zur Verfügung stellen. Die Rettung Indiens könne nur vom Bauern herkommen, nicht von Großgrundbesitzern, Rechtsanwälten oder Doktoren. Voller Empörung unterbrach ihn die Präsidentin der Versammlung, Annie Besant, und entzog ihm das Wort. Was er gesagt hatte, wurde damit doppelt unterstrichen!“ Die Empörung der Präsidentin gehört zum vereinbarten Maskenspiel, denn in Wirklichkeit steht diese Frau auf Gandhis Seite. Und so hören wir von ihr: „Eine Verhaftungswelle ging über das Land. Bal Gangadhar Tilak, damals Indiens angesehenster Nationalführer, kam ins Gefängnis, auch Annie Besant, die Indiens Freiheit zu ihrer Sache gemacht hatte. Gandhi rief am 6. April 1919 die Nation zum Generalstreik auf.“ Aber der Widerspruch zwischen den beiden Auftritten der Annie Besant fällt dem Autor, der sie im Abstand von einigen Seiten schildert, nicht einmal auf.
Die bizarren und oft peinlichen Enthüllungen aus seinem Leben hat der „Mahatma“ selbst niedergeschrieben und veröffentlicht, so zum Beispiel, dass er seiner Mutter vor seiner Abreise zum Studium nach London im Jahr 1888 ein Gelübde abgelegt hat, kein Fleisch, kein alkoholisches Getränk und keine Frau anzurühren, was er angeblich die drei Jahre lang durchhielt, doch ist seine Mutter in dieser Zeit trotzdem gestorben. „Mitte 1906 legte er ein Gelübde ab, das er bis zum Ende seines Lebens nicht mehr übertrat – das „Brahmadscharia-Gelübde der geschlechtlichen Enthaltsamkeit“. Da war Gandhi 36 Jahre alt, und Rau zitiert ihn wörtlich: „Ich halte es für den Gipfel der Unwissenheit, zu meinen, der Geschlechtsakt sei eine unabhängige Funktion, die notwendig sei wie Schlaf und Essen. Die Welt hängt für ihren Fortbestand vom Geschlechtsakt ab, und da die Welt der Spielplatz Gottes und der Widerschein seiner Glorie ist, sollte der Geschlechtsakt zum geordneten Wachstum der Welt unter Kontrolle gehalten werden.“ Die Welt als ein unter Kontrolle gehaltener Spielplatz Gottes, welch eine verrückte Idee! Und offenbar zählt sich Gandhi zu den Kontrolleuren. Und weiter heisst es im Originalton: „So überwältigend sind die Leidenschaften, dass sie nur unter Kontrolle gehalten werden können, wenn sie von allen Seiten beschnitten werden, von oben wie von unten. Es ist allgemein bekannt, dass sie ohne Nahrungszufuhr machtlos sind, und daher ist, wie ich nicht zweifle, Fasten sehr nützlich, wenn es zwecks Bezähmung der Sinne unternommen wird. Brahmadscharia bedeutet Kontrolle der Sinne im Denken, Reden und Tun.“
Ein Mensch, der sich derart unter Kontrolle hat, ist zu allerlei fähig und mir daher unheimlich, und wenn Rau von ihm sagt: „Er löscht seine eigene Person im Dienst für die Gesamtheit seines Volkes aus, und dabei geht ein Charisma von ihm aus“ – dann ist dies nichts weiter als die Kolportage des von Gandhi in Szene gesetzten Mythos vom Asketen-Heros, der sich selber mit Gott gleich setzt oder von anderen gleichsetzen lässt. Mahatma heisst auf deutsch „Große Seele“, und dieser Titel war ihm von Rabindranath Tagore 1915 umgehängt worden, von dem selben Dichter, der die Verse schrieb: „Er ist der Eine, Erleuchtete, der Schöpfer des Ganzen, der Mahatma, immer gegenwärtig in den Herzen der Völker, offenbart durch Liebe, Eingebung und Geist – wer ihn kennt, wird unsterblich.“
Was für ein potenter Agitator Gandhi war und mit welchen Inhalten er agitierte, geht aus einer Rede hervor, die er am 22. Dezember 1916 vor der Economics Society in Allahabad hielt und die natürlich in der Presse erschien: „Ihr könnt nicht Gott und dem Mammon dienen, das ist eine ökonomische Wahrheit von größtem Wert. Wir müssen unsere Wahl treffen. Die Völker des Westens stöhnen unter den Stiefeltritten dieses Monstrums, des Gottes des Materialismus. Ihr moralisches Wachstum ist zurückgeblieben, sie messen ihren Fortschritt heute in Pfund, Schilling und Penny. Der amerikanische Lebensstandard ist das Ziel aller – Amerika ist das Ziel des Neides anderer Völker. Ich habe viele meiner Landsleute sagen hören: Wir wollen den amerikanischen Lebensstandard erreichen, aber Amerikas Methoden vermeiden. Ich wage zu behaupten, dass ein solcher Versuch zum Scheitern verurteilt ist. Wir können nicht im gleichen Augenblick weise, mäßig und wütend sein. Ich wünsche, dass uns unsere Führer lehrten, moralisch an der Spitze zu stehen. Dieses unser Land war einmal das Land der Götter, so wurde uns gesagt. Es ist nicht möglich, sich vorzustellen, dass Göter in einem Lande wohnen, das entstellt ist durch den Rauch und den Lärm von Fabriken und auf dessen Straßen kreischende und fauchende Maschinen fahren, die zahllose Wagen nach sich ziehen, vollgeladen mit Menschen, die meistens nicht wissen, was sie wollen, die oft zerstreut sind und deren Gemütsruhe auch nicht gefördert wird durch die Tatsach, dass sie wie Sardinen in eine Schachtel gepackt sind und sich inmitten vollkommen fremder Leute finden, die sie hinauswerfen würden, falls sie die Möglichkeit dazu hätten. Ich erwähne diese Dinge, weil sie als Symbole des Fortschritts gelten, aber sie tragen nicht das geringste zu unserem Glück bei. Mit dem technischen Fortschritt kommt der moralische Zerfall.“
Dass er mit solchen Reden Punkte sammeln konnte, beweist, wie stark die fortschrittsfeindliche Stimmung im Land gewesen sein muss, und bestimmt sind ihm viele gefolgt, weil sie hofften und glaubten, dass er sie von dem „satanische System“ und der Ausbreitung der „Pestbeulen“ der großen Städte (so seine eigenen Worte) bewahren würde. Die Inder wollten in ihrer Mehrheit nicht den westlichen Weg imitieren, der ihnen nach ihrer „Unabhängigkeit“ vom „Weltmarkt“ aufgezwungen wurde, und Gandhi musste 1948 auch darum verschwinden, weil er ein Anachronismus geworden war, der im Weg herum stand. Nach der langen Fase der erzwungenen Armut und der dadurch gelebten Askese sollte das Goldene Zeitalter des Konsumrausches beginnen. Und deswegen warf man ihn auch, nachdem er ausgedient hatte, „auf eine höchst vulgäre Art in den Abfalleimer der Geschichte“, wie sich Barua beklagt.
Mit Bravour hatte er seine beiden Hauptaufgaben, die Spaltung Indiens und das Aufsprengen des Kastensystems, erfüllt, wobei das letztere im Sinn des Kapitalismus geschah, denn dieser braucht „freie Individuen“, die sich selbst und ihre Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt verkaufen müssen, sofern sie sich nicht von Dividenden ernähren können. Gandhi, der sich bis dahin streng westlich gekleidet und dasselbe auch von seiner Umgebung gefordert hatte, „trug vom September 1921 an nur noch das Lendentuch, das jedermann an ihm kennt. Gandhi hat in allen Perioden seines Lebens seine geistige Einstellung immer öffentlich in seiner Kleidung zum Ausdruck gebracht. Er reihte sich damit selbst unter die Ärmsten der Armen ein, die zu wenig besaßen, um sich vollständig bekleiden zu können und sich mit einem Lendentuch begnügen mussten.“ Und für die Befreiung der „Unberührbaren“ drohte er mehrmals damit, sich zu Tode zu fasten.
„Gandhi war nicht nur ein großer Agitator und Organisator, er verstand es auch, Geld zu sammeln. Da er selbst einer Händlerkaste entstammte, hatte er bessere Beziehungen zu seinen Kastengenossen als die brahmanischen Intellektuellen, die zuvor im Kongress den Ton angegeben hatten. – G. D. Birla war jahrzehntelang ein Freund und Berater Gandhis und unterstützte sogar mit reichlichen Mitteln Gandhis Organistation der Handspinner, obwohl er selbst Textilfabriken besaß. Birla wusste, dass er die Konkurrenz der Handspinner nicht zu fürchten brauchte, das Spinnen war schließlich eher von symbolischer als von praktischer Bedeutung“, so lesen wir bei Rothermund; und weil die Händler offenbar schon zu Unternehmern geworden waren, fiel es Gandhi nicht schwer, sie davon zu überzeugen, dass sie in seinem „Neuen Indien“ noch viel mehr verdienen würden als zuvor.
Ich gebe noch ein Beispiel dafür, welche Formen der von ihm kreierte „unbewaffnete Widerstand“ annehmen konnte, es ist der Bericht eines Korrespondenten der United Press namens Webb Miller, den dieser von dem Versuch der Besetzung eines Salzbergwerks gibt, der 1930 im Rahmen der „Salzkampagne“ gemacht worden ist. „In vollständigem Schweigen marschierten die Gandhileute auf und hielten etwa hundert Yards von der Einfriedung entfernt. Eine ausgewählte Schar löste sich aus der Menge, watete durch den Graben und näherte sich dem Stacheldrahtzaun. – Plötzlich ein Kommando, und Haufen von indischen Polizisten stürzen sich auf die herandrängenden Demonstranten und ließen Schläge mit ihren stahlbeschlagenen Lathis auf ihre Körper regnen. Nicht einer der Demonstranten erhob auch nur einen Arm, um die Schläge abzuwehren. Sie fielen um wie Kegel. Dort, wo ich stand, hörte ich die krankmachenden Schläge der Keulen auf ungeschützte Schädel. Die wartende Menge stöhnte und zog bei jedem Schlag den Atem ein im leidenden Mitgefühl. Die Niedergeschlagenen fielen mit ausgebreiteten Armen hin, bewusstlos oder sich krümmend mit gebrochenen Schädeln oder Schultern. – Da gab es keinen Kampf, kein Handgemenge, die Demonstranten marschierten einfach vorwärts, bis sie niedergeschlagen wurden.“ Rau fügt hinzu: „Das dauerte stundenlang, das dauerte tagelang“ – und vermutlich meint er damit, dass je nach dem Durchhaltevermögen der indischen Polizeitruppen dieser grässliche Akt hier länger und dort kürzer anhielt. Aber bemerkenswert ist der Umstand, dass der, welcher vorgab, waffenlos zu sein, seine eigenen Leute als Waffen einsetzte, und seine Methode von daher eine vorweggenommene Variante der Selbstmord-Attentate darstellt.

Während die Angaben von Han Suyin und Wolters über den indisch-chinesischen Grenzkrieg von 1962 verschwommen bleiben und eher als das China unter Mao das Indien unter Nehru als Aggressor erscheint, macht Rothermund den Hintergrund deutlich: „Die Konsolidierung der chinesischen Macht in Tibet war problematisch. Auch die anderen zentralasiatischen Gebiete des weitgespannten chinesischen Reiches waren den Chinesen im Grunde ebenso fremd wie Tibet. Die militärische Beherrschung dieser Gebiete erforderte den Ausbau einer großen Ringstraße, die von China nach Tibet, von dort über das Karakorum-Gebirge nach Sinkiang und weiter über die (innere) Mongolei zurück nach China führte. An einer strategisch besonders wichtigen Stelle ragte das zu Indien gehörende Aksai-Chin-Gebiet (Aksai Tschin) in diesen Ring hinein und bildete eine Barriere, die die Chinesen dazu zwang, einen großen Umweg zu machen und dabei in die unwirtliche Wüste Takla Makan zu geraten, deren Name bedeutet, dass es schwierig ist, ihr zu entkommen, wenn man sich in sie hineinwagt. Dieses Abenteuer wollten die Chinesen möglichst vermeiden und bauten stattdessen stillschweigend Straßen durch das menschenleere Aksai-Chin mit dem Ziel, Sinkiang vom Süden über den Karakorum-Pass zu erreichen. Um von diesem Ziel abzulenken, provozierten sie Grenzzwischenfälle an der Nordostgrenze, wo sie keine strategischen Absichten hatten, und veröffentlichten Karten, die den indisch-chinesischen Grenzverlauf in dieser Region am Fuße der Berge nahe dem Tal von Assam statt auf der Wasserscheide zeigten, die der Brite McMahon 1914 als Vorsitzender der Grenzkommission, an der China und Tibet beteiligt waren, als Grenzlinie bestimmt hatte. – Im Nordosten sandten die Chinesen eine ganze Division über die Berge bis hinunter in die Ebene von Assam, zogen sich aber rasch wieder zurück, ehe der Nachschub zum Problem werden konnte. Dieser Theaterdonner im Nordosten sollte von dem raschen Zugriff im Westen ablenken, wo die Chinesen den Südzugang zum Karakorum-Pass erreichten und mit zahlenmäßig überlegenen Kräften die indischen Posten überwältigten. Dort gab es denn auch keinen chinesischen Rückzug. Das Ziel war erreicht.“
Und aus der Tatsache, dass keine Macht, weder die Sowjetunion noch die USA, und auch kein „internationaler Gerichtshof“ oder die UNO für Indien eintrat, obwohl die Verhältnisse im Aksai-Chin-Gebiet völlig unstrittig waren, beweist, wie wichtig die Unterwerfung der Tibeter, Uiguren, Mongolen und der anderen Minderheiten im rotchinesischen Machtbereich war, im Interesse des gemeinsamen Imperiums.

Bevor ich dieses indische Kapitel abschließe, möchte ich noch etwas ergänzen. In der „1968er Bewegung“, die aus dem Überdruss an den herrschenden Verhältnissen und der Suche nach einem Ausweg aus der misslichen Lage entstand, galten nicht nur marxistische Profeten etwas, sondern auch diesen ganz konträre Gestalten, so bunt war diese Bewegung; und Wilhelm Reich wurde genauso begeistert gelesen und diskutiert wie Hermann Hesse. Der letztere trug mit seinem Buch „Siddharta“ und auch mit seiner „Indienfahrt“ zu einem gewaltigen Interesse an Indien bei. Und viele machten sich auf den Weg über den Balkan, die Türkei, Iran und Afghanistan, um nach Indien zu pilgern, von wo sie den indischen Hanf, Cannabis indica, nach Europa mitbrachten. Sie hatten dort halbnackte und mit Erdfarben und Asche bemalte Sadhus vor dem Feuer gesehen, die den ganzen Tag über bekifft waren und vom Volk trotzdem verehrt wurden. Und viele machten auch Erfahrungen mit LSD, das von Timothy Leary empfohlen wurde, und auch mit Mescalin, das von Aldous Huxley schon ausprobiert wurde, dessen „Pforten der Wahrnehmung“ als Raubdruck kursierte. Ich selbst fuhr 1968 per Anhalter nach Istambul, wo ich in einem der „Pudding-Shops“, den Treffpunkten der Indienfahrer, zum ersten Mal Bekanntschaft mit dem indischen Hanf gemacht habe. Und als ich 1974, also zwei Jahre nach meinem Abschied von der politischen Szene, aufs Land zog, mit Frau und Kind in ein abgelegenes Holzhaus zwischen Urspring und Wolkenstein, war unser Wohnplatz schon bald eine Zwischenstation für die Indienfahrer aus den verschiedensten Teilen von Deutschland und in beiden Richtungen geworden, denn es hatte sich herumgesprochen, dass es sich bei uns gut übernachten und feiern ließ. Die wunderbare Farbenpracht Indiens wogte also bis in unser Land, und das war den Herrschenden alles andere als recht. Der Konsum von Cannabis indica, seit undenklichen Zeiten von Marokko bis Indonesien angebaut und geschätzt, wurde unter die schwersten Strafen gestellt, denn dieses Kraut macht die Leute nicht zu Assassinen, sondern zu deren Gegenteil, zu beschaulichen Leuten, die nicht eínsehen wollen, warum sie mehr schuften sollten als nur für das zum Leben Notwendigste. Das aber ist eine Haltung, welche die Konsumwirtschaft bedroht, und um sie zu retten, wurden nicht nur Maßnahmen im Inneren ergriffen, sondern auch der Weg von Europa nach Indien, den ja nicht nur Deutsche gegangen waren, sondern Jugendliche aus allen westlichen Ländern, versperrt. Die Kriege im Mittleren Osten machten und machen noch immer die Durchquerung von Persien und Afghanistan so gut wie unmöglich, und der freie und fruchtbare Austausch zwischen Europa und Indien wurde bekämpft, weil er nicht organisiert war und damit nicht kontrollierbar.
Sekten aller Art sind erlaubt und auch Flüge, es ist aber nicht dasselbe, mit dem Fluchzeug zu fliegen oder über Land zu reisen; der Charakter einer Wallfahrt geht mit dem Fluchzeug völlig verloren, und der in den letzten Jahren immens angestiegene Fluchverkehr verpestet nicht nur die Atmosfäre, er vermehrt auch die Normierung und Nivellierung. Die Monokultur in Gestalt der Monopolis, der einförmigen Stadt, gewinnt immer mehr Raum, und immer mehr Menschen klammern sich an die künstlichen Medien. Indien ist zusammen mit China führend in der Elektronik geworden, und der Eskapismus in Filme und „virtuelle“ Rollen greift immer weiter um sich und ist eine Massenflucht aus der unerträglich gewordenenen Realität. Für diese gebe ich noch ein Beispiel: den Massenselbstmord der indischen Bauern, die ihrer Regierung und dem Konzern Monsanta vertraut und gentechnisch veränderte Baumwolle angebaut hatten. Die sei gegen alle Schädlinge total resistent, und deswegen würden die Bauern ein Vielfaches dessen verdienen, was sie zuvor erwirtschaftet hatten, Reis und Gemüse bräuchten sie nicht mehr anzubauen, denn mit dem verdienten Geld könnten sie sich alles kaufen. Anfangs sah es noch gut aus, doch schon bald stellte sich heraus, dass ein besonders aggressiver Schädling die gentechnisch veränderten Pflanzen angriff und die Bauern sich Pestizide von der Firma Monsanta kaufen mussten, die immer giftiger wurden, sodass am Ende so gut wie garnichts mehr wuchs. Und weil sie zusehen mussten, wie ihre Familien am Verhungern waren, packte sie die Verzweiflung, und sie nahmen die Pestizide zu sich, um zu sterben. Als ich vor einiger Zeit einen Bericht darüber las, war ich schockiert; diese Menschen waren in einem Feldversuch verbraucht worden; aber ihrem Fluch werden die Gentechnologen und ihre Helfer nicht entrinnen können.

Ich möchte noch einmal auf den indischen Hanf zurückkommen, der seit Jahrtausenden von Marokko über Äthipien und den Vorderen Orient bis nach Indien und Hinterindien angebaut wird, und seit ein paar Hundert Jahren auch in der Karibik, wo er Gandscha genannt wird. Tatsache ist es, dass Cannabis indica eine sehr wertvolle Heilpflanze ist, da es antidepressiv und muskelentspannend wirkt, was insbesondere bei den weit verbreiteten chronischen Schmerzerkrankungen, die immer mit einer Depression einhergehen, segensreich ist. Die Ärzte geben Schmerzmittel, die den Körper angreifen und die Nieren zerstören, oder sie zerschneiden Nervenbahnen oder gar -zentren, um den Schmerz auszuschalten, und wenn sie gnädig sind, geben sie Opiate, wobei das natürliche Opium, der Extrakt aus Papaver somniferus, dem Schlafmohn, allen künstlichen Derivaten, an denen nur die Farmaindustrie verdient, überlegen ist. Aber lange bevor zu dem „schlabringenden Mohn“ gegriffen werden muss, bietet sich der indische Hanf an mit vorzüglicher Wirkung und weitaus geringeren Nebenwirkungen als der zum selben Zweck sehr oft eingesetzte Alkohol, welcher jedoch ein Zellgift ist und nach dem Überschreiten einer gewissen Grenze destruktiv, ja sogar tödlich ist. Gleiches ist bei Cannabis indica nicht der Fall, und trotzdem wird es verteufelt und mit destruktiven Mitteln wie „Ecstasy“ oder anderen „Designer-Drogen“ in einen Topf geworfen. Die logische Folge einer solchen Politik ist die, dass die Jugendlichen, die Bekanntschaft mit Grass oder Shit gemacht haben, den Behörden nichts mehr glauben und die genannten destruktiven Drogen für genauso harmlos wie Cannabis halten.
Vor etlichen Jahren, schätzungsweise vor zehn, las ich im Deutschen Ärzteblatt einen Artikel, der von einem Versuch berichtete, worin drei Gruppen von Probanden auf ihre Reaktionsfähigkeit in einem Verkehrssimulationsapparat getestet und miteinander verglichen wurden, die erste stand unter Alkohol, die zweite unter Haschisch, und die dritte war nüchtern. Die meisten Fehler machten erwartungsgemäß die Betrunkenen, aber entgegen der Erwartung machten die Bekifften weniger Fehler als die Nüchternen, und aus diesem Grund war die Veröffentlichung des Versuches lange zurückgehalten worden, wie aus der Einleitung des Artikels hervorging. Das für die Unerfahrenen erstaunliche Ergebnis wurde damit erklärt , dass die Reaktionen der Bekifften zwar langsamer waren als die der Nüchternen, dass sie dies aber mit einer denfensiven Fahrweise ausglichen, wodurch sie an Sicherheit die beiden anderen Gruppen übertrafen.
Dieses Resultat wurde sonst nirgends beschrieben, und darin gleicht der Umgang mit Cannabis indica dem mit einer den Indianern heiligen Pflanze, dem Tabak. Ebenfalls im Deutschen Ärzteblatt fand sich vor ein paar Jahren ein Artikel, der sich mit den Nikotinrezeptoren befasste, also mit den Synapsen der Nervenzellen, an denen Nikotin andockt, um seine Wirkung zu entfalten. Im Alter nehmen diese Rezeptoren ab, und besonders rapide bei den Leuten, die einen Morbus Alzheimer entwickeln, lange bevor die morfologisch fassbaren Veränderungen eintreten; bei den Rauchern dagegen, die ihre Rezeptoren beständig mit Nikotin stimulieren, ist das nicht der Fall, und somit sind sie gegen die Alzheimer-Krankheit gefeit. Dieser Befund passte nicht in die Kampagne gegen den Tabak, und deswegen wurde er auch nirgends mehr publiziert; und anstatt Nikotin als Profylaxe gegen den Hirnabbau einzusetzen, wurde es völlig undifferenziert diffamiert. Die schädlichen Wirkungen des Rauchens kommen vom Teer (genannt „Kondensat“), und sie werden noch potenziert von den Chemikalien, die dem Tabak und dem Zigarettenpapier beigemischt werden, aber ein Vergleich zwischen Konsumenten von naturreinem Tabak mit solchen von artifiziell verunreinigtem wurde nie durchgeführt.
Im Fall von Cannabis indica ging die Desinformationspolitik noch einen Schritt weiter, und im letzten Jahr war in der Süddeutschen Zeitung ein Artikel zu lesen, wonach in einem Verkehrssimulationsapparat wie oben beschrieben drei Gruppen miteinander verglichen wurden, Nüchterne, Betrunkene und Bekiffte; es wurde behauptet, dass ein solcher Versuch noch niemals zuvor durchgeführt worden sei, welche Behauptung entweder auf die schlechte Recherche des Journalisten zurückzuführen ist oder auf die falsche Auskunft des Versuchleiters. Das Ergebnis war diesmal das genauso schlechte Abschneiden der Bekifften
wie der Betrunkenen, aber beim genauen Lesen des Textes stellte sich heraus, dass die Bekifften nicht nur Cannabis indica zu sich nahmen, sondern Leute waren, die an einer Polytoxikomanie litten, das heisst wahllos sich alle möglichen Drogen zuführten, und THC (Tetrahydrocannabinol) nur einer von vielen Wirkstoffen war, die sich in ihrem Blut fanden.
Aus dem Vorwort zu der von ihm aus dem Französischen übersetzten und bearbeiteten „Geschichte der Freimaurerei“ von Paul Naudon, aus der ich bereits zitierte, schreibt Dr. H.-H. Solf: „Die Freimaurerei war niemals ein monolithischer Block, sie ist vielmehr stets das gewesen, was Mao Tse Tung so treffend vom Kommunismus gesagt hat: ein Garten mit tausend Blumen.“ Für den mir bisher gefolgten Leser ist diese Berufung auf Mao nicht mehr ganz so überraschend, wie sie es für einen ahnungslosen gewesen wäre, aber mehr ins Gewicht fällt, dass die beiden sich als Freimaurer zu erkennen gebenden Autoren das Versprechen im Titel des Buches nicht einlösen können. Denn da die Freimaurer die Geheimhaltung pflegen, können sie keine Interna preisgeben und daher auch ihre eigene Geschichte nicht schreiben. Dies ist der Grund dafür, dass das Buch in weiten Strecken nur eine öde Auflistung der zahllosen Logen in aller Welt, ihrer Gründungen, Abspaltungen und Wiedervereinigungen sowie ihrer jeweiligen Großmeister ist, welche die Autoren sichtlich mit Stolz erfüllt, aber dem aussenstehenden Leser nichts bringt, weil von der inneren Dynamik kein Wort verlautet.
Trotzdem gebe ich hier eine Übersicht auf die Gründerjahre der Freimaurer-Logen in den wichtigsten Ländern: 1717 United Kingdom of Great Britain, 1721 die Vereinigten Niederlande und Frankreich, 1728 Spanien, 1730 Indien und Neuengland, die späteren USA, 1733 Italien, 1735 Schweden und Portugal, 1736 die Schweiz, 1738 die Türkei, Polen und Kanada, 1740 Russland, Deutschland, Österreich, Böhmen und Ungarn, 1767 China, 1800 Brasilien, 1806 Australien, 1811 Südafrika, 1866 Japan. Manchmal ist auch von Verboten die Rede, doch die Logenbrüder waren sehr findig, unterzutauchen und sich umzubenennen, zum Beispiel in „humanitäre Gesellschaften, bürgerliche Vereine oder Kränzchen“. Und wenn es von den kommunistisch gewordenen Staaten heisst, das Freimaurertum sei dort erloschen, so sage ich demgegenüber, dass es in der Partei bestens aufgehoben war und nach dem „Zusammenbruch“ des Ostblocks auch schnell wieder offen erstand.
Dem Buch sind trotz des Vorbehaltes einige sehr interessante Details zu entnehmen, und ich will mit Napoleon beginnen: „Es ist behauptet worden, dass Napoleon während des ägyptischen Feldzugs Freimaurer geworden sei, dies ist nicht nachweisbar. Auf jeden Fall behandelte er die Freimaurerei als offiziöse Einrichtung und unter seiner Protektion stehend. Diese Einstellung brauchte er nicht zu bereuen, denn während seiner ganzen Herrschaft diente die französische Freimaurerei ihm treu in der Heimat und in ganz Europa.“ Überall wo Napoleon hinkommt, in Italien und Deutschland, in Spanien und Polen, schießen die Logen nur so aus dem Boden und erblühen zu frischem Leben, sodass an der Mitgliedschaft dieses Mannes für mich kein Zweifel besteht.
Was Russland betrifft, ist zu hören: „Nach einer unbewiesenen Überlieferung soll Zar Peter I. (der ‚Große’) in England als Freimaurer aufgenommen worden sein. Sicher ist jedoch, dass die Freimaurerei aus England nach Russland eingeführt wurde. – Paul I. (der Sohn von Katharina II., der ermordet wurde) verbot 1797 alle freimaurerischen Versammlungen in seinem Reich. Sein Nachfolger Alexander I. erneuerte 1801 das Verbot, aber schon nach zwei Jahren änderte er seine Meinung und ließ sich in eine Loge aufnehmen. – Der Zar änderte 1821 seine Meinung radikal, denn aus unbekannten Gründen verbot er die Freimaurerei vollständig.“ Naudon und Solf machen sich keinerlei Gedanken über den zweimaligen Sinneswandel von Alexander, wie es als Historiker, die sie zu sein beanspruchen, ihre Pflicht gewesen wäre. Doch es genügt, festzuhalten, dass Alexander von 1803 bis 21 ein offizieller Logenbruder gewesen ist, also auch in den Jahren, da er gegen Napoleon Krieg geführt hat.
Von Portugal ist zu hören: „Der liberale König Joseph II. (1750 bis 77) ließ die Freimauerei unbehelligt, aber als die Königin Marie I. den Thron bestieg, sollte sich dies drastisch ändern. Die Verfolgungen wurden während der französischen Revolution besonders heftig. Die Freimaurer mussten ins Exil gehen, wer blieb wurde ins Gefängnis geworfen oder verbannt. Dennoch konnten einige Logen mit der Unterstützung von Franzosen und Engländern, die man nicht zu verfolgen wagte, ihre Arbeit fortsetzen. Im Jahre 1800 gab es fünf Logen in Lissabon. – Die Ankunft der Franzosen unter Junot und Soult und der Engländer unter Wellington – alle drei waren Freimaurer – war nicht ungünstig für die protugiesische Freimaurerei.“ Junot und Soult waren Feldherren im Dienste Napoleons und sie brachten den Krieg nach Spanien und Portugal, wo ihnen der britische General Wellington mit seiner Heeresmacht entgegentrat. Die Greuel des iberischen Krieges hat Goya getreulich der Nachwelt bewahrt, und sie waren die Vorboten der kommenden Schrecken.
Richard Wellesley, der von 1769 bis 1852 gelebt hat, hatte in einem von 1803 bis 1805 dauernden Krieg die indische Ostküste erobert und die Marathen (vermutlich Ureinwohner) geschlagen, 1808 ist er in Portugal gelandet, 1809 zum Lord erhoben worden, und seit 1814 durfte er sich „Herzog von Wellington“ nennen (Quelle: „dtv-Atlas zur Weltgeschichte); er ist derselbe, der 1815 in der berühmten Schlacht bei Waterloo das letzte napoleonische Heer vernichtete. Was mag es für ein Gefühl gewesen sein, das die großen Kriegsherren erfüllte, wenn sie als Bundesgenossen im Geist der Freimaurerei ihre eigenen Leute in die tödlichen Gemetzel der Völkerschlachten hineingeschickt haben? Der einzelne Mensch konnte ihnen schon lange nichts mehr bedeuten, und wenn er in Massen auftrat, fanden sie ihn noch mehr zu verachten, er musste umgeformt werden, und als das beste Mittel dazu hatten sich mörderische Kriege erwiesen, in die auch die Zivilbevölkerung zunehmend hinein verstrickt wurde. Vor blankem Entsetzen sollten die überlebenden Untertanen nicht bemerken, welches System ihnen aufgestülpt wurde.
Und die Autoren verraten uns noch mehr, sie zeigen zwei Abbildungen aus Kriegen, unter der ersten steht als erklärender Text: „Ein österreichischer Offizier wird von französischen Soldaten angegriffen, er macht das freimaurerische große Notzeichen, das der französische Offizier erkennt und seine Soldaten zurückhält.“ Unter der zweiten Abbildung steht: „Während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges wurde der amerikanische Hauptmann McKinstrey von einer für die Engländern kämpfenden Indianer-Einheit gefangengenommen. Als man anfangen wollte, ihn zu foltern, machte er das freimaurerische große Notzeichen. So konnte ihn der Indianer Joseph Brant, der 1776 in London Freimaurer geworden war, vor Folter und Tod retten.“ Es ist für die Offiziere, egal auf welcher Seite sie kämpften, sicher beruhigend gewesen, wenn sie „das große Notzeichen“ kannten, das den gemeinen Mannschaften unbekannt war. Aber nochmals gefragt: welches Gefühl mag sie beschlichen haben, wenn sie sich selbst auf der sicheren Seite wussten und ihre Untergebenen massenhaft dahinsterben sahen?
Die Protektion, die die Freimaurer genossen, machte sich nicht nur in den „Feldlogen“ bezahlt, sondern auch im zivilen Leben; die Bundesbrüder waren gehalten, sich gegenseitig nach Kräften zu unterstützen, und da sie in allen geselschaftlichen Schichten vertreten waren, schanzten sie sich die besten Posten und Geschäfte zu, was unvermeidlich viele Opportunisten anlockte. Und ihr komplexes Rang-ordnungssystem bis zum „33. Grad“ oder sogar noch darüber diente dazu, eine Selektion der Brauchbaren von den Unnützen zu ermöglichen und diejenigen herauszusieben, die das Prinzip der Freimaurerei im gemeinten Sinne verstanden. „Das höchste Ziel der Initiation ist die Emporhebung des Menschen auf die Ebene der Weisheit und der höchsten Macht“, heisst es bei Naudon unverblümt, wobei mit der Weisheit das Wissen gemeint ist, das zur höchsten Macht führt und in den „Forschungslogen“ erworben und erweitert wird – die erste Loge dieser Sorte war die „Royal Academy of Sciences“ in Großbritannien. Die Weisheit ist wie die Wohltätigkeit nur eine aufgesetzte Maske, die es erlaubt, einen guten Eindruck zu machen und auch die weniger Tauglichen in Hilfstruppen unterzubringen.
Im Zusammenhang mit der „spekulativen schottischen Maurerei“ entschlüpft Naudon der entlarvende Satz: „Doch die Zeiten änderten sich, als im Laufe der Jahre die Hoffnungen der Stuarts zunichte wurden und damit auch die der ihnen treuen schottischen Maurer. Unter dem Deckmantel von Toleranz und Liberalismus, den sie sich aus taktischen Gründen umgehängt hatten, öffneten sich ihre Logen ihren Gegnern und den Anhängern der Mode gewordenen Filosofie des Deismus.“ Was die Öffnung ihrer Logen für ihre Gegner für einen Sinn gehabt haben soll, wird nicht ersichtlich, aber den genannten Deckmantel haben sich nicht nur die Schotten umgehängt, die so taten, als würden sie das Haus der Stuarts unterstützen, er gehört zur Grundausstattung der Freimauer-Bekleidung.

Hier möchte ich eine Episode aus meinem Leben einschieben: Als ich in der Mitte der neunziger Jahre einen Kurs für Althebräisch in der Volkshochschule von Ansbach anbieten wollte, stieß ich bei der Leiterin zuerst auf Wohlwollen und Interesse, und sie fragte mich noch, ob ich mein Angebot im Rahmen der „Woche der Brüderlichkeit“ einbringen wolle, was ich abgelehnt habe. Diese Woche dient der „deutsch-jüdischen Versöhnung“, und für sie hatte die Volkshochschule wie jedes Jahr Veranstaltungen im Programm. Als ich in dem neu ausgedruckten nicht erschien, ohne dass mir jemand Bescheid gesagt hatte, suchte ich die Leiterin auf und bekam von ihr zu hören, die Art, wie ich mit der Bibel umginge, stünde ja wohl außerhalb von jedem gesellschaftlichen Konsens. Ich hatte im Vorjahr fünf Samstagabende zum Thema „Huren der Bibel“ gestaltet, wo sie, die Chefin der VHS, kein einziges Mal dabei war, und daher fragte ich sie, woher sie das wüsste, was sie da sagte. Sie zauderte mit ihrer Antwort, und ich bedrängte sie so sehr, dass ihr etwas von Informanten herausrutschte, und als ich sie nach Namen fragte und ihr sagte, nach jedem meiner Abende habe es offene Aussprachen gegeben und niemand hätte mich in diesem Sinn angegriffen, da wich sie aus und berief sich auf ihre alleinige Bestimmungs-Gewalt, als Kursleiter käme ich jedenfalls nicht in Frage für sie.
Für mich kam nur ein einziger Mann in Betracht, der dahinter stecken konnte und der Verbindungsmann gewesen sein musste, ein schmieriger Typ namens X, der schon an allen fünf Abenden da war und sich durch scheinbar geistreiche, aber in Wirklichkeit abstrakte und substanzlose Bemerkungen hervorgetan hatte. Nachdem ich dann meinen Kurs auf eigene Faust in einem Nebenzimmer des Kulturzentrums der Stadt abhielt, war er gleich mit dabei und gab sich sehr beflissen. Er lud mich zu sich nach Hause ein und machte mir, nachdem er mir zuvor sein Bedauern bezüglich des für mich angeblich unwürdigen Rahmens zum Ausdruck gebracht hatte, das Angebot, mir die Bekanntschaft mit maßgebenden Persönlichkeiten der „Gesellschaft für deutsch-jüdische Zusammenarbeit“ zu vermitteln. Aber damit wollte ich genauso wenig wie mit der „Woche der Brüderlichkeit“ zu tun haben, denn allzu verlogen war mir das, was ich davon mitbekommen hatte, erschienen. Mitten im Gespräch murmelte mein Gastgeber eine Art von Abakadabra in einer mir unbekannten Sprache, und als ich ihn fragte, was das zu bedeuten hätte, sagte er, das sei garnichts gewesen. Später wurde mir klar, dass er mich mit diesem Losungswort hatte testen wollen, ob ich ein entlaufener Logenbruder war, denn wenn ich ein ordentlicher gewesen wäre, hätte ich mich in der örtlichen Loge gemeldet.
Derselbe Mann gab mir dann zwei Bücher mit nach Hause, die von der Weltverschwörung der Freimaurer handelten, und seine Absicht, herauszufinden, was ich davon halte, war offensichtlich. Die Bücher waren miserabel geschrieben, und später las ich ein noch schlimmeres Machwerk mit demselben Tenor, sodass ich notierte: mehr als 99 Prozent der Schriften über die Weltverschwörung sind von den Verschwörern selber geschrieben. So hielt ich mich dem Herrn X gegenüber mit einer Beurteilung zurück und vermied es fortan, ihn zu besuchen, zu unangenehm hatten mich auch die scheusslichen und kitschigen Symbole berührt, die überall an seinen Wänden und sogar noch in der Toilette herumhingen. Während der etwa zweieinhalb Jahre, die mein Sprachkurs dauerte (die Lektüre war das erste Kapitel der Genesis) kam Herr X fast regelmäßig und schrieb immer sehr eifrig mit. Seine Beiträge waren eher desintegrierend, aber noch viel schlimmer war seine Beeinflussung der Atmosfäre. Auf meine Einladung hin gingen ein paar Leute nach den Kursstunden zusammen in ein Lokal, um noch ein bisschen miteinander zu plaudern, und Herr X humpelte immer mit, aber niemals äusserte er sich über sich persönlich oder über etwas aus seinem eigenen Leben, er schien nichts Eigenes zu haben. Nachdem von den wenigen gekommenen Leuten einige zuerst in das Lokal nicht mehr mitgehen wollten und dann dem Kurs ganz fernblieben, besonders die Frauen, fragte ich eine von ihnen nach dem Warum, und sie sagte, sie könne die Gegenwart des Herrn X nicht länger ertragen, wobei es ihr schwer fiel, das auszudrücken, was sie gegen ihn hatte. Doch von den anderen Frauen wurde sie bestätigt, und beim Nachsinnen kam ich zu dem Schluss, dass Herr X eine entkernte Persönlichkeit war, die etwas Abschreckendes an sich hatte. Mit der Entlarvung seiner Überwachungstätigkeit ließ ich mir Zeit, teils aus mitmenschlicher Scham und teils aus Neugier auf ein mir so fremdes Exemplar meiner eigenen Gattung. Und als es dann so weit war, hat sich der Kurs aufgelöst.
Die Entkernung der Persönlichkeit und die Implantierung eines Ersatzkerns, das ist das Herzstück der Sache, und für die „Eingeweihten“ bedeutet es Schulung oder „Bearbeitung der Grade“ zu immer höheren Gipfeln der Macht, für die nicht eingeweihten Massen dagegen die Zersplitterung und danach die Zusammenfassung zu Pseudo-Einheiten, Parteien und Sekten, diversen Fanclubs und jedweden Szenen. Wo diese aber nicht von den Machern organisiert und damit direkt überwacht werden können, gibt es der Spitzel genug, die regelmäßig ihre Berichte erstatten, nicht nur zu DDR-Zeiten, sondern auch heute, und die geeignetsten Typen für die Rolle der Informanten sind diejenigen, welche infolge der allgemeinen Zersetzung schon entkernt worden sind und nach einer neuen Persönlichkeit gieren.

Man kann seinen Instinkt schärfen für diese Leute, die sich selbst aufopfern oder auslöschen im Dienst einer Sache, ob sie einem nun im eigenen Leben oder in der Geschichte begegnen. Es hat mich mit Genugtuung erfüllt, in dem Buch von Naudon zu erfahren, dass „Dom Pedro I., der Kaiser von Brasilien“, von dem wir schon in der Geschichte Portugals hörten, ein Freimaurer war, denn das hatte ich aus dem Text erschlossen, ohne dass es gesagt worden wäre. Dieses Verschweigen findet sich im Zusammenhang mit den Freimaurern immer wieder, und es ist so, als hätten die Historiker das Schweigegelübde abgelegt, entweder weil sie selbst Freimaurer waren oder in vorauseilendem Gehorsam die Zensur in ihrem Kopf nicht bemerkten. Am haarsträubendsten ist die Unterlassung im Hinblick auf die USA, denn kein Schüler erfährt im Unterricht, dass die USA eine Freimaurer-Gründung sind, obwohl dieser Umstand von welthistorischer Bedeutung ist. (Auch in den USA selbst wird die Zugehörigkeit ihres Gründungsvaters zu den Freimaurern im Geschichtsunterricht verschwiegen, wie ich dieser Tage aus erster Hand erfahren konnte, ein 31-jähriger US-Amerikaner antwortete mit auf meine Frage, dass er davon nichts in der Schule, sondern erst später gehört hat.)
In dem Buch von Naudon ist ein Bild zu sehen, das George Washington zeigt, wie er „in voller maurerischer Bekleidung 1793 den Grundstein zum Kapitol in Washington legt“; und bezüglich der USA findet sich noch ein wichtiger Hinweis: „Ein Journalist namens William Morgan, ein Abenteurer mit etlichen Vorstrafen, gab ein stark antifreimaurerisches Werk heraus: ‚Freemasonry explained and exposed’. Seine Behauptung, Freimaurer zu sein, ist immer unbewiesen geblieben. Der Skandal war riesengroß, vor allem als Morgan plötzlich verschwunden war und blieb. Es wurde behauptet, dass die Freimaurer ihn entführt, nahe der kanadischen Grenze ermordet und seine Leiche in den Niagarafall gestürzt hätten. In New York bildete sich eine Anti-Freimaurer-Partei, die bald auf andere Staaten übergriff. Bei den Präsidentenwahlen schlug diese Partei einen eigenen Kandidaten vor. Die von den beiden anderen Parteien vorgeschlagenen Kandidaten, Andrew Jackson und Henry Clay, waren beide Freimaurer und gewesene Großmeister. Als Jackson mit überwältigender Mehrheit gewählt worden war, bedeutete dies das Ende der Anti-Freimaurer-Bewegung.“
Mit den „beiden anderen Parteien“ können nur die Republikaner und die Demokraten gemeint sein, und folglich war das Aufstellen von gemeinsamen Kandidaten für die nach aussen hin verschiedenen Parteien nicht erst seit Bush und Kerry gebräuchlich. Wenn im folgenden 14 US-Präsidenten namentlich aufgeführt und als Freimaurer gekennzeichent werden, dann halte ich es umgekehrt für mehr als unwahrscheinlich, dass ohne einen Mitgliedsausweis in einem der Clubs kein Mensch ein höheres Amt bekleiden geschweige denn Präsident werden kann. „Über die mehr oder weniger entscheidende Rolle der Freimaurerei in der amerikanischen Erhebung (gegen England) ist viel und eingehend diskutiert worden. Ganz sicher ist, dass unter ihren hauptsächlichen Anführern Freimaurer waren. – Ein Mittelpunkt des Aufstandes war die Loge Sankt Andreas, geführt von Joseph Warren. Von ihr ging auch der zündende Funke aus, die ‚Boston Tea Party’. Am 16. Dezember 1773 verkleideten sich einige Brüder der Loge als Indianer, besetzten drei englische Teefahrer im Hafen und warfen die Ladung ins Meer, es waren 342 Kisten, für welche die Bostoner keinen Zoll bezahlen wollten, denn er war von England aus ohne ihre Zustimmung festgesetzt worden. Die Engländer antworteten mit Repressalien zur Bestrafung Bostons, aber die anderen Kolonien erklärten sich solidarisch, und dies bedeutete den Krieg.“
Was es bedeutete, dass sowohl in den werdenden USA als auch in Great Britain die entscheidenden Posten von Freimaurern besetzt waren, habe ich an anderer Stelle erläutert. Und hier will ich noch der Frage nachgehen, wie sich das 1717 von der ersten „Großloge“ in London ausgehende Freimaurertum so rasch ausbreiten konnte, dass es bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Länder von ganz Europa umfasste, dazu die britische Kronkolonie Indien und die späteren USA. Naudon erklärt die Entstehung der „spekulativen Freimaurerei“ aus der „operativen“, und mit der letzteren meint er die Zusammenschlüsse der Maurer, die in den „Bauhütten“ die Errichtung der gotischen Dome, Kathedralen und Kirchen ausführten. In diesen Bauhütten hätten sich angesichts des heiligen Werkes verschiedene Einflüsse vermischt, die bis ins Altertum zurückreichen sollen, „der Hermetismus von den Neupythagoreern und Neuplatonikern aus Alexandrien, die Alchemie, ebenfalls aus Alexandrien stammend, und die Kabbala aus der jüdischen Überlieferung.“ Das ist in meinen Augen eine märchenhafte Aufzählung und völlig unglaubhaft – was Naudon mit einer mehr als geschraubten Wendung noch unterstreicht: „Durch eine Art Intellektualisierung zweiten Grades wurden diese verschiedenen Esoterismen eine Bereicherung des Symbolismus der Baumeister.“
Möglich ist es dagegen, dass sich die „Handwerksmaurerei“ über die so genannten „angenommenen Mitglieder“ („berufsfremde, aber volle Mitglieder“), die allmählich immer mehr wurden und mit dem Erlöschen der Handwerkstätigkeit die Hülle dieser Organisation übernahmen, dahingehend verändert hatte, dass es in ihrem Namen nun nicht mehr an einem Tempel aus Steinen zu bauen galt, sondern an dem Tempel der Menschheit, als dessen Baumeister sie sich nunmehr berufen fühlten. Unter einer Abbildung, die den „Tempel Salomonis“ kasernenhaft vorstellt, stehen die Worte: „Der Bau dieses Tempels stellt eines der Hauptsymbole der Freimaurer dar: die Errichtung des Tempels der Humanität, dessen Bausteine Menschen sind“. Dazu fällt mir Sarastro ein, der vor sich hinbrummt: „Wen solche Lehren nicht erfreu`n, verdienet nicht ein Mensch zu sein“.
An anderer Stelle heisst es: „Ein Freimaurer ist durch seine Haltung verpflichtet, dem Gesetz der Moral zu gehorchen. Ein Mann mag eine Religion oder Art der Verehrung haben wie sie auch sei, er wird deshalb nicht von dem Orden ferngehalten, vorausgesetzt, dass er an den erhabenen Architekten des Himmels und der Erde glaubt und die geheimen Pflichten der Moral übt.“ Warum in aller Welt sollen die „Pflichten der Moral“ geheim sein? Weil sie einer anderen Logik gehorchen als der nach aussen hin vorgespiegelten der „Humanität“. Wie verlogen die ganze Sache ist, sieht man schon daran, dass in jeder Loge die Bibel aufgeschlagen ist, und zwar, wie gesagt wird, zumeist an der Stelle, die vom salomonischen Tempel berichtet, aber geflissentlich gehen die Freimaurer darüber hinweg, dass dort das Gegenteil dessen steht, was sie lehren. „Und das Haus (oder der Tempel) in seiner Erbauung, als ein unversehrter Stein des Aufbruchs erbaut er sich, und Hammer und Beil, alle Geräte aus Eisen, nicht sind sie zu hören in dem Haus (in dem Tempel) während seiner Erbauung“. Äwän schlemoh Masso niwno – „als ein unversehrter Stein des Aufbruchs erbaut er sich“ – diese Stelle wird meistens schon falsch übersetzt und das Wort Masso mit „Steinbruch“ wiedergegeben. Masso bedeutet aber den „Aufbruch“ zu einer Wanderung oder Reise, und im Plural sind es die Aufbrüche nach den Ruhepausen, wodurch „der Tempel“ zu etwas ganz anderem wird als einem starren Gebilde.
In der Thorah heisst es: „Ihr habt gesehen wie ich aus den Himmeln mit euch sprach. Nicht sollt ihr bewirken mein Du-Wunder als Götter von Silber und als Götter von Gold, nicht wirket für euch. Einen irdenen Altar darfst du mir bereiten und opfern sollst du auf ihm deinen Aufstieg und deine Vollkommenheit, dein Herauskommen und dein Nachsinnen. An jedem Ort, wo ich meinen Namen in Erinnerung rufe, werde ich zu dir hineingehen und dich segnen.“ Der da zu uns spricht verlangt als Opfer unseren Aufstieg und unsere Vollkommenheit, also gerade das, was die Freimaurer und die ähnlich wie sie denkenden Menschen mit aller Verbissenheit sich zu erreichen bemühen. Und auch die Rangordnung im Hinblick auf die Nähe zu ihm lehnt er ab: „Und nicht sollst du auf Stufen hinaufsteigen auf meinen Altar, damit du nicht deine Blöße auf ihm enthüllst“ – nämlich von unten als Arschloch zu sehen bist.
Unbehauen und und unversehrt wünscht sich der wahre und lebendige Gott die Steine für seinen Tempel, die Menschen für sein Haus, das die ganze Welt ist. Und nicht indem sie sich zurechtbiegen lassen und sich selbst vergewaltigen dienen sie ihm, sondern so wie er und die Natur sie hervorgebracht haben. Mehr ist nicht nötig, als sich den umgestaltenden Kräften des Lebens zu überlassen und auf ein eigenes Programm zu verzichten, dann aber geht alles ohne Anstrengung und wie von selber vor sich. Demgegenüber heisst es von den selbst ernannten Baumeistern: „Die Freimaurerei verhehlt dem Adepten von vornherein nicht die Schwierigkeiten. Da sie jedem offen steht, kann sie trotz der gebotenen Selektivität nur Männer aufnehmen, die von ihrer Zeit, von ihrem Land und von ihrem Milieu geprägt sind. Ohne Umschweife wird dem Adepten gesagt, dass er ein roher Stein und nicht mehr sei. An ihm selbst liege es, ihn zu glätten und in die erforderliche Form zu bringen, jedoch kann nur der Meister Hiram diese Steine richtig zusammenfügen.“
Wer ist „der Meister Hiram“? In der Legende der Freimaurer gilt er als der Baumeister des salomonischen Tempels. Er sei von seinen drei bösen Gesellen ermordet worden und danach auferstanden von den Toten, so sagen sie dort und bieten dem Adepten die Identifizierung mit diesem Baumeister an. Laut Bibel war Hiram (oder Chirom) der König von Tyros (Zor auf hebräisch) und lieferte dem König Salomon (Schlomoh) Holz für dessen Bauwerk im Austausch gegen Öl und Weizen. Und seine Leute wirkten mit denen Salomons und den Gwolim zusammen, um die Hölzer und die Steine für den Tempel vorzubereiten. Die Gwolim sind wörtlich übersetzt „die Begrenzer“, und im Zusammenhang mit ihnen fällt auch das Wort Gosith (mit stimmhaftem s), „behauener Stein“; aber es ist verhängnisvoll, wenn man vergisst, dass es in der Heiligen Sprache aus der Wurzel Gos kommt, was „Vorübergehen und Verschwinden“ bedeutet. Und mögen auch für den irdisch sichtbaren Tempel die Baumaterialien vergewaltigt und zurechtgestutzt worden sein, so ist dieser Tempel vergänglich und verschwindet auch wieder. Äwän schlemoh dagegen, der „unversehrte Stein“, ist wie der brennende und nicht verbrennende Dornbusch ein Widerspruch in sich selbst, da er um Stein zu werden schon versehrt werden musste, nämlich aus dem Gebirgsstock, dem er entstammt, durch die Kräfte der Verwitterung herausgebrochen. Aus solchen auf natürliche Weise entstandenen Steinen erbaut sich der wahre Tempel, und dieser Stein ist vom Wort her auch ein wieder erneuerter und in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzter Stein, da Schalom nicht nur der Frieden ist, sondern auch die Wiedergutmachung und die Reintegration des Zerspaltenen. Und das „Behauen-Sein“, die Deformation des Charakters durch Erziehung und Selbstdisziplin, ist nur ein vorübergehender Zustand.
Naudon wagt es, die Initiation seines Vereins mit der erneuerten Geburt zu vergleichen, von der Jesus zu Nikodemus spricht, was eine Schande ist, denn „die Windgeborenen“ sind nicht mehr berechenbar, wie ich schon dargelegt habe, während die „Eingeweihten“ mit der fortschreitenden „Glättung“ der Steine immer kalkulierbarer werden, ihre Verwendungsfähigkeit für die verschiedensten Manöver und die entsprechende Verkleidung zeichnen sie aus. Ihr „Meister Hiram“ aber ist der „Unbekannte Obere“, von dem „Baron von Hund erklärte, er sei von dessen oberstem Chef, dem ‚Ritter von der Roten Feder’, in Paris in den Templerorden aufgenommen worden, und dieser Ritter sei niemand anderes als der Prätendent Karl Eduard Stuart. Manche wollten hier eine Machenschaft der Jesuiten sehen und setzten 1772 auf dem Konvent von Kohlo fest, dass keinerlie Unbekannte Obere eine Macht über den Orden haben könnten. Hund musste seine Ämter niederlegen, und Herzog Ferdinand von Braunschweig wurde Großmeister aller Schottenlogen und ‚Magnus Superior Ordines per Germaniam inferiorem’.“ Das ist eine der ganz wenigen Stellen des Buches, wo Interna durchschimmern, und bei der komplexen Hierarchie des Ordenssystems ist es denkbar, dass die unteren und mittleren Chargen bemerkten, dass ihnen die oberste Leitung und deren Absichten unbekannt waren, weswegen es zu einem Raunen gekommen sein könnte, das es zu beruhigen galt durch das Opfer von Hund.
Der Verweis auf den Orden der Tempelritter ist im Zusammenhang mit der noch unbeantworteten Frage, wie sich die Freimaurer im 18. Jahrhundert so explosiv ausbreiten konnten, zu beachten, und von Hund war der Auffassung, „dass der Orden der Freimaurer nichts anderes sei als eine Nachfolgeorganisation des Templerordens, die von ‚Unbekannten Oberen’ geleitet werde. – Auf dem Konvent von Wilhelmsbad 1782 wurde festgestellt, dass die Filiation Templer-Freimaurer eine Legende sei und aufgegeben werden müsse. Die Unbekannten Oberen, die Professe und Großprofesse, wurden erneut und endgültig abgelehnt.“ Von Hund hatte den Diskurs über die oder den „Unbekannten Oberen“ kanalisiert und beendet, womit aber keineswegs gesagt ist, dass es diese Größen nicht gibt. Und als Voraussetzung für die Expansion der Freimaurerei müssen vor dem Jahr 1717 schon sehr stabile internationale Verbindungsgruppen eksistiert haben, die sich nachher nur umbenannten und unter dem Firmennamen „Free Masonry“ operierten.
Die Templer waren der mächtigste und reichste der drei Ritterorden, die beiden anderen hießen Johanniter (oder Hospitaliter, später Malteser) und Deutschherren, und dass man sich die Templer erkoren hatte, den Sündenbock für das Scheitern der Kreuzzüge zu spielen, lag vermutlich auch daran, dass sie durch ihr herrisches und arrogantes Verhalten in keinem Volk von Europa, über das sie ihr Bankennetz ausgespannt hatten, beliebt waren, jedenfalls hat sich kein Finger für sie gerührt, als sie von Filipp dem Schönen, dem König von Frankreich, aufgelöst wurden, der sich zu diesem Zweck die Figur des Papstes gefügig gemacht hat. Naudon schreibt über die Templer: „In ganz Europa übten sie großen Einfluss auf die Handwerksgenossenschaften aus. In Paris zum Beispiel gehörte am Ende des 13. Jahrhunderts ein Drittel der Stadt zum Lehnsbereich des Ordens. Er herrschte dort unumschränkt, und zahlreiche Bauleute konnten frei von Lasten des Königs oder der Stadt arbeiten. Mit der Auflösung des Ordens 1312 hörte der Einfluss der Templer auf die Handwerke jedoch nicht auf, denn alle Privilegien gingen auf den Hospitaliter-Orden über, der sie über Jahrhunderte hinweg aufrecht erhielt. Diese ‚Francs Métiers’ der Templer, die übrigens Laiengenossenschaften waren, verschwanden also nicht mit ihm, sondern wurden mehrfach vom König in ihren Privilegien bestätigt. In England scheinen sie, wenigstens bei den Maurern, den gesamten Berufsstand erfasst zu haben, so dass die Bezeichnung als ‚Freimaurer’ für den Beruf schlechthin in Gebrauch kam.“
Die Namensherleitung ist weniger interessant als die Kontinuität der organisierten Bewegung, von der Naudon ein paar Seiten vorher schreibt: „Nach der Unterwanderung der operativen Bauhütten durch nichtoperative Elemente, die sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts allmählich vollzogen hatte, entstand die heutige spekulative Freimaurerei.“ Es ist bemerkenswert, dass er sich hier des Wortes „Unterwanderung“ bedient, und die Freimaurer haben nicht bloss „Handwerksgenossenschaften“ unterwandert, sondern alle gesellschaftlich relevanten Bereiche. Dass die Hospitaliter die Erben der Templer wurden ist aufschlussreich, denn dieser Ritterorden hatte sich seit seiner Gründung der Pflege kranker Pilger gewidmet und damit den Wohltäter überzeugend gespielt. Das passt sehr gut zu Henri Dunant, dem Genfer Freimaurer, „der sein ganzes Leben in den Dienst der leidenden Menschheit gestellt“ und das „Internationale Rote Kreuz“ gegründet hat – eine bessere Tarnorganisation für die eigenen Spione lässt sich nicht denken, im Namen der Humanität kommen sie überall hin und können die Auswirkungen der von ihnen angezettelten Desintegrations- und Destabiliserungsmaßnahmen aus nächster Nähe verzeichnen.
Ich will noch der „Freiheitshelden“ gedenken, die Lateinamerika in die Unabhängigkeit von Spanien und Portugal führten und in die Abhängigkeit von den USA, welche sich vorausblickend schon bei ihrer Gründung „Vereinigte Staaten von Amerika“ nannten. Den „Kaiser von Brasilien“ habe ich schon genannt, und von Francesco Miranda, der von 1752 bis 1815 gelebt hat, schreibt Naudon: „Bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung hatte Francesco Miranda. Er war in den USA Freimaurer geworden und hatte während der französischen Revolution unter General Dumouriez gekämpft. Von London aus gründete er um 1795 ein ‚Gran Reunión Americana’. Er führte zahlreiche südamerikanische Befreier der Freimaurerei zu, so Simon Bolivar (1783 bis 1830) aus Caracas, José de San Martin (1778 bis 1850), der Chile und Peru befreite, sowie Bernard O’Higgins (1778 bis 1842), den Helden der chilenischen Unabhängigkeit.“ Von Bolivar erfahren wir noch, dass „er trotz seiner Zugehörigkeit zum Freimaurerbunde 1828 in Venezuela wegen einer gegen ihn geplanten Verschwörung alle geheimen Gesellschaften einschließlich der Logen verbot. Erst 1838 konnten die Logen wieder arbeiten und 1839 eine Großloge der Staaten von Venezuela gründen.“ Über die Hintergründe dieser „Verschwörung“ macht Naudon keine Angaben, sodass wir wieder auf Vermutungen angewiesen sind. Wie in dem Fall von Zar Alexander I. könnte es sich um die Ausschaltung von unbotmäßig gewordenen Gruppen innerhalb der Freimaurerei gehandelt haben, denn genauso wie es innerhalb der „Kommunistischen Parteien“ so genannte „Abweichler“ gab, die zu bekämpfen waren, obwohl sie sich auf den „Kommunismus“ beriefen, muss es solche auch bei den Bundesbrüdern gegeben haben, und wenn sie starrsinnig waren, wurden sie eliminiert.
Am Rande will ich auch noch die „Helden des italienischen Freiheitskampfes“ erwähnen, an erster Stelle „Giuseppe Mazzini (1805 bis 1872), einen der Helden des italienischen Freiheitskampfes. Er wurde 1830 im Gefängnis von Savona von dem Freimaurer und Carbonaro Passano zum Freimaurer aufgenommen. Seine Kampfgefährten waren Garibaldi, Lemmi und Mazzoni.“ Von Garibaldi heisst es: „Giuseppe Garibaldi (1807 bis 1882) war ein Vorkämpfer für die Freiheit der Völker, ein ‚Ritter der Menschlichkeit’, wie Mazzini ihn nannte, und der Baumeister der Einigung Italiens. Im Jahre 1833 wurde er Carbonaro und Freimaurer 1844 in einer Winkelloge in Montevideo. Nachdem er 1862 in den 33. Grad erhoben worden war, wurde er Großmeister in Palermo und 1864 Großmeister der gesamten italienischen Freimaurerei.“ Garibaldi und Mazzini waren sowohl Freimaurer als auch Carbonari, und trotzdem schreibt Naudon: „Die Verbindungen der Freimaurer zu den Carbonari bleiben indessen ungeklärt und widersprüchlich.“
Das ist wieder einer der Arschtritte, die der Autor dem Leser zu geben beliebt, und was für die Logenbrüder vielleicht komisch sein mag, ist für mich nicht zum Lachen. Denn der Satz könnte auch lauten: „Die Verbindungen der Freimaurer zur Mafia bleiben indessen ungeklärt und wiedersprüchlich.“ Ich erinnere an die Aktivitäten der „Loge P2“ im Italien der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts und daran, dass das von den Templern erfundene, von den Jesuiten ausgebaute und von den Freimaurern übernommene Organisationsmodell so genial ist, dass es für so unterschiedlich wirkende Gruppierungen wie der Kaderpartei von Lenin und dem „Orden unter dem Totenkopf“ von Himmler getaugt hat.
Der Übersetzter und Bearbeiter des Buches von Naudon, Dr. H.-H. Solf schreibt im Vorwort zu einer belanglosen Frage (nach den Gründen, warum „der Gelehrte Elias Ashmole um 1650 Mitglied einer noch operativen Loge“ gewesen sein soll): „Kritische freimaurerische Forscher wie Knoop und Jones und schon früher Bergemann haben die Blütenträume der Esoteriker, Neu-Rosenkreuzer und Mystiker aller Schattierungen durch ein klares ‚Ignorabimus’ zerstört.“ Der Zusammenhang ist für den uneingeweihten Leser nicht nachvollziehbar, aber der Hohn, der in dem Wort „Ignorabimus“ steckt, ist nicht zu übersehen, denn was wörtlich heisst „Wir werden es niemals wissen“, ist hier so zu verstehen: „Ihr werdet es niemals wissen“ – nämlich, was wir so treiben, und das bezieht sich auf die Uneingeweihten. Aber darin täuschen sich diese Spötter und in ihrem Übermut hinterlassen sie zu viele Spuren.
Den Gipfel der Frechheit erreicht Naudon da, wo er seine Baustelle verwechselt mit dem „Neuen Jerusalem“, der „Braut des Lammes“, wie sie in der Apokalypsis von Johannes auf Patmos geschaut worden ist. „Gleichlaufend mit den Bezügen auf das Alte Testament und die soeben erwähnten Legenden (den Hiram betreffend) finden wir die Benennung der Logen der ersten drei Grade als symbolische oder Johannislogen, das heisst der Idealtempel Salomons wird häufig in Verbindung gebracht mit dem Himmlischen Jerusalem, wie es in der Apokalypse angekündigt wird.“ Dort heisst es ausdrücklich, dass diese erneuerte Stadt aus den erneuerten Himmeln auf die erneuerte Erde wie eine geschmückte Braut hinabsteigt, was im antagonistischen Widerspruch steht zu dem Bestreben, diese oder irgendeine andere Stadt von der alt gewordenen Erde in die alt gewordenen Himmel hinaufbauen zu wollen. In der Bibel ist eine solche Unternehmung sehr wohl bekannt, und sie nennt sich „der Turmbau zu Babel“, als dessen Folge sich jedes Mal nur ergibt, dass sich die Menschen nicht mehr miteinander verständigen können.
Die Tore des Neuen Jerusalem sind immer offen, aber Lügner und Betrüger können nicht hineingehen, die Strahlungskraft stößt sie ab. Wer sich aber von dieser durchdringen und läutern lässt, der kommt hinein und trifft andere Pilger, und die Verständigung ist kein Problem mehr.

Zum Schluss will ich noch kurz auf das Thema „die Freimaurerei und die Frau“ zu sprechen kommen. Es war die französische Freimaurerei, die als erste auf den Gedanken kam, so genannte „Adoptionslogen“ zu gründen, in die Frauen aufgenommen wurden, die erste wurde um 1760 gebildet und unterstand wie die späteren und auch in anderen Ländern gegründeten der Aufsicht der männlichen Logen. Das Jahr 1893 brachte die erste „gemischte Obödienz“ in Frankreich hervor mit dem Namen „Le Droit Humain“ (das Menschenrecht). „Obwohl sie von den übrigen französischen Großbehörden nicht anerkannt wurde“, war sie erfolgreich, und „die berühmte Theosofin Annie Besant, die in Paris dem Droit Humain beigetreten war, gründete 1902 die erste gemischte Loge in England.“ Nur wenig später gab es auch rein weibliche Logen, man war mit der Zeit gegangen wie bei den Schwarzen in den USA, die bereits 1791 eine eigene Loge bekamen.
Die Durchdringung aller gesellschaftlich relevanten Bereiche ist ein Grundmotiv des Ordens, und folglich ist die Einbeziehung der Frauen und der Schwarzen nicht weiter verwunderlich. Überraschender dagegen wirkt auf den ersten Blick die Leichtigkeit, mit der eine Frau wie Annie Besant zugleich „eine irische Sozialistin“, eine „Theosofin“, eine Freimaurerin“ und eine „Freiheitskämpferin für Indien“ sein kann. Von Louise de Keroualle, Herzogin von Portsmouth, die von 1649 bis 1734 gelebt hat, sagt Naudon: „Die Herzogin war die Geliebte von König Karl II. (von England) und zugleich politische Agentin von König Ludwig XIV. (von Frenkreich). Sie nahm die Loge d’Aubigny bei sich auf.“ Und mir haben sie auch einmal eine Spionin geschickt, die hatte sich als Patientin verkleidet, weil anders an mich nicht mehr heranzukommen war, nach der Sache mit dem Herrn X war ich misstrauisch geworden. Ich hatte mir immer eine Spionin gewünscht, aber die Auswahl fand nicht mein Gefallen, denn diese Frau, von Beruf Werbe-Managerin, die mir anbot, meine unverkäuflichen Produkte erfolgreich zu vermarkten, war zwar äusserlich elegant, aber in meinen Augen so hässlich, dass sie, nachdem ich sie durchschaut hatte, nicht mehr zu mir vordringen konnte.

Hier noch eine Meldung aus der Süddeutschen Zeitung vom 9. März 2007: „Die Hauptverdächtigen haben angeblich schon alles gestanden. Chalid Scheich Mohammed, der mutmaßliche Chefplaner der Anschläge vom 11. September 2001, soll zugegeben haben, dass er noch viel mehr Flugzeuge entführen wollte als nur vier. In einer gekaperten Maschine, so hatte er sich das vorgestellt, wäre er auf dem Rollfeld eines US-Flughafens gelandet und hätte eine Rede gehalten. Zuvor hätten neun entführte Flugzeuge in US-Ziele eingeschlagen, danach hätte der Scheich mit seiner Brandrede die Nahost-Politik der USA attackiert. Scheich Mohammed und sein Mitstreiter Ramsi bin al-Schibb haben sich in US-Vernehmungen angeblich dazu bekannt, die Verschwörung vom 11. 9. mit Billigung von Al-Qaida Chef Osama bin Laden in allen Einzelheiten geplant zu haben. An diesem Freitag nun sollen im US-Lager Guantanamo Anörungen über den rechtlichen Status von 14 hochrangigen mutmaßlichen Al-Qaida-Mitgliedern beginnen, unter ihnen Scheich Mohammed und bin al-Schibb. Die 14 waren im vergangenen September von US-Präsident George W. Bush aus Geheimgefängnissen der CIA nach Guantanamo gebracht worden. In den Anhörungen soll nun darüber entschieden werden, ob sie als ‚feindliche Kämpfer’ gelten und als solche vor Sondertribunalen des US-Militärs angeklagt werden können. Den Verdächtigen steht kein Anwalt zur Seite, die Anhörungen sind geheim. Lediglich ein überarbeitetes und anonymisiertes Protokoll wird veröffentlicht. – Fest steht jedenfalls, dass den mutmaßlichen Strippenziehern des Terrors vom 11. September vorerst kein Prozess vor einem ordentlichen US-Strafgericht gemacht wird. Bei ihren hochrangigen Al-Qaida-Verdächtigen beharrt die US-Regierung darauf, dass die übliche Strafgerichtsbarkeit nicht angemessen ist. Die angeblichen Geständnisse von Scheich Mohammed und bin al-Schibb wurden in Auszügen von der 9/11-Kommis-sion veröffentlicht, welche die Terroranschläge mit mehr als 3000 Toten untersucht. Der Wert dieser Geständnisse ist allerdings zweifelhaft. Viele Beobachter vermuten, dass die Verdächtigen unter Folter gestanden haben. Vor einem rechtsstaatlichen Gericht hätten die Selbstbezichtigungen daher keinerlei Wert. Zudem würde der US-Regierung dann peinliche Enthüllungen über die Methoden im Anti-Terror-Kampf drohen. Aus diesem Grund sind nun wohl auch die Guantanamo-Anhörungen geheim. Ein Vertreter der New Yorker Anwaltsvereinigung, Scott Horton, sagte: ‚Sie wurden gefoltert und misshandelt, und diese Tatsache wird zum Geheimnis erklärt’.“
Nachdem ich (in Band 26) das Lügengespinst um die Figur Martin Luthers bereits aufgedeckt habe, wende ich mich nunmehr noch der Gestalt von Johannes Calvin zu; als Grundlage dient mir die Biografie von Bernard Cottret, deutsche Ausgabe Stuttgart 1998. Die Zweifel beginnen schon mit dem Namen, sein Vater hieß Girard Cauvin, was Cottret von dem lateinischen Wort Calvinus ableitet, ohne dessen Bedeutung zu erklären. Im „Langenscheidt Handwörterbuch Lateinisch-Deutsch“ ist Calvinus jedoch nicht zu finden, sondern nur die Wörter Calva, das ist der Schädel, Calvaria, die Schädelstätte (Gulgoläth auf hebräisch), Calvus, Kahl, Calvitium, Glatzkopf, und Calvor, Hintergehen. Vom Vater unseres Helden sagt Jaques Desmay (im Jahr 1614), er sei „ein verschlagener Mann von schlauem und listenreichem Verstand, wohlbewandert in Rechtsstreitigkeiten, jedoch ein großer Schelm“ gewesen, und in seinen „Annalen der Kirche von Noyon“ schreibt Le Vasseur 1633 von ihm: „Er mischte sich überall ein und trachtete sehr nach Geschäften, sodass diese ihm zuliefen und ihn schließlich überlasteten, da jeder sich eines Mannes bedienen wollte, der so viel Talent zu dieser Art Fechtkunst besaß und dem es an Sorgfalt so wenig mangelte wie an Fantasie. So wurde er denn apostolischer Notar, Steuerverwalter der Grafschaft, Kirchengerichtsschreiber, sekretär des Bistums und Promotor des Kapitels.“ Vermutlich wegen Korruption wurde er exkommuniziert, und seine Familie konnte nur mit großer Mühe und Not ein christliches Begräbnis erreichen.
Im Hintergehen und Täuschen scheint mir sein Sohn nicht weniger bewandert gewesen zu sein, und schon von seiner Schulzeit gibt es Zeugenaussagen, nach denen er ein Streber und Denunziant war. Nach dem Abschluss seines Studiums der Rechtswissenschaften ist er für einige Jahre ungreifbar – „Calvin ist ständig in Bewegung, wechselt den Standort, bleibt unbegreiflich. Die schiere Flüchtigkeit seiner Existenz ist für sich bereits Ausdruck einer bestimmten Geisteshaltung.“ Geboren wurde er im Jahr 1509 zu Noyon, im Norden von Frankreich, seine Mutter starb, als er sechs Jahre alt war, und er machte eine erstaunliche Karriere. Im Vorwort zu seinem Psalmenkommentar aus dem Jahr 1557 schreibt er unter anderem: „Ganz verblüfft nun war ich, dass, noch ehe das Jahr (nach seinem nicht näher erklärten ‚Bekehrungserlebnis’) um war, alle diejenigen, die nach der reinen Lehre Verlangen trugen, zu mir kamen und von mir lernen wollten, der ich doch selber noch im Anfang stand. Ich meinerseits, von Natur aus etwas menschenscheu und schüchtern, habe stets Ruhe und Abgeschiedenheit geliebt und begann, mir ein kleines Versteck zu suchen, das es mir gestattete, mich vor den Menschen zurückzuziehen; aber weit davon entfernt, an das Ziel meiner Wünsche zu gelangen, wurden mir im Gegenteil alle Zufluchtsorte und abgelegenen Plätze zu öffentlichen Schulen. Kurz, obschon ich immer im Sinn hatte, unbekannt als Privater zu leben, hat Gott mich durch allerlei Umwege und Kehrtwendungen dergestalt geführt, dass er mich gleichwohl nirgendwo Ruhe finden ließ, bis dass er mich entgegen meiner Veranlagung ans helle Licht gezogen hat und mich, wie man so sagt, ins Spiel hat kommen lassen.“
Der Stil ist zwar geschliffen, doch kann er die Heuchelei nicht verdecken, und was Calvin Gott nennt, das ist sein eigenener brennender Ehrgeiz; denn wenn er sich wirklich hätte zurückziehen wollen, dann hätte er es auch getan. „Wenn es heutigentags Menschen gibt, die mit einigem Geist geboren werden, so werden sie vom Drang nach Berühmtheit verzehrt und wetteifern miteinander in ihrer Ungeduld, sich bei der Nachwelt einen Namen zu machen; sie veröffentlichen die Früchte ihrer Talente ohne Besinnen und Einsicht“ – so schreibt er 1532 in seinem Kommentar zu Seneca. Und was ihn von denen unterscheidet, die er hier meint, ist nicht sein fehlender Drang nach Berühmtheit, sondern sein „besonnenes und einsichtiges“ Vorgehen. Im Gegensatz zu dem Polterer Luther, der nicht wusste, auf welchem Spielfeld er eingesetzt war, und unter der Obhut seines Betreuers, dem Kurfürst von Sachsen, stand, scheint mir Calvin mit seiner ganz bewusst kalkulierten und durchkonstruierten Heuchelei ein Eingeweihter gewesen zu sein. Um zu verstehen, worum es im 16. Jahrhundert ging, muss ich die Großwetterlage beschreiben: seit 400 Jahren hatte die Kirche vergeblich versucht, der Ketzerei Herr zu werden, trotzdem sie dafür die scheusslichsten Mittel einsetzte, denn zu krass waren die Gegensätze zwischen dem Evangelium und der Praxis der Kirche. Und es war auch nicht gelungen, die Widersprüche in die Kreuzzüge abzulenken, die sich anfangs gegen die Muslime richteten und dann gegen Feinde im Inneren, angefangen mit den Katharern. Man war daher zu dem Schluss gekommen, die Kirchenspaltung kontrolliert durchzuführen, und zwar in Gestalt der Hervorbringung von „Konfessionen“, die zu den Religionskriegen führten; und mit diesen sind die unbequemen Menschen endlich verschwunden, die sich auf den Heiligen Geist beriefen und auf die Freiheit der zweiten Geburt.
Den Religionskriegen ging die Hexenverfolgung voraus, und es war einer der „Renaissance-Päpste“, der sie eröffnete, Innozenz VIII., der von 1484 bis 1492 in Rom residierte. Er nahm nicht nur am Aufbau der Inquisition in Spanien lebhaften Anteil, sondern verfasste auch die Bulle „Summis desiderantes affectibus“, die „Hexen-Bulle“ (in seinem ersten Amtsjahr); und die Kölner Dominikaner Institoris und Sprenger verfassten 1489 die dazu gehörige Prozeßordnung und nannten sie „Malleus Maleficarum“ – „Hexen-Hammer“. Und nur wer dem trügerischen Schein glaubt, die Konfessionen hätten sich um des wahren Glaubens willen bekämpft, den mag es vewundern, dass alle drei goßen „Bekenntnisse“, die Katholiken, die Lutheraner und die Calvinsiten, in der Hexenverfolgung einer Meinung waren und sie dementsprechend auch praktizierten. Hinter der Hexenverfolgung und der Glaubensspaltung stand ein einheitliches Konzept, nämlich die These von der Weltverschwörung des Satans, und während die Satanisten den Krieg an zwei Fronten entfachten, erreichten sie ihre Ziele, die Einführung des Zinses, den absoluten Staat, die Auslöschung der freien Geister und den allgemeinen Überdruss an der Bibel durch das Theologen-Gesockse.
Zum Zeitpunkt der „Reformation“ durch Martin Luther saß ein Bankierssohn auf dem Stuhl Petri, Leo X. aus dem Haus Medici, und wenn er und sein Nachfolger Klemens VII. (aus derselben Familie) nicht mit dem König von Frankreich, Franz I., und über ihn mit den Protestanten in Deutschland und in der Schweiz, ja sogar mit den Heiden paktiert hätten, die von der Türkei nach Österreich und von Algier nach Spanien und dem damals zu ihm gehörenden Süditalien koordinierte Angriffe vortrugen, wäre die Reformation nie hochgekommen und Karl V. hätte sein Ziel, die anachronistisch gewordene Einheit Europas in einer allen gemeinsam gebliebenen Kirche erreicht. Es war aber die Zerspaltung geplant, nicht nur die in Konfessionen, sondern auch die in Nationen, und nach dem Absinken des Glaubens auf den Nullpunkt schlossen sich die Nationalkriege lückenlos an die Religionskriege an. Eine wohl organisierte und international agierende Gruppierung war in dieser Situation allen anderen Beteiligten natürlich weit überlegen und setzte sich auf der ganzen Linie durch.
Das Ausmaß der Heuchelei bei den Machern ist fast unvorstellbar -- wer kann die kunstsinnigen Päpste verstehen, die Millionen von Frauen auf Jahrhunderte der grausamsten Vergewaltigung und Ermordung auslieferten, und wer ihre protastantischen Gesinnungsgenossen? Oder nehmen wir Franz I., den „Schirmherren der gallikanischen Kirche“, der mit den Protestanten im Ausland konspirierte und sie in seinem eigenen Land als Ketzer verfolgte. Von Klemens VII. wurde er über die Maßen hofiert und „Allerchristlichster König“ genannt (obwohl er mit Mächten paktierte, die in der offiziellen Lesart der römisch-katholischen Kirche Ketzer und Heiden waren), und seinen Sohn, den späteren Heinrich II., verheiratete er mit einer Nichte des Papstes, mit Katharina von Medici, deren Name für immer mit dem Massaker von 1572 in Paris verbunden ist, der so genannten „Bartholomäus-Nacht“.
Franz I. schürte die Religonskriege auf diabolische Weise, und nur ein Beispiel dafür will ich hier geben. Es handelt sich um die so genannte „Plakat-Affäre“ vom Oktober 1534, von der Cottret schreibt: „Das Geschehen trug provokatorische Züge: In Paris, in Orleans, in Amboise und sogar in Blois, an der Tür des königlichen Schlafgemaches, wurden ‚wahrheitsgetreue Artikel über die schrecklichen, großen und schwerwiegenden Missbräuche der päpstlichen Messe, welche gerade wider das heilige Abendmahl Jesu Christi erdacht ist’ angeschlagen.“ Der Skandal ist riesengroß, und Franz veranstaltet pompöse Sühneprozessionen, um die Verzeihung Gottes für diesen Frevel zu erflehen, während er gleichzeitig mit ebensolchen Frevlern im In- und Ausland konspiriert. Das Plakat an seiner eigenen Schlafzimmertür hat sicher sein Diener dorthin gehängt. Es wurden scheinbar Schuldige gefunden und hingerichtet, die nach der Folter alles gestanden, aber dem eigentlich Verantwortlichen, Antoine Marcourt, scheint nichts geschehen zu sein, jedenfalls ist davon nichts zu hören. Er hatte die Messe als „blasfemisch und götzendienerisch“ bezeichnet und geschrieben: „Durch diese unselige Messe hat man so gut wie die ganze Welt zum öffentlichen Götzendienst angestiftet, indem man fälschlich zu verstehen gab, dass unter den Gestalten von Brot und Wein Jesus Christus körperlich, wirklich und tatsächlich enthalten und verborgen ist.“
Einer möglichen Versöhnung zwischen den Konfessionen hat Calvin immer entschieden entgegengewirkt, wie aus einer Amnerkung von Cottret hervorgeht: „Der Hagenauer Landtag von 1540 wie auch der Regensburger Reichstag von 1541 bemühen sich vergebens um die von Karl V. gewünschte Annäherng von Katholiken und Protestanten. Der Papst lässt sich in Regensburg von Gaspard Contarini vertreten, während die Gegenpartei Bucer und Melanchthon entsendet. Calvin, immer auf der Hut, misstraut den Kompromissen und lehnt die vorgeschlagenen Formeln zur Eucharistelehre wegen ihrer Zweideutigkeit ab: Man dürfe sich nicht ‚mit einem halben Christo’ begnügen. Er nimmt nie wieder an einem derartigen Treffen zwischen Katholiken und Protestanten bei.“ Ein letzter Versuch zum Ausgleich der Standpunkte zwischen den zwei Parteien in Frankreich war das Religionsgespräch von Poissy 1555, und danach brachen die insgesamt acht „Hugenottenkriege“ im Land aus. Der Abgesandte Calvins aus Genf, Theodore de Bèze, hatte gleich zu Beginn eine unversöhnliche Haltung eingenommen, indem er verkündete: „Der Leib Christi ist von Brot und Wein ebenso weit entfernt wie der höchste Himmel der Erde nah ist.“
Das stimmt überein mit der Auffassung von Calvin, die „zwei Naturen“ Jesu Christi, seine göttliche und seine menschliche, über die sich schon die Krichenväter zerstritten, seien „separat zu betrachten“, wozu Cottret bemerkt: „Auffällig ist, wie sehr er darauf bedacht ist, die ‚zwei Naturen’ radikal auseinanderzuhalten“. Es geht hier nur scheinbar um religiöse Spitzfindigkeiten, denn die Gedankenwelt Calvins hat einschneidende Folgen. Cottret spricht von der „Entzauberung der Welt“, die mit dem Siegeszug des Calvinismus einherging; und tatsächlich wurde alles Göttliche vom Menschlichen und Natürlichen bis zu dem extremen Grad abgegrenzt, dass es auf Erden nichts Heiliges mehr gab und damit alles entheiligt und missbraucht werden konnte. Es gab keine heiligen Orte mehr, denn die Wallfahrt wurde verboten, es gab auch keine heiligen Quellen mehr, denn ihre Verehrung wurde als abergläubisch bekämpft. Cottret fasst zusammen: „Kurz, sein ganzes Denken läuft auf die Ablehnung der Analogie hinaus. Betont er in seiner Theologie das Anderssein des Schöpfergottes, so steht seine Auffassung von Christus als dem Erlöser oder vom Sakrament jeder Vermischung der Substanzen entgegen. Jesus ist wahrer Gott und wahrer Mensch, doch die Attribute seiner Göttlichkeit berühren sein Menschsein nicht. – Es gibt keinerlei Vermischung zwischen dem Brot und dem Leib, dem Blut und dem Wein des heiligen Abendmahls, ganz so, wie auch die Menschennatur Christi seine Göttlichkeit nicht umfasst.“ Die Vermischung (Mélange) ist für Calvin das Grundübel, und er maßt sich an, die Welt und die Menschen durchgängig in rein und unrein zu spalten.
Im März 1548 „richtet die Dame Grante heftige Ausfälle gegen Calvin. Die Alte hat nicht mehr viel zu verlieren, und mit dem Freimut, den das Alter verleiht, beharrt sie vor dem Konsistorium auf ihrem Standpunkt.“ Das war im Stadtstaat Genf, wo Calvin die Atmosfäre bestimmte und ein Menschenexperiment größeren Ausmaßes durchführte. Vor dem „Konsistorium“ mussten sich alle diejenigen verantworten, die wegen eines „unordentlichen Lebens“ denunziert worden waren, Calvin hatte Blockwarte zur Bespitzelung aufgestellt, die er „Älteste“ nannte. Und „die Dame Grante“ äusserte vor der gestrengen Versammlung, die zur Exkommunikation und Hinrichtung der Verstockten befugt war, über Calvin, „dass er nicht lebe, wie er es predige, und dass er niemals Liebe in seinem Herzen gefunden, vielmehr stets gehasst habe.“ Damit hat sie vollkommen recht, denn wenn Calvin jemals einen Menschen geliebt hätte, wäre er nicht imstande gewesen, das Göttliche und das Menschliche dermaßen säuberlich voneinander zu trennen; für den Liebenden ist das geliebte Wesen eine wunderbare Mischung von göttlich und menschlich, denn er richtet sich nach der Aussage von Dostojewski: „Ein anderes Wesen zu lieben bedeutet, es so zu sehen wie Gott es gemeint hat.“
Calvin sagt von sich selbst: „Ich gehöre nicht zu der verrückten Art von Liebhabern, die auch die Fehler ihrer Geliebten preisen, wenn sie einmal von der Schönheit hingerissen sind. Das ist die einzige Schönheit, die mich anlockt, wenn sie züchtig ist, gehorsam, nicht hochmütig, sparsam, geduldig, wenn ich auch hoffen darf, dass sie zu meiner Gesundheit Sorge trägt.“ Cottret kommentiert dieses Bekenntnis mit den Worten: „Die Argumentation klingt mindestens so sehr nach Stellenvermittlung wie nach Heiratsanzeige.“ 1540 heiratete er in Straßburg eine Witwe und Mutter zweier Kinder, und wir hören: „Die Flitterwochen waren von kurzer Dauer. Nach Ablauf von sechs Wochen sandte der Herr durch seine Vorsehung dem Paar eine Krankheit, um zu verhindern, dass sie womöglich in den Hedonismus abglitten“ – es ist die Pest, die in der Stadt wütet. Im Juli 1540 habe sich Calvin auf dem Hagenauer Landtag aufgehalten, im März 1541 in Regensburg, und „im Juli kehrt er nach Strassburg zurück, verweilt aber dort nur einige Wochen, bevor er sich ein zweites Mal nach Genf begibt.“ Er lässt also seine Frau mit ihren zwei Kindern schon bald nach der Hochzeit im Stich, um seinen Geschäften nachzugehen, die ihm wichtiger sind als alles sonst auf der Welt.
„1542 wird er in Genf (nach seiner Übersiedlung von Straßburg) von neuem mit der Seuche konfrontiert. Die Pastoren sind besonders gefährdet, weil die Sterbenden nach ihrem Beistand verlangen, und Calvin schreibt an seinen Vertrauten Pierre Viret: „Die Pest beginnt hier vermehrt zu wüten, und von denen, die sie befällt, kommen nur wenige davon. Wir haben einen aus dem Kreis unserer Mitbrüder wählen müssen, dass er den Kranken beistehe. Pierre Blanchet hatte sich selber angeboten, und so haben alle bereitwillig zugestimmt, ihn gehen zu lasssen. Wenn ihm Übels zustieße, so fürchte ich sehr, dass alsdann die Reihe an mir wäre, mich der Gefahr auszusetzen. Wenn wir, wie Ihr sagt, jedem einzelnen Glied der Kirche etwas schuldig sind, so können wir jene nicht im Stich lassen, die zuvörderst die Dienste unseres geistlichen Amtes beanspruchen. Und dennoch bin ich nicht der Meinung, dass wir, um einem Teil der Kirche zu Diensten zu sein, die ganze Kirche vernachlässigen sollen.“ Er fürchtet offensichtlich um seine Person, die er für unentbehrlich zu halten scheint, und wir hören weiter: „Im darauffolgenden Jahr zeigt sich der Rat zu Genf besorgt, wie wenig eilig es die Geistlichen haben, wenn es darum geht, die Sterbenden aufzusuchen, und wie sehr es ihnen umgekehrt pressiert, ihre pastoralen Aufgaben Laien zu übertragen. Im Mai 1543 droht man sogar mit der Amtsenthebung der störrischen Pastoren. Am 1. Juni muss der Posten des Anstaltsgeistlichen am Hopital Plainpalais neu besetzt werden. Monsieur Calvin wird vom Rat von vornherein aus dem Kreis der Kandidaten ausgeschlossen, ‚weil er sich abmüht, innerhalb der Kirche seinen Dienst zu tun und allen, die des Weges kommen, Antwort zu geben’.“
Um nicht in den Ruf eines untätigen Drückebergers zu kommen, wegen dem der Fluch Gottes in Gestalt der Pest die Stadt trifft, deren Führer er ist, muss er etwas unternehmen, zumal kein Ende der Seuche zu sehen ist. „Man entdeckt, dass ein gewisser Bernard Dallinges und sein Gehilfe Dunant mit dem Beinamen ‚Lentille’, Leberfleck, einen Fuß vom Leichnam eines Gehenkten abgetrennt und mit Pestgift bestrichen hätten; die Paste habe man anschließend benutzt, um die Türschlösser mehrer Häuser zu beschmieren.“ Man kann es der Aussage ansehen, dass sie gefälscht ist und unter der Folter erpresst, während welcher Dunant-Lentille stirbt; und um die aufgeschreckten Bürger zu beruhigen, „werden mehrere Personen beiderlei Geschlechts verhaftet, darunter ein Barbier und ein Krankenpfleger, die einen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben.“
Eine gewisse Feigheit zeichnet Calvin aus, und sie äussert sich auch in dem Bericht, den er von seiner ersten Berufung nach Genf gibt. Nachdem er 1536 die erste Fassung seines Hauptwerkes, der „Institutio religionis Christianae“, herausgebracht hat, schreibt er von sich selbst: „Dass ich aber keineswegs die Absicht hatte, mich zu zeigen und Aufmerksamkeit zu erregen, das gab ich schon dadurch klar zu erkennen, dass ich mich bald darauf von dort entfernte (es bleibt unklar, worauf das dort sich bezieht), ganz abgesehen davon, dass dort niemand wusste, dass ich der Autor jendes Werkes sei, denn hier wie auch sonst überall habe ich dies durch nichts zu erkennen gegeben“. Durch nichts hat er klar zu erkennen gegeben, welch brennender Ehrgeiz ihn antrieb, da er um jeden Preis den Bescheidenen spielt, doch hören wir weiter: „Und hatte ich erwogen, in gleicher Weise fortzufahren, bis Maitre Guillaume Farel mich schließlich in Genf zurückhielt, nicht so sehr durch Rat und Ermahnung als vielmehr durch eine furchtbare Verwünschung, als ob Gott von oben herab die Hand über mich ausgestreckt hätte, um mich festzuhalten. Da mir der direkte Weg nach Strassburg, wohin ich mich damals zurückzuziehen gedachte, durch die Kriegswirren versperrt war, so hatte ich vorgehabt, hier rasch durchzureisen, ohne mich länger als eine Nacht in der Stadt aufzuhalten. Nun war erst kurz zuvor durch das Wirken jenes wackeren Mannes, den ich genannt habe, und durch dasjenige Maitre Pierre Viret der Papismus von dort vertrieben worden; doch waren die Verhältnisse noch ungeordnet, und es herrschten schlimme und gefährliche Spaltungen und Parteiungen unter den Bewohnern der Stadt. Da erkannte mich jemand und setzte sogleich die andern ins Bild. Daraufhin tat Farel, vor herrlichem Eifer glühend, die Sache des Evangeliums zu fördern, was nur in seinen Kräften stand, um mich dort festzuhalten. Und nachdem er gemerkt hatte, dass ich mich für bestimmte Studien freihalten wollte, und als er sah, dass er mit Bitten nichts ausrichten konnte, da ließ er sich zu der Verwünschung hinreissen, es möge Gott gefallen, seinen Fluch auf die ruhigen und beschaulichen Studien zu senden, nach denen ich trachtete, wenn ich mich in einer so großen Notlage davonmachte und Beistand und Hilfe verweigerte. Welches Wort mich derart in Schrecken und Erschütterung versetzte, dass ich von der begonnenen Reise Abstand nahm; freilich so, dass ich mich im Bewusstsein meiner Verschämtheit und Schüchternheit keineswegs zur Ausübung irgendeines Amtes verpflichten wollte.“
Dieses Amt hat er dann natürlich doch übernommen, und dies ist eine höchst merkwürdige Geschichte, besonders die Stelle: „Da erkannte mich jemand und setzte sofort die andern ins Bild.“ Ich kann sie mir nur dadurch erklären, dass Calvin einem Bund angehörte, dessen Mitgleider sich gegenseitig „Beistand und Hilfe“ geschworen hatten, und dass Calvin, der es zu jener Zeit möglicherweise wirklich noch bevorzugt hatte, mehr theoretisch als praktisch tätig zu sein, von einem Ordensobersten mit „einer furchtbaren Verwünschung“ bedroht worden ist, die sich aber weniger als auf die Macht des verborgenen Gottes auf die Sanktionen des Ordens im Fall der Gehorsamsverweigerung verlässt. Und Calvins Zugehörigkeit zu solch einem Orden würde auch erklärlich machen, wovon er die Jahre seiner Wanderzeit gelebt und sein Erstlingswerk finanziert hat, seinen „Kommentar zu Senecas De Clementia“ von 1532, mit dem er sich einen Namen unter den „Humanisten“ gemacht hat; Cottret teilt mit, er habe ihn auf eigene Kosten drucken lassen, und sein Verweis auf die kirchlichen Pfründe, die Calvin angeblich aus seiner Vaterstadt Noyon bezog, ist unglaubwürdig, da er selbst dort nie ein kirchliches Amt gehabt hat und sein Vater exkommuniziert worden war.
Dass es solche Gruppen gegeben hat und dass sie unter christlichen Namen firmierten, wie die Freimaurer in ihrer Anfangszeit auch, daran kann ich nicht zweifeln, und einen interessanten Hinweis auf die Zahl Dreiunddreißig, die bei den Logenbrüdern eine wichtige Rolle spielt – es ist die Anzahl der Grade ihrer so genannten Einweihung – fand ich in dem Buch von Cottret. Er nennt Francois Lambert, der von 1486 bis 1530 gelebt hat, einen „französischen Lutheraner“ und berichtet von dessen Buch mit dem Titel „Couronne de Notre Seigneur Jesus-Christ (Krone unseres Herrn Jesus Christus)“: „Der Autor zählt hier dreiundreißig Mysterien aus dem Leben Christi auf, deren jedes, wie es dem jeweiligen Tag angemessen ist, zum Gegenstand meditierender Betrachtung dienen soll, und zwar innerhalb eines sehr rituellen Rahmens von Eingangsgebeten und abschließenden Invokationen“; das letztere seien „Anrufungen Gottes“, wie uns der Autor erklärt, und diese Rituale sind bestimmt nicht von vereinzelten Personen durchgeführt worden.
Farel, der Calvin in Genf zurückhielt, so als sei er ein Gott, jendenfalls in Calvins Augen, brauchte dringend Unterstützung für das Experiment, das er mit der Bevölkerung der Stadt zu machen gedachte, und Calvin erschien ihm dafür hinreichend qualifiziert, was er durch seinen Einsatz bestätigt hat. Aber der erste Anlauf ging schief, in Genf hatte sich eine Opposition gegen die moralische Tyrannei der Puritaner gebildet, die das Tanzen und das Spielen verboten hatten, ja sogar das Singen und Musizieren ausser dem Psalmodieren; diese Opposition nannte sich „les enfants des Genève, die Kinder von Genf“, und brachte es fertig, Calvin im April 1538 wegen dessen rigoroser Exkommunikationspolitik aus der Stadt zu verjagen. Dieser behauptet, dass er sich nach seinem Weggang von Genf in Basel niederlassen wollte, aber wieder traf ihn ein „Bannfluch“, den er als den Ruf Gottes hinstellte, und er begab sich zu Bucerus nach Strassburg. Der „erkannte sofort das Ausmaß des Nutzens, den ‚seine’ Strassburger Reformation aus der Anwesenheit des reichbegabten Calvin ziehen konnte. Er braucht nur noch den edlen Vater, den Profeten oder Bannfluchschleuderer zu spielen, damit der beeindruckte Calvin die Leitung der französischen Gemeinde übernimmt. Es ist der gleiche Vorgang, der sich einige Jahre zuvor bei Calvins Amtseinsetzung in Genf abgespielt hatte. Bucerus wendet sich an Calvin, wie es vor ihm Farel getan hatte“ – so schreibt Cottret, und nicht umsonst gebraucht er zweimal das Wort „Spielen“. Die ganze Zeit über wird uns hier etwas vorgespielt, und wenn Calvin gesagt hat, dass Gott ihn habe ins Spiel kommen lassen, dann waren es in Wirklichkeit Menschen mit Einfluss, die ihn beriefen. Cottret zitiert den Reformator: „Der ausgezeichnete Diener Christi, Martin Bucer, bediente sich eines ähnlichen Verweises und Einspruchs, wie ihn vordem Farel angewandt hatte, und berief mich auf eine andere Stelle. Da mich jedoch das Beispiel des Jona, welches er mir vorhielt, in Schrecken versetzte, so setzte ich meine Lehrtätigkeit weiter fort.“
Im September 1538 schrieb Louis Du Tillet, ein ehemaliger Freund von Calvin, an diesen: „Ich bezweifle, dass Ihr Eure Berufung von Gott erhalten habt, seid ihr doch nujr von den Menschen gerufen worden“ – womit er ins Schwarze trifft. Als offener Lügner entlarvt sich Calvin mit seinem Geziere, ob er den Rückruf nach Genf, wo „die Kinder“ von seinen Gesinnungsgenossen zum Schweigen gebracht worden waren, annehmen soll oder nicht. Im Oktober 1540 ereilt ihn der Ruf zur Rückkehr in sein früheres Amt, doch Calvin gibt vor, sich in Strassburg gebunden zu fühlen. Dabei hat er schon im September 1539 auf eine Botschaft des Kardinals von Carpentras namens Jacopo Sadoleto an die Stadt Genf geantwortet, mit der jener sie zur Rückkehr in den Schoß der heiligen römischen Kirche und in das Herzogtum Savoyen, von dem sich die Reformatoren losgesagt hatten, zu locken versuchte. Der Kardinal „war der Inbegriff des Renaissancehumanisten“ und von daher alles andere als engstirnig, sodass sein Verführungsversuch nicht ganz ungefährlich erschien. Calvins „Epitre a Sadolet“ nennt Cottret „glänzend geschrieben“ und „einen der schönsten Texte des Pamfletisten Calvin“, und er führt aus: „Indem Calvin als Verteidiger Genfs auftritt, erwirbt er sich gewissermaßen den Adelsbrief“ – womit er sich die Gunst der öffentlichen Meinung in der Stadt seiner Träume erwerben will. Alles ist bei diesem Mann genau durchkalkuliert, und nichts überlässt er dem Zufall – so auch nicht seinen Auftritt in Genf bei seiner Rückkehr im September 1541: „Als ich vor das Volk trat, um zu predigen, ward ein jeglicher von großer Neugier ergriffen. Aber indem ich die Geschehnisse, deren Erwähnung alle gewisslich erwarteten, mit völligem Schweigen überging, legte ich in wenig Worten die Principia meines geistlichen Amtes dar; dann verwies ich, in Kürze und Takt, auf Glauben und Redlichkeit, die mich beseelten. Nach dieser Einleitung wählte ich zur Auslegung der Schrift die Stelle, an der ich seinerzeit aufgehört hatte. Dermaßen wollte ich zeigen, dass ich das Lehramt nicht sowohl niedergelegt als vielmehr nur für eine Weile unterbrochen hatte.“
Die Oppositon gegen ihn war zwar verstummt, aber nicht ausgerottet, und alsbald begann sie, sich wieder zu regen. Und jetzt enthüllt dieser Mensch sein furchtbares Antlitz, indem er seine Gegner mit allen Mitteln bekämpft, um sie am Ende ganz auszuschalten. Das Harmloseste war die Ausweisung, schlimmer waren die öffentlichen Demütigungen und erpressten Reuebekenntnisse der Schuldigen, die man dazu zwang, vor allen Mitbürgern zu büßen und im Hemd und mit einer Kerze in der Hand vor den Herren zu knieen und dann herumzumarschieren. Ich will ein anschauliches Beispiel geben und das Urteil des Konsistoriums unter dem Vorsitz von Calvin gegen einen Missetäter zitieren: „Obgleich die Bosheit, welche du, Valentin Gentilis, hast walten lassen, sehr wohl verdiente, dass du ausgerottet würdest unter den Menschen als Verführer, Ketzer, Schismatiker, jedoch eingedenk der großen Reue und Umkehr, welche du vor uns bekannt hast, und wider dich mehr Gnade und Barmherzigkeit erzeigend, verurteilen wir dich, Valentin Gentilis, durch dieses unser endgültiges Urteil, welches wir hier schriftlich ausfertigen, dass du ausgezogen werden sollst bis aufs Hemd und mit nackten Füßen und entblößten Hauptes, eine entzündete Kerze in deiner Faust, hier vor uns zur Erde kniend Gott und unser Gericht um Gande anflehen sollst, dabei bekennend, dass du übel und böswillig gehandelt und falsche und ketzerische Lehren verkündet und dass die Schriften, die du zur Bekräftigung derselben verfasst, böswillig sind, welche du sodann mit deinen eigenen Händen in das Feuer werfen sollst, das hier entzündet werden wird, auf dass sie verbrannt und zu Asche versetzt werden als verderbliche Dinge; und, um zusätzlich Genugtuung zu leisten, dass du in solchem Zustand über die Straßenkreuzungen dieser Stadt rund um dieselbe geführt werden sollst zum Schall der Trompete, indem wir dich also auf immer berauben aller Ehren und dich für ruchlos erklären auf immer, unter solchem Verbot, dass du unsere Stadt nicht ohne unsere Erlaubnis verlassen darfst, vielmehr dieselbe zum ewigen Gefängnis haben sollst bei Strafe unseres Zorns, widrigenfalls du von neuem ergriffen werden sollst und der Kopf dir abgeschlagen werden soll auf die übliche Art, um warnend Beispiel zu geben den andern, so dergleichen Straftat begehen möchten. Und Euch, unserem Leutnant, befehlen wir, dass Ihr dieses Urteil zur Ausführung bringt wie sich gebührt.“
Eine sofortige Hinrichtung wäre gnädiger gewesen, und die Atmosfäre dieses „Volksgerichtshofs“ erinnert beklemmend an die „Große Proletarische Kulturrevolution“ mit ihrer systematischen Demütigung von Andersdenkenden, die entwürdigt und in den Tod getrieben wurden. Was aus Genitilis wurde, ist von Cottret leider nicht zu erfahren, aber seinen Selbstmord unter den Bedingungen, die man ihm auferlegt hatte, halte ich für wahrscheinlich. Auch in der Demonstration der fysischen Gewalt schreckte Calvin vor nichts zurück: „Es wurden einer nach dem anderen vier dieser Aufrüher enthauptet, und wurden sie, nachdem ihnen die Köpfe abgeschlagen worden waren, gevierteilt und die Viertel aufgehängt, jedes an einem Galgen an den vier Ecken der Stimmbezirke der Stadt, und ein jeder der Köpfe zusammen mit den Geschlechtsteilen.“

In der Bekämpfung der „Ketzer“ arbeiteten die Calvinisten sogar mit den Katholiken zusammen, wie der Fall von Miguel Servet beweist. Dieser wurde um 1511 „zu Villanueva, etwa hundert Kilometer flussaufwärts von Saragossa, geboren“ und nannte sich in Frankreich nach seiner Geburtsstadt Villeneuve. „Guillaume de Trie, ein Vertrauter Calvins, schreibt im Februar 1553 seinem in Lyon lebenden katholischen Vetter Antoine Arneys einen Brief, der an Klarheit nichts zu wünschen übrig lässt. Die Reformierten, so sinngemäß der Bewohner von Genf, sind mindestens genauso streng wie die Katholiken. Sie dulden ebenfalls keine Ketzerei und benehmen sich somit wie gute Christen, sobald es um Folterung von Ketzern geht. Ja, Servet gehört verbrannt.“ – „Ich habe den Syllogismus der Argumentation (des Guillaume de Trie) mit seiner unerbittlichen Struktur rekonstruiert. Obersatz: Alle Christen haben den Glauben an die Trinität; Untersatz: nun aber lästert Servet gegen diesen Glauben; Schluss: also hat er keinen Platz unter uns. Sokrates ist Mensch, also sterblich; Servet ist ein Ketzer, also verbrennbar. Die Argumentation wird begleitet von dem furchtbaren Satz: ‚Wolle man sich ja nur nicht damit begnügen, solche Leute einen einfachen Tod sterben zu lassen, sondern sie grausam verbrennen’.“
Aufgrund der Denunziation von de Trie „eröffnet der Militärbefehlshaber der Dauphiné, Maugiron, auf Verlangen des Kardinals de Tournon eine Untersuchung. Miguel Servet alias Michel de Villeneuve wird verhört, sein Domizil gründlich durchsucht, ebenso wie die Druckerei, in der die ‚Restitutio Christianismi’ gedruckt worden sein soll. Nichts – nicht das mindeste Indiz. Mehr noch, der Erzbischof von Vienne, Pierre Palmier, stellt sich als Bürgen für Servet zur Verfügung. Man wendet sich abermals an Guillaume de Trie in Genf. Dieser antwortet, man müsse in der Tat ‚die Christenheit säubern von solchem Unrat, ja solch tödlicher Pest’.“ Und einen Monat nach der fehlgeschlagenen Untersuchung „sind die Katholiken im Besitz der von ihnen angeforderten kompromittierenden Stücke, darunter einer Reihe von Briefen, die Servet an Calvin gerichtet hatte“. Dazu hatte de Trie seinem Vertrauensmann in Lyon mitgeteilt: „Es hat mir viel Mühe gemacht, das zu bekommen, was ich Euch von Monsieur Calvin schicke.“ – „Dieser hat jedoch bis zuletzt bestritten, dass er Servet ausgeliefert habe, ‚wie man einen Menschen wilden Tieren vorwirft’.“ Wenn es den Brief von Genf nach Lyon nicht mehr gegeben hätte, dann wäre Calvin mit seiner Lüge womöglich davongekommen, und zu dieser musste er greifen, weil er sein Image nach aussen nicht beschädigen wollte, die „wilden Tiere“ waren in seiner Propaganda ja die Katholiken, die er wahlweise auch als „Kannibalen“ bezeichnete.
Äusserliche Gegnerschaft und heimliche Zusammenarbeit hinter den Kulissen zur Erreichung eines gemeinsamen Zieles, dieses Modell ist uns jetzt schon vertraut; das Ziel im vorliegenden Fall ist die Ausrottung der „Ketzer“, und es ist auch erreicht worden, denn übrig blieben nur die armseligen Konfessionen, zu denen auch der Katholizismus herabsank, wodurch er seinen Namen zu Unrecht trägt, den kat´holos bedeutet „das Ganze umfassend“.
Miguel Servet wird verhaftet, doch es gelingt ihm die Flucht, offenbar hat er noch Freunde - aber wohin wendet sich dieser erstaunliche Mann? Er geht direkt nach Genf, um Calvin mit seinem Verhalten zu konfrontieren; für diesen er jedoch nur „ein tollwütiger Hund“, dem er am liebsten ausgewichen wäre. Aber man hat Servet schon verhaftet, und Calvin muss sich ihm im Verhör stellen, „er wirft ihm seine pantheistischen Thesen vor, wonach ‚alle Kreaturen’ von ‚Gottes eigener Substanz’ – ex propria Dei substantia – seien. Welche Absurdität! ruft Calvin aus und fährt fort: ‚Was, Elender! Wenn einer etwa diesen Estrich feststampft und sagt, er stampfe deinen Gott fest, würdest du dich nicht schämen solcher Abwegigkeit?’ Die Rede kommt sodann auf den Teufel: Wäre der auch substantialiter Gott? Gewiss doch, entgegnet Servet, ‚alle Dinge sind Bestandteil Gottes, und die Natur der Dinge ist der stoffliche Geist Gottes’.“
Stellen wir uns für einen Augenblick vor, dieser wundervolle Gedanke des zum Ketzer abgestempelten Mannes, der nichts sagt als die lautere Wahrheit, hätte Anklang gefunden. Wenn wir die Natur der Dinge als den stofflichen Geist Gottes wahrnehmen, dann können wir nicht so umspringen mit ihr, wie wir es getan haben seit Calvin und Descartes und es immer noch tun. Die Bezeichnung „Pantheismus“ besagt, dass für den, der ihm anhängt, alles göttlich ist, nur auf jeweils verschiedene Weise; und dies ist auch die Auffassung des so genannten „Animismus“, der allen primitiven Völkern beigelegt wird, weil sie alles für beseelt halten, selbst einen Stein. Das bedeutet in der Konsequenz einen ehrfürchtigen Umgang mit allen Dingen, und von einem alten japanischen Zen-Buddhisten gibt es den schönen Ausspruch: „Vor der Erleuchtung Holz hacken und Wasser holen, nach der Erleuchtung Holz hacken und Wasser holen.“ Hier hat einer, der den Dingen entfremdet war, den Zugang zu ihrer Göttlichkeit wiedergefunden. Verloren hatte er ihn wie wir alle durch die „Zivilisation“, die zunehmend künstlicher wird und sich von der Natur der Dinge immer weiter entfernt. In den von Menschen seit der Industrialisierung in Massen hergestellten Artikeln ist der Geist Gottes nicht mehr zu spüren, denn die abgespaltenen Großhirne gewaltsam verkrüppelter Menschen beherrschen das Feld. Schon die Benennung der neuen Stoffe bereitet Probleme, Plastik heisst auf deutsch ein Gebilde, und früher war sie das Werk eines Künstlers; wenn wir „Kunststoff“ sagen, haben wir die Kunst schon entweiht, und „Synthetik“ klingt auch nicht viel besser.
Von Miguel Servet stammen die Worte: „Ich trenne Christum nicht mehr von Gott als die Stimme vom Sprechenden oder den Strahl von der Sonne. Er und der Vater sind eins, wie eins sind, ein einziges Licht, die Sonne und der Strahl. Christus schreitet dahin auf den Flügeln des Windes und hat den Erdkreis zum Sitz, er misst die Himmel zwischen seinen Fingern und die Wasser des Meeres mit seinen Händen“. Das mag schwärmerisch sein, aber muss man ihn deshalb verbrennen? Ja, das muss man sehr wohl, denn eine solche Schwärmerei ist gefährlich, und wenn Christus nicht mehr so weit weg sein sollte, wie der äusserste Himmel von der Erde, dann ist er mitten unter uns und überall aufzufinden, was aber der Massenvergewaltigung zuerst der Menschen und Tiere und dann der ganzen Natur widerspricht. „Gott ist Holz im Holze und Stein im Stein“, sagt Servet, aber er ist nicht „Kunststoff im Kunststoff“. Und deshalb muss, wer so denkt und es auch noch wagt, so zu sprechen und so zu schreiben, ausgelöscht werden. Am 27. Oktober 1553 wird Miguel Servet in Genf öffentlich verbrannt, und der Übelkeit erregende Heuchler Calvin beteuert: „Er ist einstimmig verurteilt worden. Morgen wird er zum Scheiterhaufen geführt werden. Wir haben versucht, die Art seiner Hinrichtung abzuändern, doch ohne Erfolg.“

Genauso brutal und sadistisch wie die Praxis des „Maitre Calvin“ ist seine Dogmatik, deren Grundstein die Lehre von der Prädestination ist. „Da es sich also verhält, dass die Anordnung aller Dinge in Gottes Hand liegt und dass er Leben oder Tod schicken kann, wie´s ihm beliebt, so verfügt und verordnet er durch seinen Ratschluss, dass einige vom Mutterschoße an gewisslich bestimmt sind zu ewigem Tod, um seines Namens Ruhm zu erhöhen durch ihre Verdammnis.“ Calvin kann sich nicht damit herausreden, dass er kein Hebräisch versteht, und daher musste er wissen, dass der Name Gottes, der gewöhnlich mit „Herr“ übersetzt wird, das berühmte Tetragramm Jod-Heh-Waw-Heh, bedeutet „Er ist unglücklich, er macht den Fall mit“. Als „Herr-Gott“ ist er eine Fiktion, denn der Ausdruck, der so übersetzt wird, ist Jehowuah Älohim und bedeutet wörtlich „Er ist das Unglück der Götter“, denn er bringt sie zu Fall. Ohne Mitgefühl haben sie gegen ihre Geschöpfe gehandelt, und Sterbliche sind sie nun geworden; der „Herr“ aber leidet alles mit und hat an einem so perversen Ruhm seines Namens, wie ihn Calvin von sich gibt, kein Gefallen.
„Und da nun diese Lehre ihre Autorität nicht bezieht von den Menschen oder den Engeln, sondern von Gott allein, so glauben wir auch – zumal dies Ding all menschlich Erkennen übersteigt, zu begreifen, dass es Gott ist, der spricht – dass Gott allein seinen Auserwählten Gewissheit verschafft von seiner Lehre und sie in unsere Herzen senkt durch seinen Geist.“ Wenn er dem Geist Gottes vertraut hätte, dann wäre es ihm nie eingefallen, den Nachwuchs mit dem Auswendiglernen seines Katechismus zu triezen und alle Bewohner von Genf zu zwingen, seine endlosen Predigten über sich ergehen zu lassen und sich gegenseitig zu überwachen. Und obwohl er behauptet, dass die Auserwählten Gewissheit über die Lehre Gottes hätten, schreibt er: „Wenn die Menschen der Prädestination nachforschen, so betreten sie das Sanktuarium göttlicher Weisheit, und wenn einer sich da dreinmischt und hineindrängt in allzu großer Zuversicht und Keckheit, so wird er dort nie seine Neugier zu stillen vermögen und in ein Labyrinth gelangen, aus dem er keinen Ausweg finden wird.“
Er verhängt also ein Denkverbot über das Dogma, und wer dagegen verstößt, der verfängt sich im Labyrinth der Inquisition, aus dem er nicht mehr herauskommt.
Mit seiner Lehre von der absoluten und völlig willkürlichen Bestimmung des Menschen zu ewiger Rettung oder genauso ewiger Verdammnis muss Calvin zwangsläufig auch die Willensfreiheit des Menschen verleugnen; und als Ergebnis seiner Bemühungen hat er am Ende einen unverständlichen Tyrannen zum anbetungswürdigen Götzen gemacht und dessen Untertanen zu willenlosen Automaten entwürdigt. Seine Vision ist später in großem Maßstab umgesetzt worden, und Genf war nur ein Experimentierfeld, wo man herausfand, was mit Menschen alles gemacht werden konnte.
„1558 wächst in Genf die Furcht vor einem wahrscheinlichen Frieden zwischen Frankreich und Spanien. Am 13. Mai schreibt Jean Macar: ‚Wird der Friede geschlossen, so haben die beiden Monarchen dem Herzog von Savoyen Soldaten versprochen, um die Stadt, welche die Mutter und Nährerin sämtlicher Irrlehren sei, im Sturm zu nehmen’.“ Der Friede zwischen den Königen von Spanien und Frankreich wird im April 1559 geschlossen, aber Genf bleibt verschont -- dabei wäre es ein Leichtes gewesen, es einzunehmen und die Reformatoren zu vertreiben, staatsrechtlich gehörte es ja noch immer zu Savoyen und die Rebellen hatten es eigenmächtig an die „Eidgenossenschaft“ angehängt. Aber Calvin konnte sich genauso sicher fühlen wie seine Genossen in Basel, in Bern und in Zürich, denn das „Schweiz“ genannte Konstrukt beruhte auf einer weit in die Zukunft ausgerichteten Vereinbarung der Macher. Im „Zeitalter der Nationalstaaten“ mit den zwangsläufig unter ihnen ausbrechenden Kriegen musste es einen sicheren Hort für das Kapital geben, damit die Kriegskassen auch in den schlimmsten Staatskrisen immer wieder gefüllt werden konnten. Und selbst ein Adolf Hitler hat es nicht gewagt, die Schweiz einzunehmen, obwohl er das dort angesammelte Geld dringend gebraucht hätte und mit der Besetzung anderer Länder von keinerlei Skrupel geplagt war. Vermutlich hielten ihn seine Hintermänner zurück und drohten ihm mit schlimmen Konsequenzen, falls er es doch wagen würde, und so ließ er die Finger davon.
Die Schweiz ist nicht das einzige „Steuerparadies“ in Europa, es haben auch Fürstentümer wie Luxemburg, Liechtenstein, San Marino, Monaco, Andorra als Kleinstaaten überlebt, zu denen sich neuerdings auch noch Gibraltar gesellte. Aber die Schweiz ist ohne Zweifel das potenteste dieser Länder und in der ganzen Welt vertrauenswürdig, die Diktatoren von Lateinamerika, Afrika und Asien haben das ihren Völkern abgepresste Geld immer schon in der Schweiz untergebracht, und je nachdem ob sie nach ihrem Sturz in der Versenkung verschwanden oder ins Exil gingen, ihr Geld hat immer „für die Schweiz gearbeitet“.

Zuweilen überkommt Calvin aus seinem Gefühl der Übersicherheit ein Anfall von törichtem Hochmut. „Der Zweck des Psalters wird 1543 klar definiert: ‚Es ist eine reine Vergnügungsreise zu Schiff, um das Volk mit Zeichen zu ergötzen, deren Bedeutung ihm mitnichten erklärt werden soll’.“ Eine schmähliche Verhöhnung seiner Schafe erlaubt sich dieser Hirte (auf lateinisch Pastor) hier in aller Offenheit, und er selbst erlaubt sich, derart zu scherzen, doch wenn das Volk sich erlaubt, auf die Melodie der Psalmen „schlüpfrige Verse“ zu singen, dann versteht er keinen Spaß.
Er maßt sich selbst göttliche Autorität an, wie aus seinem Verständnis der Predigt hervorgeht: „Wenn das Evangelium gepredigt wird im Namen Gottes, dann ist es geradeso, als ob er selbst redete in persona.“ – „Ich rede, doch muss ich mich selber hören, wie ich angeleitet werde vom Geist Gottes; denn sonst brächte das Wort, das von meinem Munde ausgeht, mir nicht mehr Nutzen wie all den andern, wenn es mir nicht gegeben wäre von oben“. Von oben ist es ihm tatsächlich gegeben worden, aber nicht von Gott, der oben und unten zugleich sein muss, falls es ihn gibt, sondern von den Ordensoberen, die aus dem schüchternen und menschenscheuen Jean Cauvin den großen Calvin gemacht haben. „Ich, der ich jetzt rede, ich darf nichts Eigenes hinzufügen und darf mich auch nicht über die andern erheben. Denn ich rede nur solchermaßen zu der ganzen Versammlung, dass diese Lehre sich zuallererst an mich richten muss und das sie Herrschaft haben muss über alle ohne irgendwelche Ausnahme.“ Er vergleicht seine Stimme mit einer Trompete des Herrn, mit deren Hilfe dieser im Gehorsam sein Volk um sich schare; er ist also selbst nichts anderes als ein Instrument in den Händen von anderen, und etwas Eigenes darf er nicht hinzufügen, da er nichts Eigenes mehr an sich hat.
„Der Prediger muss sich buchstäblich auslöschen hinter der Offenbarung, deren Träger er ist“, schreibt Cottret, und wir haben in Calvin wieder ein Beispiel für den Typus des sich selbst auslöschenden Menschen. Was aber sollte der lebendige Gott mit einem solchen Individuum als Gegenüber anfangen können, das auf jede eigene Regung und damit auf jede Spontanität verzichtet hat und zu einem Rädchen im Getriebe mutiert ist? Und ausserdem lügt er andauernd – so hat er gerade beteuert, sich nicht über die anderen stellen zu wollen, doch dann sagt er noch: „Ich für mein Teil, getreu der Weise, wie es Gott hier gehalten, werde meine Kraft darein setzen, den wahren Faden des Textes in aller Kürze zu verfolgen, und ohne mich in einem fort mit langen Ermahnungen zu beschäftigen, werde ich nur bemüht sein, Davids Worte, wie man so sagt, vorzukauen, damit man sie verdauen kann.“
Woher nimmt er die Überzeugung, dass seine Hörer zahnlose Greise oder Säuglinge sind, denen er vorkauen müsste? Cotrett schreibt dazu: „Wenn aber dieses Wort (der Bibel) an die Laien ergeht, die kein Latein können, droht es dann nicht wiederum unter den Hörern Verwirrung zu stiften? Lefèvre gibt dies ohne Umschweife zu, und Calvin bestreitet es später ebensowenig. Das 16. Jahrhundert will nichts wissen vom Prinzip der freien Exegese und misstraut spontaner und naiver Lektüre. Die Bibel ist eine starke Schrift, die Unruhe stiftet und Anstoß erregt, ihre Lektüre erfordert ein gewisses intellektuelles Rüstzeug.“ Wenn er statt „das 16. Jahrhundert“ gesagt hätte „der Club“, dann hätte er die Sache besser getroffen. Der Meister selbst drückt sich dagegen vollkommen korrekt aus: „Das Amt derer, die von Gott reichlicher Erleuchtung empfangen haben als die andern, ist es, dem einfachen Volk beizustehen und ihm gleichsam die Hand zu reichen, um es zu leiten und ihm die Summa dessen finden zu helfen, was Gott uns hat lehren wollen in seinem Wort.“

Im Jahr 1564 ist Calvin in Genf gestorben, und sein Biograf Théodore de Béze schreibt 1565: „Am Freitag, den 19. Mai, dieweil nach dem Brauch dieser Kirche alle Geistlichen sich versammeln, um ihren Lebenswandel und ihre Lehre gegenseitig zu tadeln, wonach sie zum Zeichen der Freundschaft ihre Mahlzeit gemeinsam einnahmen, ließ er zu, dass das Abendessen in seinem Hause stattfand.“ Das war sein letztes Abendmahl, und ich habe diese Stelle nur deshalb zitiert, um darauf aufmerksam zu machen, dass auch die gegenseitige Beichte, von der wir in der Geschichte von Rotchina schon hörten, ein ziemlich alter Hut ist. Im Jahr 1566 wurde auf der Synode von Antwerpen die calvinistische Kirche gegründet, die in der niederländischen Republik zur Staatskirche wurde. Und bereits 1560 war die schottische Nationalkirche gegründet worden von John Knox, einem Schüler von Calvin, 1567 wurde diese Kirche zur Staatskirche von Schottland erhoben, und 1563 erhält die anglikanische Staatskirche ein neues calvinistisch gereinigtes Bekenntnis (Quelle: „dtv-Atlas zur Weltgeschichte“), sodass der Calvinismus sehr schnell die aufstrebenden Kolonialmächte Holland und England erfasst. Wie ist eine so schnelle Ausbreitung möglich geworden?
Calvin selbst hat schon einen universalistischen Anspruch erhoben, und ich erlaube mir, in dem folgenden Zitat, die Wörter „Gott und Christus“ mit „Kapital und Geld“ zu ersetzen: „Zu diesem Erbe sind wir alle berufen, ohne Ansehen der Person, männlich oder weiblich, klein oder groß, Knecht oder Herr, Meister oder Schüler, Kleriker oder Laie, Hebräer oder Grieche, Franzose oder Römer, keiner ist davon ausgeschlossen, wenn er nur das Geld als das anerkennt, was vom Kapital zum Heil aller dargeboten wird, und es alsdann umarmt.“
Calvin ist von seiner Mission überzeugt, daran kann kein Zweifel bestehen, aber dass er Jesus geliebt hat, wie er behauptet, ist völlig unmöglich, sonst wäre er nicht solcher Untaten fähig gewesen, wie er sie getan hat. Und wenn er sagt: „Da wir Jesum Christum suchen, so müssen wir darauf gefasst sein, ihn gekreuzigt zu finden, wohin immer wir gehen mögen in dieser Welt“ – dann heisst das nichts anderes, als dass einen dieser Mensch nirgends mehr in Gefahr bringen kann, weil er für immer erledigt ist. Wer ihn jedoch liebt, der kann ihn überall hindurchspüren und freut sich auf seine Wiederkehr, wenn er zwischendurch abwesend war. Calvin gibt vor, „das Reich Christi“ auf Erden ausbreiten zu wollen, und beteuert: „Wollte ich für mein Leben oder für meine eigenen Verhältnisse Sorgen tragen, so könnte ich gleich anderswo hingehen. Aber wenn ich erwäge, wie wichtig dieser Weltwinkel zur Ausbreitung des Reiches Christi ist, so bin ich wohl mit Recht darauf bedacht, ihn zu schützen.“
Das „Reich Christi“ ist mit „Weltstaat“ zu übersetzen, der dem Dreierschritt Maos folgend am Ende die neue Einheit verkörpert, nach dem Verlust der alten und dem Zwischenspiel der Nationalstaaten. Diese eksistieren bereits heute nur noch auf den Landkarten, bei Staatsbesuchen und Sportveranstaltungen, und man erkennt sie an der Nationalhymne und -flagge; aber für das internationale Kapital sind sie nicht vorhanden. Zum Charakter des Reiches, das von Genf ausging, schreiben die Autoren des „dtv-Atlas zur Weltgeschichte“: „Aus dem Leitbild des fleissigen und sparsamen Arbeiters, der Gewinn und Erfolg als Zeichen seiner Erwählung bucht, entwickelt sich eine neue, die kapitalistische Wirtschaftsethik“. Die Verknüpfung von Calvinsimus und Wirtschaftswachstum stammt meines Wissens von Max Weber. Cottret versucht, sie unter Hinweis auf die neuere Literatur zu relativieren, doch gibt er zu, dass das Gefühl, zu den Auserwählten zu gehören, beruhigend gewirkt hat. Im 16. Jahrhundert haben gewaltige Umbrüche stattgefunden, die entsprechend verunsichernd wirkten, und die Zugehörigkeit zur richtigen Konfession wurde als Sedativum angeboten, doch von den Ketzern verschmäht. Der Feudalismus mit den Naturalabgaben war definitiv abgeschafft und durch den Kapitalismus mit der Geldsteuer ersetzt, der Geldadel hatte den Erbadel überwunden, an die Stelle der Ritter traten die Söldner, und der Staat nahm seine absolute Gestalt an; dazu hat Calvin auch beigetragen mit seiner politischen Durchstrukturierung von Genf bis hin zu beamteten Schnüfflern; Jean Bodin, ein Calvinist und Hexenverfolger, war zugleich Staatstheoretiker und legte mit seinem Werk „De la Republique“ 1576 den Grundstein des modernen Staatswesens.
„Der Calvinismus – eine Ethik des individuellen Leistungswillens? Es gibt auf diese Frage keine eindeutige Antwort mehr. Die Lehre vom Heil aus dem Glauben rühmt die Majestät Gottes, bedeutet jedoch eine Abwertung des persönlichen Verdienstanteils“, schreibt Cottret und zitiert dann Calvin: „Wir müssen dies zur allgemeinen Richtschnur haben, dass die Reichtümer den Menschen mitnichten zufallen kraft ihrer Tugend oder Weisheit oder mühselig Arbeit, sondern einzig durch Gottes Segen.“ Wenn es aber Gottes Segen ist, der den Reichen reich gemacht hat, dann darf er sich zweifellos zu den Gesegneten und Auserwählten zählen und hat endlich Gewissheit. Calvin fährt fort: „Siehe, Gott zeigt mir, dass er es ist, der die Arbeit tut und mir hier davon ein Zeichen gibt; also muss ich es mir zur Lehre dienen lassen und darf mitnichten sagen: dies ist mir zugefallen durch günstiges Geschick, ich habe Glück gehabt, sondern: ich weiss, dass mein Gott mir geholfen hat, denn durch seine Güte ergeht es mir wohl.“ Wenn Gott es ist, der die Arbeit durch den Arbeiter tut, dann ist dieser sein Werkzeug und mit seinem Willen identisch; weil aber dieser willkürlich auserwählende und verdammende Gott ein abscheulicher Götze ist, kann der Arbeiter in seinem Namen die furchtbarsten Werke ausführen, denn die Natur ist entgöttlicht; und der gefolterte Ketzer beweist durch seine Ohmacht, dass ihm dieser Gott ungnädig ist.

„An ihren Früchten könnt ihr sie erkennen“, so hat uns Jesus gelehrt und damit die Menschen und ihre Ideen gemeint; und die Früchte des Calvnismus sind ganz besonders prächtige Exemplare von gut verpacktem Aussehen und tödlicher Wirkung. Die Puritaner leiten sich von ihm ab, und dieses Wort bedeutet dasselbe wie Pharisäer, nämlich Leute, die sich für rein halten, weil sie imstande sind, den Naturmenschen so innen wie aussen zu vergewaltigen und sich als Belohnung dafür zu den Auserwählten zählen. „James Anderson, ein presbyterianischer Pfarrer, sammelte die alten Urkunden der Werkmaurergilden und kodifizierte 1723 das neue Grundgesetz der Freimaurer in dem Konstitutionsbuch der neuen Großloge“ – so lesen wir in der „Geschichte der Freimaurerei“, aus der wir schon zitierten, und mit der „Großloge“ ist die in London gemeint, die sich 1717 aus dem Zusammenschluss von vier Logen gebildet hat und mit der die offizielle Geschichte der Freimaurer begann. Der Ausdruck „presbyterianisch“ wird nicht erklärt (genausowenig wie der Ausdruck „Presbyterianer“ in der Biografie Cromwells von Howell), doch meine Recherchen ergaben, dass es sich bei Anderson um einen calvinistischen Pfarrer gehandelt hat.
Die Nähe von Calvinismus und Freimauerei geht aus dem folgenden Zitat hervor: „Der Gott Calvins ist, wie später der der Filosofen, mit Winkelmaß und Kompass ausgerüstet“, so schreibt Cottret und führt die Worte des Meisters an: „Der göttliche Baumeister hat solcherart Proportion und Maß gesetzt, dass die Erde sich von da an stets auf ihrem Platz hält.“ -- „Er bekennt seine Bewunderung für die Sterne, diese ‚himmlischen Heere’, diese endlose ‚Gendarmerie’.“ Mit den „Filosofen“ meint Cottret die Aufklärer, die durchgängig Freimaurer waren und über den „Deismus“ (wonach Gott die Welt wie ein Uhrmacher eine Uhr gemacht hat, die nun automatisch ablaufe und seiner Eingriffe nicht mehr bedürfe) diesen überflüssig gewordenen Gott endlich ganz von sich warfen. Und es gibt seither auch Logen, die den „allmächtigen Baumeister aller Welten“ und „Großen Architekten“ nicht mehr anrufen.
„In dieser Hinsicht kann man ihn mit Fug und Recht einen Modernen nennen. Tatsächlich hat er antizipierend Teil an dem Großreinemachen des siebzehnten Jahrhunderts, an der großen Entrümpelung, am Hinauswurf des Plunders“. Zu diesem Plunder gehörte auch die gnadenreiche Idee eines Fegefeuers und die Kommunikation zwischen den Lebenden und den Toten, die der Protestantismus zum Aberglauben zählt, was ihm die Katholiken durch den Missbrauch der Totenmessen und den Ablasshandel leicht gemacht hatten. In dieser (von den an der kontrollierten Zerspaltung interessierten Päpsten) absichtlich verzerrten Form waren aber die letzten Reste der Ahnenverehrung enthalten, die im Zuge der Entwurzelung und Isolation der Untertanen zu verschwinden hatten, damit sie formbar wurden und in die neu geschaffenen Strukturen und Institutionen eingefügt werden konnten. Ausgerechnet in England kam es im 19. Jahrhundert zu einer makabren Auferstehung der Totenbeschwörung in Gestalt des „Spiritismus“, und die „Medien“ verfügten über Einfluss und Geld, doch war all dies nur ein einziger Schwindel. Und wir müssen nach allem, was geschah, unsere Ahnen nicht mehr in den Stand von Göttern erheben, aber wenn wir ihre Geschichte nicht kennen und nacherleben, beherrscht sie uns blindlings.

Ich war schon dabei, auch noch das dreibändige Werk von Carl J. Burckhardt über Richelieu zu exzerpieren, um es im Anschluss daran zu kommentieren, doch da streikte mein Geist, und ich war nicht mehr imstande, mich auf diese Weise noch einmal mit einem durch und durch verlogenen Heuchler auseinanderzusetzen, dessen Antlitz mit seiner Maske verschmolz. Und ich glaube, ich habe zur Genüge gezeigt, wie die Geschichte der Sieger zu lesen und zu verstehen ist, so dass ein jeder, der willens ist, sie nachzuvollziehen, es kann. Es ist immer dasselbe, die Methoden sind mit den Resultaten in Beziehung zu setzen, um das furchtbare Spiel zu durchschauen.

Zum Abschluss will ich noch kurz zur „Willensfreiheit“ Stellung beziehen, und zu diesem Behuf zitiere ich aus einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 20. März 2007: „Der Streit beginnt beim Dreh- und Angelpunkt aller Rechtsprechung: der Willensfreiheit. Bereits Anfang der 1980er Jahre lieferte die Hirnforschung erste Hinweise auf den Charakter des Willens. Damals publizierte der Neurologe Benjamin Libet (der eigentlich Quodlibet heissen müsste) einen mittlerweilen legendären Versuch, der demonstrierte, dass die motorischen Areale der Hirnrinde rund eine Fünftelsekunde früher aktiv werden als der Entschluss, einen Finger zu bewegen, überhaupt ins Bewusstsein tritt. Das lege den Schluss nahe, so Libet, dass der Wille nur ein Randfänomen in einer viel längeren Kausalkette sei, die sich über Synapsen und Nervenzellen bis ins Bewusstsein erstreckt. Die Versuche setzten eine hitzige Debatte über die Souveränität des Willens in Gang. Manche Hirnforscher halten die Willensfreiheit seither für eine hartnäckige Illusion.“
Diese Leute sind mit einem einfachen methodischen Einwand zu widerlegen, und obwohl ich schon mehrmals in verschiedenen Zeitschriften über dieses Thema gelesen, fand ich den folgenden Gedanken noch nie. Messbar sind nur die Aktivitäten in verschiedenen Gehirn-Arealen, niemals jedoch das Bewusstsein, es kann nur indirekt durch seine Äusserungen erfasst werden, zum Beispiel durch die Sprache; aber bis ein Proband seinen Entschluss, einen seiner Finger zu heben, mitteilen kann, müssen zuerst seine Sprechwerkzeuge mobilisert werden, und das dauert mindestens eine Fünftelsekunde. Die Abschaffung der Willensfreiheit gehört zu der „großen Entrümpelung“, der auch schon solche Dinge wie die Seele, das Gewissen und die Verantwortlichkeit zum Opfer fielen; die Tendenz geht eindeutig in die Richtung des Maschinenmenschen oder Automaten, der im Getriebe des Apparates reibungslos zu funktioneren hat, und wenn er es nicht tut, dann ist er eben krank und bedarf der Behandlung. In den Strafprozessen ist der Anteil der dem sogenannten „Maßregelvollzug“ Unterworfenen in den letzten Jahrzehnten deutlich gestiegen, und wenn sich ein Krimineller auf seine Unzurechungsfähigkeit hinausreden konnte, so glaubte er früher, einen Vorteil erhaschen zu können; doch die Wirklichkeit sieht inzwischen so aus, dass die in den „forensischen Abteilungen“ der psychiatrischen Kliniken Untergebrachten noch weniger zu lachen haben als die im Gefängnis.
Könnten wir mit einer Eintagsfliege kommunizieren und sie fragen, was sie von der Freiheit des Willens halte, dann würde sie antworten: „Sieh mir doch zu!“ Und wenn wir wirklich hinschauen würden, dann könnten wir erkennen, dass sie völlig frei ist und in dem niemals gleichen wirbelnden Tanz ihrer Artgenossen und -genossinnen jede beliebige Position einnehmen, ja den Verband nach Gutdünken sogar verlassen und sich ihm dann wieder anschließen kann. Der Wille ist da das reine und spontane Leben mit der Lust und der Freude daran – und so ist es auch bei anderen Wesen, ja sogar bei den Menschen im natürlichen Zustand.
Um den Begriff der „Freiheit“ zu fassen, ist sein Gegensatz nötig, die Unfreiheit oder der Zwang, und diesen kennt bestimmt jeder von uns, da wir den Urzustand schon lange verließen. Mit dem von Siegmund Freud entdeckten „Wiederholungszwang“ ist nicht die Wiederholung bestimmter zum Leben gehöriger Akte, wie Essen und Kacken, gemeint, sondern der Zwang zum Repetieren gewisser leidvoller Erfahrungen; seiner Entstehung geht immer eine Spaltung voraus, und zwar die zwischen der angeborenen Erwartung des neugeborenen Säuglings und der schmerzlichen Enttäuschung derselben. Hat er gefühlskalte oder sadistische Eltern (die es bei den Naturvölkern nicht gibt), dann wird er sich später zwangsläufig gefühlskalten oder sadistischen Partnern zuwenden und die Enttäuschung so oft wiederholen, bis er langsam begreift, was da abläuft. Als Kind war es ihm unmöglich, dergleichen zu verstehen, da es in seinem Instinkt-Repertoire nicht vorgesehen ist; und wenn er durch die Bitternis hindurchgeht und die Vermengung von Liebe und Macht endlich aufgibt, dann ist er so frei, seine Liebeskraft aus der Fixierung zu lösen und sie wieder strömen zu lassen nach allen Seiten. Und ich bin dankbar dafür, dass ich den Wind lieben darf, auch wenn mir die Vernunft einreden will, er liebe mich nicht, weil ich ihm völlig egal sei – aber ein derart vernünftiger Mensch kann seine Zärtlichkeit und sein stürmisches Wesen nicht spüren, und wie stumpf ist er dann.